Lateinamerikanisten, das heißt Wissenschaftler, die sich, in der Regel von ihrem jeweiligen Fach aus, mit Lateinamerika beschäftigen, werden selten vorgestellt. Wenn man Glück hat, findet sich eine Kurzbiographie auf dem Buchcover. Doch das Leben mancher von ihnen ist – auch jenseits der Wissenschaft – ungewöhnlich, hochspannend, ja abenteuerlich. Quetzal bringt eine lose Folge solcher Biographien: von Lateinamerika-Spezialisten, die nicht mehr unter den Lebenden sind und zu denen Quetzal-Autoren einen persönlichen Bezug haben. Ich beginne mit Josif Romual‘dovič Grigulevič, einem sowjetischen Lateinamerikanisten. Ein Porträt der gerade verstorbenen Marta Harnecker wird folgen.
Josif Grigulevič – Wissenschaftler? Antifaschist? Diplomat? Mörder? Oder alles zugleich?
Als ich irgendwann Anfang 1982 mit meiner Diplomarbeit zur Katholischen Kirche in Lateinamerika beginnen wollte, saß ich in einem Büro der Leningrader Universität meinem Betreuer, dem ehrwürdigen Professor Mojsej Samoilovič Šachnovič, gegenüber. „Beginnen sie bei ihrer Lektüre mit den Büchern von Grigulevič. Das ist empirisch das Beste, was es in sowjetischen Bibliotheken gibt.“ Den Namen hatte ich noch nicht gehört, und so sah ich ihn fragend an. „Doch, sie kennen ihn, er hat die hochgelobte Biographie von Ernesto Che Guevara verfasst.“ Selbige hatte ich gelesen und erwiderte: „Deren Autor ist doch aber Lavreckij (Lawrezki)!“ „Richtig. Für Biographien verwendet er den Familiennamen seiner Mutter. Das ist ein und derselbe Autor.“ Daraufhin kaufte ich vier von Grigulevičs Büchern über die Katholische Kirche Lateinamerikas: „Zerkov‘ i oligarchija v Latinskoj Amerike“, Mjatežnaja zerkov‘ v Latinskoj Amerike“, die von ihm herausgegebene Dokumentensammlung „Katolicizm i svobodomyslie v Latinskoj Amerike v XVI – XX vekach“ sowie das Altwerk des Meisters „Ten‘ Vatikana nad Latinskoj Amerikoj“.
Ich weiß noch, wie erstaunt ich damals war über die für sowjetische Fachbücher ungewöhnlich reichhaltigen Quellen, von denen ich vermutete, dass dazu in westlichen Bibliotheken recherchiert worden sein musste. Genauso verwundert war ich, dass in seiner in der DDR im Verlag Neues Leben erschienenen Che-Biographie, die ich im Laden für ausländische Literatur auf Leningrads Nevskij Prospekt für 2 Rubel 18 Kopeken erstanden hatte, im letzten Kapitel Anastas Mikojan, seiner Zeit erster Vizepremier (stellvertretender Vorsitzender des Ministarrates) der Sowjetunion, zu Wort kommt und über sein Treffen mit Che berichtet. Später las ich, dass Grigulevič den Che, als jener noch kein Che war, sondern einfach nur ein Kind, auf den Knien geschaukelt haben will.
Merkwürdig, wie kam ein normaler sowjetischer Wissenschaftler, so dachte ich damals irrtümlicherweise, an solche Kontakte? Wissend, dass Grigulevič am Ethnographischen Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR tätig war, fragte ich dann 1985 die Kollegen vom Lateinamerika-Institut derselben Akademie nach ihm, als ich mich dort im Rahmen meiner Promotion aufhielt. Ich hätte ihn, den ersten Lateinamerikanisten, den ich gelesen hatte, gern kennengelernt. Doch meine Gesprächspartner reagierten allesamt seltsam auf meine Bitte: Man wollte ihn entweder nicht kennen oder behauptete steif und fest, dass man zu ihm keinen Zugang bekomme. Komisch, dachte, ich, zu einem Kollegen derselben Institution? Jahre später erfuhr ich, dass Grigulevič in dieser Zeit aus Gründen, die sie, liebe Leserin oder Leser, nach der Lektüre des vorliegenden Textes schnell verstehen werden, äußerst scheu war, peinlichst vermied, fotografiert zu werden. Und als eine Kollegin ihn bei einem Vortrag gezeichnet hatte, kam er wütend auf sie zu und zerriss das Bild. Zugleich wunderte ich mich, dass er, der kein Ethnologe war, an einem Institut für Ethnologie beschäftigt war und nicht am Lateinamerika-Institut, für dessen Gründung er hart gekämpft haben soll. Heute steht zu lesen, dass Michail Suslov, der für Propaganda zuständige Sekretär des ZK der KPdSU, verhindert habe, dass Grigulevič Direktor des Lateinamerika-Institutes würde. Seitdem sind viele Jahre, ja Jahrzehnte vergangen. Erst ein kürzlicher, zufälliger Google-Fund brachte mir Grigulevič wieder ins Gedächtnis. Als ich seine Lebensgeschichte las (die Archive waren nun geöffnet), glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen … zugleich erübrigte sich nun jede meiner Verwunderungen aus den 1980ern.
