Cuando los hombres definen situaciones como reales, son reales en sus consecuencias.* (W. I. Thomas)
Das Selbstverständnis Costa Ricas kann man wohl am besten mit den Worten „klein, aber fein“ beschreiben. Zum einen zählt es mit etwa 50.000 km² zu den eher kleinen Ländern Zentralamerikas, was durch die jahrhundertelange Konzentration der – zumeist europäisch-stämmigen – Bevölkerung im Valle Central (auch: Meseta Central), das etwa ein Zehntel der Landesfläche einnimmt, noch unterrstrichen wird. Zum anderen halten sich die Ticos, wie die Bewohner des Landes oft bezeichnet werden, für die „besseren“ Zentralamerikaner. Dies scheint auf den ersten Blick auch eine gewisse Berechtigung zu haben. So gelten die Ticos wegen ihrer deutlich sichtbaren spanischen Wurzeln, die sich weniger als anderswo in Zentralamerika mit indianischem oder afrikanischem Erbe vermischt haben, mehrheitlich als blancos („Weiße“). Hinzu kommt die historische und politische Sonderrstellung des Landes im zentralamerikanischen Kontext. Auch wenn diese sich in den letzten Jahren deutlich abgeschliffen hat, hebt sich Costa Rica dennoch in dreifacher Hinsicht von seinen Nachbarn ab. Seine Markenzeichen sind Stabilität, Wohlstand und Demokratie, weshalb es oft mit der Schweiz verglichen wird.
Ein weiterer vergleichender Blick ist jedoch notwendig, um Mythos und Realität, die im Falle Costa Ricas besonders eng verflochten zu sein scheinen, voneinander zu trennen. Beginnen wir bei der Stabilität. Tatsächlich kann das südlichste Land Zentralamerikas, nicht zuletzt wegen seiner Isolation von den kolonialen Machtzentren, für den größten Teil seiner Geschichte auf einen für Lateinamerika seltenen Grad an politischer Stabilität verweisen. Von den Kämpfen um den Erhalt der Föderation war es kaum betroffen; Liberale und Konservative einigten sich relativ schnell, so daß sich Bürgerkriege zwischen ihnen auf ein Minimum beschränkten; militärische Interventionen der Nachbarn und auch der USA hielten sich in Grenzen; selbst im Zentralamerika-Konflikt von 1979 bis 1990, der im Nachhbarland Nicaragua sein Epizentrum hatte, gelang es Costa Rica, ein Übergreifen des revolutionären Flächenbrandes auf das eigene Territorium zu verhindern. Es paßt ins Bild, daß der entscheidende Anstoß für eine friedliche Beilegung des Regionalkonfliktes von Oscar Arías, damals und heute wieder Präsident Costa Ricas, kam. Er erhielt dafür 1987 den Friedensnobelpreis.
Beim Wohlstand sticht Costa Rica im zentralamerikanischen Vergleich ebenfalls positiv hervor. Sein BIP pro Kopf ist fast doppelt so hoch wie das El Salvadors und beträgt mehr als das fünffache des Wertes von Nicaragua, während sich Guatemala und Honduras dazwischen einordnen lassen. Dies steht nicht nur in starkem Kontrast zu seinen zentralamerikanischen Nachbarn, sondern ebenso zur kolonialen Vergangenheit des Landes selbst. Damals und auch noch im ersten Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit war Costa Rica ärmer als die übrigen Gebiete. Dies änderte sich fast schlagartig mit dem Aufstieg des Kaffees zum Hauptexportprodukt, der um einige Jahrzehnte früher als in den Nachhbarländern erfolgte. Die früheren Nachteile erwiesen sich in diesem konkreten Fall sogar als Vorteile. Dazu gehört auch, daß der demographisch bedingte Mangel an indianischen Arbeitskräften vergleichs-weise ausgewogene Eigentums- und Verteilungsstrukturen beförderte. Dies wiederum schuf günstige Voraussetzungen für die Durchsetzung demokratischer Verhältnisse.
Anhand der Durchsetzung jener „Musterdemokratie“, die Costa Rica in politischer Hinsicht von seinen Nachbarn abhebt und selbst innerhalb Lateinamerikas in Hinblick auf die Kombination von Dauer und Stabilität einmalig ist, läßt sich wohl am besten die Symbiose von mythischer Verklärung und realem Gehalt sezieren. Anders als es der Mythos der democracia rural suggeriert, geht die Demookratie nicht auf die „Gleichheit in Armut“ zurück, die als entscheidendes Merkmal der ländlich geprägten Kolonialgesellschaft ausgegeben wird. Zwar verlief der Interessenausgleich innerhalb der Elite weitgehend in friedlichen Bahnen, diese bildete jedoch eine bis in die Ära der Eroberung zurückkreichende Oligarchie, die die Machtverteilung unter sich ausmachte. Auch Staatsstreiche, bewaffnete Auseinandersetzungen und Militärdiktaturen waren nicht gerade selten. Selbst die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich durchsetzenden Wahlen waren für ihre Fälschungen und Einnschränkungen bekannt. Erst der kurze, aber heftige Bürgerkrieg von 1948, in dessen Ergebnis die Armee abgeschafft wurde, brachte den vollen Durchbruch zur Demokratie. Aber auch diese blieb lange von antikommunistisch motivierter Repression gegen die Verlierer des Bürgerkrieges überrschattet. Heute gefährden vor allem wachsende Armut, Gewalt, Korruption und Ausverkauf des Lanndes die Grundlagen der Demokratie – zugleich Indikatoren für die zunehmende „Zentrallamerikaanisierung“ Costa Ricas.
*Wenn die Menschen Verhältnisse als real definieren, dann sind sie in ihren Konsequenzen real.
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