In Ihrer Malerei gibt es eine gewisse Kontinuität, die einzelnen Werke kommunizieren miteinander und mit der Welt.
Ich habe sozusagen drei große Serien gemalt, so als wären sie eine Symphonie. Die erste behandelte Lateinamerika, die Menschen, die auf diesem Kontinent leben, also im Grunde genommen Neger, Indios und Mestizen.
Dann habe ich im zweiten Satz dieser Symphonie die gesamte Grausamkeit der Menschen überall auf der Welt gemalt, also den Zweiten Weltkrieg, den spanischen Bürgerkrieg, die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Ich habe alle Konzentrationslager Europas, die heute Museen sind, besucht. Das hat mir sehr geholfen, um die Wirklichkeit des Zweiten Weltkrieges wirklich spüren zu können. Ich war kurz nach dem spanischen Bürgerkrieg in Spanien. Dort konnte ich die Tragödie, in der sich Spanien nach diesem Krieg befand, förmlich atmen, aufsaugen.
Ich war an so vielen Plätzen, an denen sich Konflikte abgespielt haben. Ich habe ja all diese Dinge nicht direkt als Augenzeuge miterlebt, aber am selben Ort zu sein, läßt alles, was ich in der Zeitung gelesen, auf Fotos und Dokumentarfilmen gesehen habe, wieder aufleben, und dann kann ich damit zunächst Zeichnungen machen und später Aquarelle, und wenn ich dann die Gesamtkonzeption habe, dann fange ich an, große Bilder zu machen, aus denen der zweite Satz von „Zeitalter des Zorns“ besteht.
Seit fünf oder sechs Jahren male ich den dritten Satz der Symphonie, das ist etwas zum Thema Zärtlichkeit.
Diese Sammlung heißt „Solange ich lebe, gedenke ich Deiner“. Sie ist meiner Mutter gewidmet, die wegen der vielen Arbeit sehr früh starb. Es ist aber auch allen Müttern der Welt gewidmet. Es ist ein Aufruf an die gesamte Welt: Warum können wir denn nicht im Guten miteinander leben?
Alle Menschengruppen, Neger, Mestizen, Gelbe, Weiße, Indios. Wir alle können einen positiven Beitrag zur Welt leisten. Alle Berufe sind wichtig. Wer ein Paar Schuhe macht, wer einen Korb macht, um Brot zu tragen, wer Computerspiele macht, wer Kino macht, der Mensch, der in den Weltraum fliegt. Man braucht sie alle, um menschlich zusammenzuleben.
Wenn wir so denken, kann die Welt zu einem Ort voller Herzlichkeit und Innigkeit werden, denn wir alle können durch das Wissen der anderen wachsen. Das ist der Schrei, das Anliegen des dritten Satzes dieser Symphonie. Ein Aufruf zur Herzlichkeit, zur Zärtlichkeit, zum Frieden.
Das Wandgemälde „Mütter und Kinder“, das Sie der UNESCO stifteten, gehört zu diesem dritten Satz: „Solange ich lebe, gedenke ich Deiner“. Was motivierte Sie zur Schaffung dieses Wandgemäldes und dazu, es der UNESCO zu schenken?
Zunächst einmal wurde das Wandgemälde speziell für die UNESCO gemalt. Und das Thema ist ja in „Solange ich lebe, gedenke ich Deiner“ enthalten, denn in meinen letzten Bildern geht es mir hauptsächlich um die Kinder. Ich habe gerade ein anderes Wandbild für den brasilianischen Architekten Niemeyer beendet, der in Säo Paulo einen Ort geschaffen hat, der sich „Denkmal für Lateinamerika“ nennt. Auf der Haupttreppe des Gebäudes, in dem der lateinamerikanische Kongreß seinen Sitz haben wird, habe ich auch etwas über die Kinder gemalt. In diesem Fall ein Kind, das von hinten erschossen wird, und eine allein gelassene Mutter weint vor Einsamkeit. Auf dem UNESCO-Gemälde gibt es drei wichtige Köpfe: den Kopf eines schwarzen Kindes, den eines Indio-Kindes und den eines weißen Kindes; denn wir alle leiden darunter: Weiße, Schwarze, Indios, Mestizen.