Kindheit und Jugend
Grigulevič wurde am 5. Mai 1913 in der Nähe von Vilnius, zu diesem Zeitpunkt Russisches Kaiserreich (früher bzw. später auch polnisch, russisch und litauisch), als Angehöriger der ethnischen Minderheit der Karäer geboren. Die Karäer sind eine ethnisch-religiöse Gruppe mit jüdischen Wurzeln und denen eines Turkvolks. Da sie nur den Tanach, die Hebräische Bibel, nicht aber den Talmud anerkennen, werden sie in der Regel nicht als Juden anerkannt. In Grigulevičs Familie wurde aber jiddisch gesprochen, und auf entsprechende Fragen hat auch Grigulevič selbst immer einmal wieder geantwortet, er sei Jude. Znamenskij (2017, 2) bezeichnet ihn als „kosmopolitischen ‚non-jewish Jew‘“. Das ist wichtig, weil Grigulevič darüber, ob in Litauen, Frankreich oder Argentinien schnell zu linken, von Juden getragenen politischen Gruppierungen Zugang erhielt und in der Sowjetunion immer mit der Angst lebte, der antisemitischen Säuberung zum Opfer zu fallen. Doch es passierte ihm nichts, wohl auch weil in seinem Pass „karäisch“ und nicht „jüdisch“ unter der Rubrik „Nationalität“ eingetragen war. Als Jugendlicher sprach er neben Jiddisch auch Litauisch, Ukrainisch und Polnisch. In der Schule lernte er Deutsch. Später kamen Russisch und Französisch hinzu, da er zehn Monate in Paris, an der Sorbonne, studierte. Spanisch, Englisch, Portugiesisch eignete er sich bald darauf an. Ein wahrer Polyglott, dem man vor allem nicht anmerkte, dass er kein Lateinamerikaner war, etwas, was für sein späteres Tun entscheidend sein sollte.
Grigulevič trat mit 13 Jahren in den Komsomol ein und war schon mit 17 Mitglied der Kommunistischen Arbeiterpartei Polens (und Weißrusslands), landete für seine linken Überzeugungen im Gefängnis, was seine Mutter so aufregte, dass sie an einem Herzinfarkt starb. Sein Vater war zu dieser Zeit schon in Argentinien, wo er eine Apotheke besaß. Der Familie war es nicht gelungen, ihm nachzureisen. In seiner Zeit an der Sorbonne lernte Grigulevič die polnischen Kommunisten Zygmunt Modzelvski und Edvard Gierek kennen, die ihn für die Komintern rekrutierten und ihn bald darauf in deren lateinamerikanisches Büro (Deckname: Yuzhamtorg) nach Montevideo entsandten. Unter dem Pseudonym Miguel machte sich Grigulevič 1934 sich auf nach Argentinien. Dort kam er bei seinem Vater unter und wurde für die Internationale Rote Hilfe tätig. In dieser Zeit galt er als der einzige Gesandte Moskaus der Komintern auf dem lateinamerikanischen Subkontinent. Unklar ist, wie lange er dies ausschließlich war: Denn, was er damals selbst noch nicht wusste, sein Weg zum NKWD-Agenten war damit vorgezeichnet.
In Mexiko: Grigulevič – ein Mörder?
