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Politik und Kultur in Lateinamerika

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KAIRÓS – Rebellion der Samariter

Eckart Lux | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Die Rolle der Kirche bei der Eroberung Südamerikas ist hinlänglich bekannt. In Chile gab es nach dem Putsch 1973 angesichts des Terrors und der Menschenrechtsverletzungen, Verfolgungen, und Morde, eine Tendenz innerhalb der Kirche, verfolgten Opfern zu helfen und die brennenden sozialen Probleme in den „poblaciones“ (Bezeichnung für Armenviertel in Santiago de Chile) zu lösen. Faktisch war die katholische Kirche auf Grund ihres Einflusses die einzige oppositionelle Kraft, die zumindest halblegal, agieren durfte.

In diesen Jahren entstand „la missio“, eine Mission getragen durch internationale Solidarität, in der auch zahlreiche Freiwillige aus Europa zum Einsatz kamen. „La missio“ hat bei den Armen von Conchali, La Pincoya, El Salto, Renca – dichtbevölkerte Armenviertel in Santiago – einen guten Klang. Verband sich doch damit für die Menschen konkrete Hilfe: ollas comunes (Gemeinschaftsküchen), Kleiderspenden, medizinische Betreuung, ein Kindergarten, Ausbildungsstätten. Die Arbeit der Freiwilligen an der Basis wurde jedoch administriert von unflexiblen Pietisten, der Edelmut wurde streng verwaltet und sozusagen immer ins „rechte Lot“ gebracht. Als sich das Ende der „Ära Pinochet“ anzeigte, äußerte der Papst in Rom (möglicherweise vor dem Hintergrund aufmüpfiger Pastoren in Nikaragua und El Salvador): „Wir brauchen in den Ländern Lateinamerikas wieder eine starke Kirche, die die Botschaft Gottes verkündet, die Missionen mögen die Schwerpunkte ihrer Arbeit wieder mehr auf Pastoral- statt Sozialarbeit verlegen.“ Also Worte statt Brot. Dies sah eine Reihe von Mitarbeitern der „Missio“ nicht so; es kam zur offenen Auseinandersetzung, an deren Ende die Rebellen kurzerhand entlassen wurden. Die Ausgestoßenen wandten sich mit SOS-Rufen an die Alte Welt – und wurden gehört. Eine Welle der Sympathie und Solidarität half den Betroffenen, nicht nur zu überleben, sondern ein eigenes Schiff auf Kurs zu setzen. KAIROS war geboren.

KAIROS (aus dem Griech.- Moment der Umkehr) genießt, nach gut drei Jahren Existenz, einen guten Ruf in Santiago. Das Arbeitskonzept unterscheidet sich wesentlich von dem rein karitativer Organisationen. Nach dem Trauma eines totalitären Leitungsstiles hat man sich für einen basisdemokratischen und ökumenischen Umgang miteinander entschieden. Heute ist KAIROS Herz und Zentrale für die verschiedenen Arbeitsgruppen.

Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in Bildung und Ausbildung von Jugendlichen, Frauen und Kindern – praxisorientiert, versteht sich. Zum Beispiel werden Erwachsenenseminare abgehalten, bei denen die Leute etwas über ihren „eigenen“ Staat erfahren, wie er regiert wird, wie das Parlament zusammengesetzt ist, wie die Justiz funktioniert. Rechtskunde, Biologie, Ökonomie: Themen, mit denen Pobladores ständig in Berührung kommen, über die sie aber wenig wissen. KAIROS arbeitet mit den „juntas de vecinos“, (Nachbarschaftsinitiativen), „ollas comunes“ und Frauenwerkstätten zusammen. Der Prozeß der Resozialisierung und Solidarisierung im Alltag, des fairen Umgangs miteinander, die Sensibilisierung für die eigene Kultur sind Prioritäten, die nach der Agonie, erzeugt durch die Nacht der Diktatur, ganz vorn stehen. Wie wichtig und zugleich entlarvend für das bestehende (Un)Bildungs- und Sozialsystem die Arbeit von KAIROS ist, mag ein Beispiel verdeutlichen.

Vor zwei Jahren begann eine Gruppe von „monitores“ in Pudahuel mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, die aus extremer Armut kommen und die „ciudad educativa“ (wörtl. übersetzt: die Erziehungsstadt; so etwas wie eine Sonderschule für Schwererziehbare) besuchen. Die Kinder sind in einer zum Teil schockierenden Art schon erwachsen. Keines der Übel dieser Welt ist ihnen fremd, Sie wohnen meist in Hütten ohne Wasser, Strom und Kanalisation. Alkohol, Prostitution, Gewalt und Drogen gehören zu ihrem Alltag. Sie sind abgestumpft und ohne Erwartungen an das Leben. Zu ihnen gelangt keine der Segnungen, die der Wirtschaftsboom Chile seit Mitte der achtziger Jahre beschert.

Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Nach zwei Jahren haben ca. 50 Jugendliche Kurse als Tischler oder Möbelschreiner, über Elektro-Haushaltsinstallation und Sozialkunde absolviert. Die Jugendlichen haben bei Abschluß der Kurse Diplome erhalten und damit mehr Chancen, eine Arbeit zu finden. Sie haben gelernt, an sich zu glauben und sich anzunehmen, haben erfahren, daß sie Wert und Wurde besitzen und daß sie fähig sind, ein Stück weit die eigene Misere zu überwinden. Hilfe zur Selbsthilfe also.

Es gibt diesen schönen Spruch: „Schenk einem Armen einen Fisch. Er wird ihn essen und morgen wieder Hunger haben. Schenkst du ihm aber eine Angel und lehrst ihn, sie zu benutzen, wird er deine Hilfe bald nicht mehr brauchen.“

Das neoliberale Wirtschaftssystem Chiles verhalf dem Land seit 1982 zu einem enormen Aufschwung. Multinationale Konzerne und Banken bestimmen mit ihren Silhouetten aus Glas und Chrom das Bild des reichen Santiago. Die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft sich immer mehr. Die Zahl der Menschen in „poblaciones“, die unterhalb der Armutsgrenze leben, beläuft sich auf 5 bis 6 Millionen, knapp die Hälfte der Bevölkerung Chiles. Die Wirtschaft braucht sie nicht, sie sind ausgegrenzt, chancenlos. KAIROS -Moment der Umkehr, dieser Name ist zugleich Programm. Während etablierte Entwicklungshilfeorganisationen von schönen Gebäuden im noblen Teil der Stadt heraus operieren, arbeitet KAIROS ausschließlich an der Basis. KAIROS mag vielleicht „ein Tropfen auf den heißen Stein“ sein, ist aber für viele Menschen ein Stück Hoffnung und die reale Chance zur Überwindung ihrer Not. Es werden, mehr Leute vom Schlage KAIROS nötig sein, die, getragen von nationaler und internationaler Solidarität, an der Basis arbeiten, um die sozialen Probleme des Kontinents in Angriff nehmen zu können.

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