Alle Kinder leiden wie niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Man tötet sie von hinten. In Brasilien, in den Großstädten der Dritten Welt werden Kinder ermordet und was noch schlimmer ist, man bringt sie um, um ihnen die Augen, die Herzen, die Lungen herauszuschneiden und damit andere Kinder gesund zu machen. Zweifellos welche in der Ersten Welt, die ja diese Organe kauft.
Deshalb sind augenblicklich die Kinder das, was mich am meisten bewegt und beschäftigt. Aber dieses Wandgemälde ist auch den Müttern gewidmet: den weinenden Müttern, den schreienden Müttern, den angsterfüllten Müttern, den Müttern mit dem Gefühl des Verlustes ihrer Kinder und diese drei Köpfe, die aus dem Körper kommen, sind die Köpfe der drei Kinder, von denen ich schon sprach.
Da in zwei verschiedenen Teilen Europas ein Bärgerkrieg tobt, der nicht zu beenden ist, obwohl man versucht, ein geeintes Europa zu erreichen, gibt es sicherlich eine Botschaß, die sie uns Europäern mit auf den Weg geben wollen?
Was im ehemaligen Jugoslawien geschieht, läßt mich denken, daß der Mensch nicht zur Zärtlichkeit fähig ist. Es jagt mir einen ungeheuren Schrecken ein, zu wissen, daß es dort nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges immer noch Konzentrationslager gibt. Daß Rassisten in ganz Europa immer noch weiter agitieren. Daß immer noch Angst des Menschen vor dem Menschen herrscht, diese Brutalität des Krieges, Menschen umzubringen.
Ich denke manchmal, wenn das so weitergeht, werden wir bald Menschen unter jedwedem Vorwand ausrotten. Der Vorwand ist irrelevant. Manchmal ist es die Hautfarbe, manchmal das Land, manchmal die Religion, jede Art von Grenze, die Fahne oder die Hymne.
Es gibt auch noch ein anderes Problem, und das wird mein Thema in einem anderen Bildzyklus sein, den ich machen will: die Ökologie.
Wir bringen die Erde um. Tausende von Kilometern werden jeden Monat vom Menschen vernichtet und wir ändern die Erde, wir schneiden das Leben des Waldes ab, das Leben der Meere, das Leben der Bäume. Der Mensch ist völlig absorbiert in seiner Selbstzerstörung. Wenn das so weitergeht, wird es kein Jahrhundert mehr dauern und wir werden eine wüstengleiche Erde haben und Leute, die auf einer trockenen und harten Erde herumirren.
Wie ist die Lage in den südamerikanischen Ländern augenblicklich? Bewegen sich die Menschen dort auf den Frieden zu, den sozialen Frieden, sind ihre Demokratien stabil?
Nun, wenn man nach Lateinamerika fragt, muß man in gewisser Weise von Land zu Land unterscheiden. In einigen Ländern mit genügend Wohlstand hat die Demokratie fester Fuß fassen können, aber es gibt andere, in denen das Sozialsystem, der soziale und politische Friede noch keinen festen Halt haben. Man darf nie außer acht lassen, daß es jederzeit wieder neue Diktaturen in Lateinamerika geben kann. In Venezuela und auch in Guatemala hat man es ja schon versucht.
Ich habe schon gesagt, daß die Demokratie in manchen Ländern noch keinen sicheren Halt hat. Andere beginnen sich zu festigen, aber die Macht des Militärs in diesen Ländern muß immer gefurchtet werden, sie hängt stets wie ein Damoklesschwert über den Völkern.
Es gibt Länder wie das meine, Ekuador, in denen es Hunger trotz fruchtbarer Erde gibt. Es ist so fruchtbar wie kein anderes Land Lateinamerikas und wie wenige andere in der Welt. Trotzdem verhungern die Leute. Verdammt!… Warum gehört die Erde vier oder fünf „Herren“, die die Demokratie nicht zulassen? Diese Oligarchien wollen immer mehr, sie sind unersättlich. Deshalb gibt es ein großes Ungleichgewicht in Lateinamerika, das dort den Frieden und die Demokratie verhindert und in neuen Diktaturen enden kann.
Das große Wandgemälde „Mütter und Kinder“ wurde im Mai 1993 am Sitz der UNESCO in Paris enthüllt. In seiner Eröffnungsrede charakterisierte der Generaldirektor der UNESCO, Federico Mayor, Ihr Werk als etwas, „das aus der Erde und dem Volk entspringt“. Können Sie uns sagen, aus welchen Quellen sich Ihr Schaffen nährt?