Als NKWD-Agent gelangte Grigulevič als Juzik oder wahlweise Miguel 1937 über Paris und Barcelona nach Madrid. Vittorio Codovilla schickte ihn dort als Dolmetscher in die sowjetische Botschaft, wo er als NKWD-Agent rekrutiert wurde. In Spanien tobte der Bürgerkrieg, und Stalin war nicht nur besorgt über die Putschversuche von Monarchisten und Frankisten gegen die Republikanische Regierung, sondern auch über die Zusammensetzung der „eigenen“, linken Frente Popular. Besonders war ihm der Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM) ein Dorn im Auge, eine Partei, die er des Trotzkismus‘ beschuldigte. Grigulevičs mobile Gruppe ermordete auf Befehl Stalins im Juni 1937 den Führer des POUM und früheren Justizminister Andreu Nin. Grigulevič selbst hat es immer abgelehnt, sich an diesem Mord schuldig zu bekennen. Berichtet wird (Kuksin 2015), er habe in der Gruppe „nur“ als Übersetzer und als Fahrer jenes Autos gedient, das Nins Leiche fortbrachte.
Bei einem kurzen Aufenthalt in Moskau erhielt Grigulevič eine neue Aufgabe. Als José Ocampo fuhr er 1939 nach Mexiko. Dort startete die Operation „Ente“. Ihr Ziel war die Ermordung Trotzkis, den Stalin als nächstes unbedingt „weghaben“ wollte. Der Mord an Trotzki durch Ramón Mercader mit einem Eispickel ist weithin bekannt. Weniger bekannt ist allerdings, dass ein erster Mordversuch am 24. Mai 1940 misslang. Dafür trug Grigulevič die Verantwortung: sowohl für den Versuch als auch für dessen Scheitern. Er hatte zuvor sogar den mexikanischen Maler David Alfaro Siquieros in die Gruppe gebracht und organisiert, dass die Tür zu Trotzkis Haus in Coyoacán geöffnet wurde. Doch die mexikanischen Gruppenmitglieder, die das Töten übernehmen sollten, hatten zuvor wohl zu viel Tequila getrunken. Trotzki rettete sich somit völlig unversehrt mit seiner Frau unter seinem Bett. Erst Ramón Mercader vollzog dann wenig später, in einer zweiten Gruppe, der Grigulevič nicht mehr angehörte, das „Todesurteil“. Überzeugt hatte ihn dazu … Grigulevič. Später wurde er, als einer von sechsen, von Stalin für seine Tat „nicht-öffentlich“ mit dem Rotbannerorden ausgezeichnet.
In Argentinien: Grigulevič – ein Antifaschist?
Grigulevič beeilte sich nun aus verständlichen Gründen, Mexiko zu verlassen, und reiste erneut nach Argentinien. Als Dax oder auch Max stand er der hier aktiven NKWD-Gruppe vor. Er bildete in Buenos Aires, aber auch in Montevideo und Rio de Janeiro ein Netz von rund 60 Personen. Damit sorgte er zunächst für die Sprengung eines deutschen Buchladens und mehrerer Schiffe Nazi-Deutschlands, die aus dem Cono Sur kriegswichtige Rohstoffe nach Deutschland befördern sollten. Nach dem 2. Weltkrieg fand Grigulevič viele jener Nazis, die sich in Lateinamerika versteckt hielten. Er soll herausbekommen haben, wo Eichmann, Bormann u.a. residierten. Seine Dokumente waren schon hier auf den Namen Teodoro Castro, geboren in Kosta Rika, ausgestellt.
In Italien und im Vatikan: Grigulevič – ein Diplomat?
