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Politik und Kultur in Lateinamerika

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¿Qué pasa, Argentina?

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

¿Qué pasa Argentina - Bild: 3Sat Screenshot?Die etwa 30minütige Dokumentation beginnt mit den Statements dreier Argentinier, die in Kurzfassung die inhaltlichen Eckpunkte des Films umreißen: „Land der Extreme – entweder ganz oben oder ganz unten“, „der extreme Neoliberalismus stieß Argentinien 2001 in den Abgrund“, „Staat und Regierung sind Scheiße“. Ausführlicher wird dann über den Weinanbau in Mendoza, die Rinderzucht (was sonst?), die Industrie, die erst privatisierte, später verstaatliche nationale Fluggesellschaft und schließlich über die allgegenwärtige Armut berichtet. In allen fünf Teilen, die übrigens unter www.3sat.de noch einmal nachzulesen sind, bildet der Bezug zur Finanzkrise 2001 den zentralen Ausgangspunkt. Damals stürzte der völlig überbewertete Peso ab, die Bankkonten wurden durch die Regierung eingefroren, mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer war arbeitslos, und die Krise riss selbst große Teile der Mittelschichten in die Armut. Kurzzeitig waren sich die Argentinier darin einig, dass die Politiker alle zum Teufel gehen sollten: „Que se vayan todos!“

Aber es kam anders. Unter Nestór Kirchner, der 2003 zum neuen Präsidenten gewählt worden war, kehrte wieder Normalität ein. Seine Frau Cristina folgte ihm – ebenfalls demokratisch legitimiert – 2007 im Amte nach. In der Haltung zu den Kirchners scheiden sich bekanntermaßen die Geister, was auch der Film hinreichend dokumentiert. So wird die Präsidentin als „Reizfigur, die polarisiert“ charakterisiert. Und genau in diesem Punkt lässt der Autor der Dokumentation den Zuschauer am Ende etwas ratlos zurück. Einerseits werden – mit Verweis auf den katastrophalen Ausgangspunkt 2001 – die unleugbaren Erfolge konstatiert, wobei im argentinischen Fall bereits die Rückkehr (?) zur „Normalität“ als Erfolg gelten kann. Zu nennen wären hier vor allem die Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik, mit der Staat und Regierung den extremen Privatisierungs- und Deregulierungskurs der 1990er Jahre wenigstens partiell wieder umkehren wollen, der Rückgang von Arbeitslosigkeit und Armut, die staatliche Förderung im Technologiebereich. Im Film wird außerdem auf das neunprozentige Wirtschaftswachstum sowie darauf verwiesen, dass das BIP derzeit 60 Prozent über dem Wert von 2002 liegt.

Andererseits wird die soziale Spaltung der Gesellschaft anschaulich dokumentiert: Durch Bilder und Interviews aus den villas miserias, den Elendvierteln rings um die Hauptstadt Buenos Aires; durch die sehr aufschlussreichen Szenen über La Salada, den größten Textilmarkt Lateinamerikas, auf dem im Direktverkauf der Produzenten 70 Prozent aller argentinischen Textilien einen Käufer finden, die wegen der billigen Preise zum Teil sogar per Bus aus den Nachbarländern anreisen; durch den Bericht aus dem traditionsreichen Unternehmen IMPA, das seit 2001 unter schwierigen Bedingungen von den Arbeitern selbst verwaltet wird. Es kommt auch zur Sprache, dass der Staat die unterschiedlichen Wirtschaftssektoren höchst unterschiedlich behandelt. Während er die Biotechnologie stark fördert, fühlen sich die argentinischen Winzer im Stich gelassen. Der Automobilbau, hier durch das VW-Werk in Buenos Aires vertreten, liegt irgendwo dazwischen. Nach wie vor stellt die Armut die „offene Flanke der Regierung“ dar. Ein Drittel aller Argentinier, das sind immerhin 13 Millionen Menschen, lebt unterhalb des Existenzminimums.

Abgesehen vom Regierungsstil des Ehepaars Kirchner, über den sich – wie fast überall – trefflich streiten ließe, verweisen die gezeigten Bilder und Interviews auf ein bislang ungelöstes Dilemma, das sich jedoch nicht nur in Argentinien zeigt: Die jahrzehntelange Politik neoliberaler „Strukturanpassung“ hat die ökonomischen und sozialen Verhältnissen derart umgestaltet und geformt, dass mit dem Rückpendeln zu einem tradierten Staatsinterventionismus diese Folgen vielleicht gemildert, aber – wie gerade Argentinien beweist – nicht dauerhaft überwunden werden können. Da auch die meisten Argentinier aus eigener Erfahrung zu einem solchen Schluss kommen, sind und bleiben sie gegenüber „denen da oben“ misstrauisch. Allerdings – und dies wird dem Zuschauer am Ende des Films klar – genügen Misstrauen und Skepsis nicht, um die Zukunft zu gestalten. Deshalb hätte der Rezensent gern etwas mehr über die selbstverwalteten Betriebe oder die Selbstorganisation in den Elendsvierteln erfahren. Es bleibt die Erkenntnis: Argentinien ist weiter auf der Suche nach seiner Zukunft.

¿Qué pasa, Argentina? Ein Land sucht seine Zukunft.
Regie: Markus Böhnisch
3sat, 24.9.2010.

Bildquelle: 3Sat Screenshot

1 Kommentar

  1. jan z. volens sagt:

    In Argentinien, wie Brasilien – began ein Wirtschaftsanstieg nach 2001: Das kam nach der ersten „Greenspan-Pleite“ – nachdem der irrsinnige niedgrige Zinssatz der Federal Reserve in den 1990zigern – die Meute in die Aktivenmaerkte getrieben hatte – fiel der Markt – und der Dow ist heute, zehn Jahre spaeter immer noch niedriger als 2001 (11,700). Durch den Investorenzusammenbruch verlor die Federal Reserve und Wall Street die vorherige geowirtschaftlich-politische Kontrolle ueber Lateinamerika und die EINHEIMISCHEN lateinamerikanischen Volkswirtschaftler wurden von den neuen Regierungen fuer die EINHEIMISCHE Wirtschafts-und-Finanzpolitik BEMACHTET. Die EINHEIMISCHEN Volkswirtschaftler begannen dann sofort so weit wie moeglich die Privatisierungen der „Chicago Boys“ von Milton Freedman zu beenden. Gleich darauf kam 9/11 in New York und dann der Ueberfall auf Irak: Damit hatte Washington keine Energie und Zeit die NEUE nationalistische Politik in Argentinien und Brasilien (und anderen LA Nationen) zu unterdruecken. Erst vor einigen Jahren ist die USA wieder im „Weichen Krieg“ gegen die „Unabhaengigen“ in LA: Der Versuch fuer U.S. Militaerbasen in Kolumbien, die Reaktivisierung der 1948 stillgelegten 4th U.S. Fleet fuer die Karibik und Suedamerikakontrolle, die Verteidigungsabkommen mit Niederland Antillen und Costa Rica.

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