Mir ist dies alles nicht sehr bewußt. Vieles, was schöpferisch ist, sei es im Praktischen, Musikalischen oder Gestalterischen, beinhaltet sehr viel, was nicht einer bestimmten Denkweise zuzuordnen ist. Es sind Formen, die aus den Jahrtausenden entspringen, deshalb sage ich, daß es mir nicht sehr bewußt ist. Aber ich bin ganz sicher, daß die Menschen vor mir, zumindest in meinem Land, eine Kultur hatten, die sechs oder sieben
Jahrtausende zurückreicht. Im Museum für Präkolumbianische Kunst der Stiftung Gayasamin in Quito gibt es viele Beispiele dieser außergewöhnlichen Kunst. Ich bin mir bewußt, daß ich Teil dieser Welt bin, die dann ganz unerwartet durch meine Hände wieder Form gewinnt, aber andererseits ist mir nicht bewußt, was ich tue, während ich das Bild male, es kommt aus mir heraus, klar und sauber. Es kommt ohne große Überlegung. Es entstehen Formen, Farben und Räume.
In Ihren Werken kehren stets einige Themen wieder, das menschliche Leiden, die Brutalität des Krieges und die Sehnsucht nach Freiheit. Trotz dieser starken Themen bewahren Ihre Personen eine Art „würdevolle Ruhe“, sie leiden geduldig und der Betrachter wird von einer Anstandsgrenze ermahnt, die heute zumeist der Sensationsgier geopfert wird. Gibt es für Sie eine „Anstandsgrenze“, die man nicht übertreten darf?
Die Frage selbst ist schon fast eine Antwort, aber es ist eine sehr schöne Frage. All dies entspringt aus dem Glauben: der Anstand, die Wahrung der Würde der gemalten Personen. Hierfür braucht man einen ungeheurer großen Glauben an die Menschen und an ihre Taten. Daher male ich diese leidvollen Themen. Dabei gibt es stets diesen unerschütterlichen Glauben, er steht hinter jeder der gemalten Personen. Deshalb bewahren sie ihre Würde und ihre Unbeweglichkeit. Es sind Menschen, für die ich noch hoffe, daß das alles endet: die Gewalt des Menschen gegen den Menschen. Das suche ich in meinen Bildern, auch wenn es erschütternde Dinge sind, wie Konzentrationslager oder das Kind, das sich vor Hunger am Boden entlang schleppt. Ich male dies alles mit einem tiefen Glauben an die Zukunft der Menschheit.
Das Leiden der Personen in Ihren Gemälden erkennt man nicht nur an ihren Gesichtsausdrücken. Die Größe und Form der Hände spielt eine wichtige Rolle. Ist für Sie der Kopf als Ausgangspunkt des Denkens genauso wichtig wie die Hände als Ausgangspunkt der Taten?
Die Handlung oder die Bewegungen des Gesichts werden durch die Bewegung der Hände viel klarer. Die Hände sind ein äußerst geheimnisvoller Körperteil. Unsere Vorfahren heilten Krankheiten durch Handauflegen. Mit den Händen wird vieles Spirituelle getan. Universal gesehen, über die Jahrhunderte, die Jahrtausende hinweg sind die Hände das unglaublichste Geheimnis des menschlichen Körpers und Wesens.
Mit den Händen werden so komplizierte Musikinstrumente wie die Geige oder das Klavier gespielt. Mit den Händen werden Bilder gemalt, denn eine der unglaublichsten Handlungen vollzieht sich, wenn die Hände ein Bild berühren. Ich lasse niemals jemand anderen ein Bild von mir berühren, weil ich unbedingt sicherstellen will, daß die Pupillen an meinen Fingerspitzen immer gegenwärtig sind, während es sich entwickelt.
Das menschliche Wissen wird durch die Hände erworben. Als die Menschen lernten, die Dinge anzufassen, zu ‚begreifen‘, was eine Pflanze ist, was die Erde ist, was Marmor ist. Auf jeden Fall ist das, was der Mensch durch die Pupillen seiner Hände erfahren hat, das, was ihn zum Menschen macht.
Nürnberg, den 19. 11.1993
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* Interviewer: Jörg Berghoff, Dr. Jörge Paredes
© Presse DA Verlags Das Andere
Veröffentlichung des Interviews und der Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des Presse DA Verlags Das Andere.