Was nun folgt, ist ein wahres Kabinettstückchen, denn Grigulevič sollte zum einzigen Spion in der Welt avancieren, der als ausländischer Agent Botschafter eines Landes wurde, das nicht das seine war. Und das kam so: In Mexiko fand er Zugang zu einer Gruppe von Exil-Kostarikanern, die ihn für einen Lateinamerikaner hielten. Sein perfektes Spanisch und auch sein Äußeres ließen für sie keinen Zweifel aufkommen. Diese Gruppe bereitete einen Putsch in Kosta Rika vor und bat Josif-Teodoro, für sie das Dokument „Gegen den Imperialismus und den Kommunismus“ zu verfassen. Kosta Rika-Kenner werden schon aus diesem Titel entnehmen können, dass dahinter inhaltlich José Figueres Ferrer stehen musste, der später unter der Flagge des Partido Liberación Nacional dreimal Präsident seines Landes wurde. Einige Quellen (z.B. Žerdinovskaja 2008) behaupten, dass Grigulevič sogar am Text der späteren (demokratischen) Verfassung Kosta Rikas mitgeschrieben habe. Nachdem nun die mit ihm befreundeten früheren Emigranten in Kosta Rika an die Macht gekommen waren, ließen sie sich nicht lumpen und boten Josif-Caballero-José-Teodoro, so seine vielen kostarikanischen Alias-Namen, einen Posten seiner Wahl an, auch wenn es gar ein Ministeramt wäre. Bescheiden gab sich dieser mit dem Posten eines diplomatischen Gesandten zufrieden. Figueres und Moskau waren hocherfreut. Wenn Figueres, der Kommunistenfeind das gewusst hätte! Als „kostarikanischer Geschäftsmann“ Don Rotti umgarnte Grigulevič einen kostarikanischen Vize-Konsul und überzeugte ihn, dass er der Sohn des verblichenen Latifundisten Pedro Bonifillo sei. Der Diplomat glaubte sich in ihm an den Freund seiner Kindheit erinnert. Am Ende avancierte Josif-Teodoro zum Botschafter Kosta Rikas in Italien, im Vatikan (wo er unermüdlich Bibliothek und Archive nutzte) und Jugoslawien, alles gleichzeitig und in einer Person. Er war bei den Botschaftern in Italien so beliebt, dass diese ihn zu ihrem Doyen erklärten. Papst Pius XII., dem Teodoro einen Sack Kaffee hatte zukommen lassen, gab ihm die Ehre von 15 Einladungen und zeichnete ihm am Ende gar für große Verdienste mit dem Orden San Juan von Jerusalem bzw. dem Malteserkreuz aus.
Gerade zu irrwitzig ist, was Josif-Teodoro auf der 6. UN-Generalversammlung 1951 schaffte, zu der er vom Außenminister Kosta Rikas geschickt worden war: Nachdem der sowjetische Außenminister Andrej Vyschinskij eine hasserfüllte Rede gegen die lateinamerikanischen (insbesondere mittelamerikanischen) Länder als „Lakaien des US-Imperialismus“ gehalten hatte, wurde Josif-Teodoro beauftragt, die Gegenrede zu halten, was er in einer ausgesprochen eloquenten Weise getan haben muss. Daraufhin bezeichnete Vyšinskij seinen ihm unbekannten Landsmann als „Kettenhund des Imperialismus“ und einen „Schwätzer“, der in den „Zirkus“ gehöre. Nein, das war kein Spiel, der Außenminister wusste wirklich nicht, dass er mit seinem Geheimdienst-Agenten die Ehre hatte. Geheimagent ist eben Geheimagent. Auf Befehl Moskaus musste Grigulevič schließlich von einem auf den anderen Tag nach Hause zurückkehren. Seinen Diplomatenkollegen gegenüber begründete er das mit einer schweren Krankheit seiner Frau.
Jahrzehnte später, als im Frühling 1992 in Moskau ein Treffen von Mitarbeitern des russischen FSB und der amerikanischen CIA stattfand, lobte der CIA-Vertreter die russischen Agenten als „gute Jungs“, die auch einige Erfolge erreicht hätten. Dann sagte er voraus, dass sich der FSB, der Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation, dennoch wundern würde, wenn er erführe, welchen Einfluss die CIA auf das sowjetische Außenministerium besessen hätte. Darauf reagierte Generalmajor Drozdov gegenüber einem Kollegen mit den Worten: „Sollen wir von unserem Mann in der kostarikanischen Botschaft erzählen?“ Doch war dazu die Zeit noch nicht gekommen …
In Jugoslawien: Grigulevič – ein Wiederholungsmörder?
