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Ein Sonntag im September – Eine Chronik des brasilianischen Unabhängigkeitstages

Michelle Caldas Meyer | | Artikel drucken
Lesedauer: 5 Minuten

Irgendein komisches Geräusch hat mich diesen Sonntag geweckt…nein, es war kein hupendes Auto oder ein wahnsinniger Nachbar, der schon um 7 Uhr hämmert. Eine gewisse Melodie ist zu erkennen…es muss wohl eine Karnevalsparty sein. Aber es ist doch noch nicht Februar! Der Rhythmus weckt in mir tiefe Erinnerungen. An Etwas, dass man in der Schule öfters hatte. Dann, wie von einem Blitz getroffen, kommt es mir in den Sinn: draußen findet eine Militärparade statt! Es ist der 7. September.

Diese jährliche Präsentation von Macht, die winkenden Fahnen und bemalten Kinder sollten uns an jenen Tag im September 1822, an dem der Sohn des portugiesischen Königs Brasilien für unabhängig erklärte, erinnern. So eine Familientragödie [1]. Aber es war doch das Beste für die Eliten dort und hier. Jetzt sind es die Brasilianer, die die alte Metropole (Portugal) in Besitz nehmen. Mit einem Anteil von über 15 Prozent an der ausländischen Bevölkerung Portugals sind die Brasilianer die größte Gruppe, welche sich für den alten Kontinent entschieden hat. Lissabon ist fast eine kleines Rio de Janeiro. Aber jetzt mach ich erstmal eine Pause für das Frühstück.

Das Morgenmagazin läuft bereits, als der Obstteller zurechtgeschnippelt wird. Leben ohne Fernseher ist ja kein Leben in Brasilien. Wie jeden Vormittag werden die Staus im Fernseher gezeigt…aber doch nicht am Sonntag?! Eigentlich nicht, jedoch macht die Militärparade den Verkehr in den Städten verrückt. In zahlreichen Straßen müssen die Autos umgeleitet werden und die vielen Brasilianer, die endlich zum Strand gehen wollen, müssen ein bisschen mehr Geduld haben. Überall ist nur Gejammer zu hören: „Ist es nicht schon Pech genug, dass ein Feiertag auf das Wochenende fällt, sondern muss er uns auch noch das Leben schwer machen?!“.

Die Paraden laufen den ganzen Vormittag…ein Glück, dass heute die Zeitungen so ausführlich sind und die bekannteste Wochenzeitschrift herauskommt. Ein bisschen Lesen – neben Fernsehgucken – schadet ja niemand. Aber mein sechsjähriger Aufenthalt in Deutschland hat aus brasilianischer Sicht schon lebensbedrohende Folgen in meinem Kopf hinterlassen: Wie soll man sich konzentrieren, wenn der Fernseher so laut eingestellt ist?! Sind hier alle taub? „Was hast du gesagt?“, fragt mich jemand…“Ach, nichts. Ich denke nur laut nach.“

Neben der neuesten Technologie und den Mode-Trends stehen ein paar langweilige Nachrichten an: ein neuer Skandal (diesmal über Telefonspionage und Verletzung der Privatsphäre…man merkt, dass wir uns neuerdings auf Europa fokussieren, oder?), neue Erdölquellen wurden entdeckt, von denen die Regierung gerne mehr haben möchte, Umweltverschmutzung, Länderstreitigkeiten…das Übliche halt. Man kann kommen und gehen, und die Themen sind immer dieselben. Gleichzeitig zu meinen Anstrengungen mich zu konzentrieren, sehe ich live die Übertragung unseres Präsidenten Lula, der neben der argentinischen Präsidentin Cristina Kirchner steht. So eine Ehre für Kirchner, dort zu stehen und sich zu langweilen. Während dessen versuchen die Soldaten, unsere alten Waffen zu präsentieren, und die Luftwaffe schneidet schöne Formen in der Luft. Es wäre fast lustig…aber man sollte lieber nicht lachen, da das Militär keinen Spaß versteht.

Als sich die Parade endlich ihrem Ende nähert, ist es auch schon Zeit, sich um das Mittagessen zu kümmern. Sonntags kann das eine schwierige Aufgabe werden. Die Restaurants und Kantinen sind voll, da alle außerhalb essen…kochen ist zu aufwändig und die Restaurants bieten eine riesige Auswahl für die ganze Familie. Natürlich gibt es dort auch Fernseher…nicht nur einen, sondern viele. Aber wenn man draußen unterwegs ist, stellt die brasilianische Offenheit die beste Unterhaltung dar. Hier kann man von Tischnachbarn oder von jemand anderem angesprochen werden und in weniger als einer Minute erfährt man das ganze Leben. Momentan sind die Nutzung von Silikonimplantaten an der Tagesordnung, sowie gesundheitliche Probleme oder politische Inkompetenz.

Sonntagnachmittage sind meistens ruhig, besonders an einem Feiertag. Die einzige Möglichkeit, sich zu amüsieren, ist, wie immer, die Einkaufszentren zu besuchen. Mit den brasilianischen Finanzierungsmöglichkeiten sind die „Shopping-Center“ immer voll, auch wenn nicht alle so viel Geld haben. Man sieht dieselbe Situation wie mit den Silikonimplantaten, die jede Frau haben will und sie in 12 oder 24 zinslosen Raten bezahlen kann. Die Krankenhäuser haben sich zu Selbstbedienungsläden entwickelt. Zurück zu den Einkaufszentren…der schwache Dollarkurs macht sich in den Elektronikläden bemerkbar. Der Wohlstand wächst. Es werden nicht nur die billigen Imitate gekauft, sondern auch Originalwaren. Es ist schon bemerkenswert, dass nicht so viele Straßenhändler in der Innenstadt stehen. Wenn die Preise etwas niedriger sind, kaufen die Brasilianer lieber das Original, da es auch einen gewissen Status mit sich bringt. Raubkopien hat jeder.

Nach ihrem wöchentlichen Spaziergang zum Shopping gehen die Brasilianer zurück nach Hause…natürlich, da um 21 Uhr die Wochenschau übertragen wird. Komischerweise ist vom Thema Unabhängigkeit oder Nation gar nicht die Rede, sondern die neuesten Promi-Nachrichten sind viel interessanter. Dass heute der Präsident den ganzen Vormittag bei der Parade war, oder eine Rede gehalten hat, ist ja unwichtig. „Er redet so viel. Und macht so wenig.“

Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, war der 7. September noch etwas Besonderes…man war mit der ganze Familie bei der Parade. Es war etwas Schönes für die Kinder. Ein Tag um stolzer Brasilianer zu sein und das Land zu respektieren. Gott, bin ich alt geworden.

Als die Wochenschau vorbei war, kam eine plötzliche Wende an diesem Tag. Von einer Sekunde zur anderen haben die Brasilianer überall gejubelt und unsere Nationalhymne gesungen. Fast um Mitternacht waren wir alle einig und zufrieden, zu diesem wunderschönen Land zu gehören. Die Flaggen flackerten im Wind, und Leute sangen auf der Straße. Ein Wunder? Fast…Brasilien gewinnt 3:0 gegen Chile in der Qualifikation zur Fußball Weltmeisterschaft 2010. Ein wahrer Grund, Stolz zu sein. Was ist schon die Unabhängigkeit wert, wenn man bereits der Zweite in der Qualifikationsgruppe ist?! Und das Wichtigste: vor Argentinien.

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[1] Pedro erklärt unter Abwesenheit seines nach Portugal zurück gekehrten Vaters João die Unabhängigkeit.

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