Seit 1948 hatte Jugoslawien, für das Grigulevič bis dahin ja auch als Botschafter Kosta Rikas gewirkt hatte und wo er immer wieder zu Audienzen mit Iosip Broz Tito eingeladen worden war, einen von der Sowjetunion unabhängigen innen- wie außenpolitischen Kurs eingeschlagen. Präsident Tito wurde von der Sowjetunion als Faschist, Agent des Imperialismus und amerikanischer Spion bezeichnet. Der Minister für Staatssicherheit Semën Ignatev soll in diesem Zusammenhang Stalin vorgeschlagen haben (oder war es umgekehrt?), Tito zu beseitigen und dafür Grigulevič einzusetzen. Dafür wurden drei Varianten erdacht: Tito eine tödliche Infektion zuzufügen, ihn mit einer verborgenen Pistole zu töten, ihm ein Geschenk zu überreichen, das Gift enthält. Am 5. März 1953 starb Stalin, und die Operation fand nicht mehr statt. Zum Glück für Grigulevič – denn alle drei Pläne ließen jedwede Idee vermissen, wie er nach vollbrachter Tat hätte entkommen können.
In der Sowjetunion: Grigulevič – ein Wissenschaftler?
Nach Stalins Tod änderte sich für Grigulevič alles. Er, ein Kosmopolit, kehrte 1956, nicht unbedingt freiwillig, in die große, aber provinzielle Sowjetunion zurück. Der 1954 gegründete KGB interessierte sich nicht mehr für ihn. Seine diesbezüglichen finanziellen Bezüge fielen weg. Vom Lebemann wurde er auf das Lebensniveau eines normalen Sowjetbürgers zurückgesetzt, nur dass Grigulevič im Unterschied zu jenen nicht gelernt hatte, wie man in der Sowjetunion Dinge besorgt. Anders als andere ehemalige Spione war er von Mord und Selbstmord verschont geblieben, verfiel nicht der Depression oder dem Alkohol, sondern setzte sich für die weiteren 35 Jahre seines Lebens in seinem Arbeitszimmer. An diesem entstanden etwa 60 Publikationen, 58 werden im Katalog der Library of Congress gelistet, davon sind rund die Hälfte Bücher. Zunächst sind hier seine vielen Biographien unter dem Namen Lavreckij (den Namen seiner Mutter benutzte er, um seine Kollegen nicht mit seiner Arbeitsproduktivität zu nerven) zu nennen, die insgesamt eine Auflage von etwa einer Million Exemplare erreichten: die von Che Guevara hat der eine oder andere von uns wohl noch im Bücherschrank. Sie durchlief nur mühsam die sowjetische Zensur. Für die Biographien von Simón Bolívar und Francisco de Miranda erhielt Grigulevič hohe Auszeichnungen von Venezuela (weit vor Maduro an der Macht!) und Kolumbien, wurde zum Korrespondierenden Mitglied von Schriftstellerverbänden und wissenschaftlichen Instituten dieser beiden Länder ernannt. Darüber hinaus schrieb Grigulevič Biographien von Salvador Allende und Alfaro Siquieros. All diese Biographien sind gewiss journalistischer Natur und keine wissenschaftliche Literatur. Ob Grigulevičs Bücher über die Katholische Kirche in Lateinamerika und den Vatikan ihren Anspruch auf wissenschaftliche Literatur erfüllen oder über Journalismus nicht hinausgehen, ist strittig. Wenn man an Wissenschaftlichkeit den Anspruch von Theorieproduktion und wissenschaftlicher Methodik stellt, erfüllen sie den Anspruch sicher nicht. Sollen jedoch empirische Informiertheit, analytischer Zugang und gut dargelegte Narrative dafür ausreichen, erfüllen sie den Anspruch ganz gewiss. Die in anderen sowjetischen Fachbüchern gebetsmühlenartig vorgetragenen Verweise auf Parteitagsmaterialien fehlen in ihnen, was aber auch daran liegen mag, dass jene sich zu Grigulevičs Themen nicht geäußert haben.
Grigulevič wurde schließlich Abteilungsleiter im Ethnologie-Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und – als erster Lateinamerikanist – Korrespondierendes Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Böse Zungen behaupten, dass er beide Doktorgrade (in deutscher Lesart Dr. und Dr. habil.) bekommen habe, ohne die dafür üblichen Arbeiten vorzulegen. Andere sagen, er habe die Arbeiten nach der Zuerkennung der Titel doch noch vorgelegt, wenn auch kumulativ. Die Promotion habe er über den Vatikan und die Habilitation über die Kulturrevolution Kubas verfasst. Von seiner neuen Position aus durfte Grigulevič in Lateinamerika nur noch Kuba besuchen, wo er auch Fidel Castro interviewte.
Fazit
Als Wissenschaftler war Grigulevič ein Workaholic. Er soll nach 1956 nichts als seinen Schreibtisch (und seine Familie) gekannt haben. Im Umgang war er stets liebenswürdig, ein Bohemien, voller Energie, eloquent und selbstironisch, ein begnadeter Anekdotenerzähler und über Lateinamerika stets hochinformiert. Für die „gedemütigte Seele“ mancher Russen ist er noch heute ein Held. Manche von ihnen sind gar enttäuscht, dass er „nur“ den Rotbannerorden und nicht den eines Helden der Sowjetunion erhalten habe. Er selbst bezeichnete sich stets als überzeugten Kommunisten. Sein Diplomatenstatus war echt, aber „erschlichen“. Ein Antifaschist, ja ein aktiver war er gewiss, ein stalinistischer. Wie viel hier Überzeugung war oder die Furcht vor den antisemitischen Säuberungen Stalins, ist schwer zu sagen. Es trifft wohl beides zu. Er teilte das Schicksal vieler: selbst Stalinist und gleichzeitig von Stalins Schergen bedroht zu sein. Unter Nikita Chruščov, der später einige von Stalins Leuten hinter Gitter brachte, konnte er zweifellos auch nicht „entspannen“. Gleichzeitig hatte er noch immer seine Kontakte nach oben … eine absurde Konstellation.
Auf die Frage, was der Antrieb für seine zum Teil brutalen Intentionen war, soll Grigulevič geantwortet haben: „Angst vor der Repression“ (Grigulevič, zitiert in: Damaskin 2004, 223) Eine Schutzbehauptung? Grigulevič hatte sich bereitwillig zum Morden gemeldet. Manche bezeichnen ihn deshalb als Mörder (z.B. Volodarski 2015, 190 – 2013; Černjavski 2001). Dass er auch direkt die Waffe betätigt hat, ist unwahrscheinlich. Er war wohl ein „verhinderter“ Mörder. Mindestens Beihilfe zu gelungenem (Andreu Nin) bzw. versuchtem Mord (Trotzki) muss ihm jedoch definitiv zur Last gelegt werden. Schockierend ist auch, dass sich einer, der sich selbst als Jude fühlte, keine Brutalität gegenüber jüdischen Kampfgenossen scheute. Bemerkenswert ist Grigulevičs psychische Konstitution. In wie viele Leben anderer ist er bei höchster Gefahr für sich selbst geschlüpft, und dies ohne ein wirklich sicheres Hinterland! Grigulevič wurde nie enttarnt, weil niemand Zweifel an seiner Legende hegte. Er starb am 22. Juni 1988 in Moskau. Das Ende der Sowjetunion, für die er gedient hatte, erlebte er nicht mehr.
Zitierte Literatur:
Damaskin, Igor (2004): Stalin i razvedka. Moskva.
Žerdonovskaja, Margarita (2008): Josif Grigulevič: terrorist, razvedčik i učënyj. Unter: https://www.partner-inform.de/partner/detail/2008/4/233/2886/Josif-Grigulevič-terrorist-razvedchik-i-uchenyj?lang=de (Zugriff: 22.06.2019).
Kuksin, Ilja (2015): Josif Grigulevič. In: Masterskaja: Žurnal-Gazeta, February 2. Unter: http://club.berkovich-zametki.com/?p=15271 (Zugriff: 22.06.2019)
Černjavski, Georgij (2001): Josif Grigulevič: Učënyj i ubijza. Žurnal Vestnik Online. Unter: http://www.vestnik.com/issues/2001/1204/win/cherniavsky.htm (Zugriff: 22.06.2019)
Volodarski, Boris (2015): Stalin’s Agent: The Life and Death of Alexander Orlov. New York.
Znamenski, Andrei (2017): Joseph Grigulevich: A Tale of Identity, Soviet Espionage, and Storytelling. In: The Soviet and Post-Soviet Review, 1 – 28.
Anmerkung: Da die russischen Namen in der deutsch-, englisch- und spanischsprachigen Literatur höchst unterschiedlich transkribiert werden, habe ich mich in diesem Artikel für die Transliteration (nach ISO-Standard) aus dem Russischen entschieden.
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