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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Interview mit Carola Saavedra
Schriftstellerin aus Brasilien (Teil 1)

Katia Adriana Oliveira Feitosa | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Interviewt: Carola Saveedra - Schriftstellerin aus Brasilien - Foto: Quetzal-Redaktion, hr.Auf der Leipziger Buchmesse hatte QUETZAL am 14.03.2013 die Gelegenheit, mit der Schriftstellerin Carola Saavedra ein Interview zu führen. Die Brasilianerin wurde 1973 in Santiago de Chile geboren, kam mit drei Jahren mit ihren Eltern nach Brasilien und lebt heute in Rio de Janeiro, wo sie auch Journalismus studierte. Zuletzt erschien ihr erster Roman als deutsche Übersetzung „Landschaft mit Dromedar“ im C. H. Beck Verlag.

Quetzal: Wir von QUETZAL beschäftigen uns mit politischen und kulturellen Ereignissen in Lateinamerika. Ihr erster Roman Toda Terça handelt von einem „Latino“ und von seinen Erfahrungen in Deutschland. Wie würden sie den durchaus kritischen Begriff „des Latinos/ der Latina“ charakterisieren? Welche Erfahrungen hatten sie selbst mit dem Begriff und sehen sie sich selbst als „Latina“?

Carola Saavedra: Mir gefällt die Frage. Sie ist schwer, aber ich mag sie. Als ich Toda Terça und die Figur des Javier geschrieben habe, war diese Hauptperson wirklich sehr von meinen Erfahrungen als Lateinamerikanerin geprägt – der Lateinamerikanerin in Deutschland oder in Europa. Nur dass ich sehr viel weniger radikal bin als Javier. Er ist eine vielleicht viel sarkastischere Persönlichkeit als ich. Ich persönlich besitze nicht diesen Sarkasmus, den ich für meine Figur geschaffen habe. Ich glaube, wenn ich zusammenfassend antworten müsste, würde ich folgendes sagen: Ich fühle mich als Lateinamerikanerin wenn ich hier in Deutschland bin. Nur dass in Wahrheit kein Lateinamerikaner-sein existiert. Es ist eine Konstruktion. Als ich beispielsweise letztes Jahr auf der Buchmesse in Guadalajara (Mexiko) war, habe ich Schriftsteller aus Mexiko, Kolumbien, Chile, Argentinien und vielen anderen Ländern getroffen. Da haben wir entdeckt, dass wir sehr wenig voneinander wissen. In Brasilien bekommen wir sehr wenig darüber mit, was die Leute in Kolumbien oder in Mexiko schreiben und umgekehrt. Die Leute wissen wenig über die anderen Länder Lateinamerikas besonders in Brasilien. Es ist, als würde noch immer ein Vertrag von Tordesillas existieren. So als wäre der irgendwie immer noch in Kraft. Was ist Lateinamerika? Wir wissen sehr wenig, um dazu etwas sagen zu können. Aber wenn ich nach Deutschland komme und in Deutschland lebe und auf die deutsche Kultur schaue und ganz klare Unterschiede sehe, ja, dann fühle ich mich absolut als Lateinamerikanerin. In Deutschland bin ich das. Ich komme aus einer lateinamerikanischen Kultur, und das wird mir im Alltag und in vielen verschiedenen Dingen sehr klar. Aber es ist etwas, was wir nicht definieren können. Ich habe einen Text über die Fragen geschrieben, was es bedeutet, eine lateinamerikanische Schriftstellerin zu sein, wie es ist, hier zu veröffentlichen, und was Deutschland und Europa von einem lateinamerikanischen Schriftsteller erwarten. Es ist ein Text von mir, der in dem brasilianischen Literaturmagazin O Rascunho erschienen ist. Der Text ist in Portugiesisch, aber wird jetzt in dem deutschsprachigen Magazin Lichtungen erscheinen. Dort behandele ich genau diese Frage des Exotismus, der Erwartungen an einen brasilianischen Schriftsteller, der Erwartungen an einen lateinamerikanischen Schriftsteller, und was es überhaupt ausmacht, Lateinamerikaner zu sein. Im Grunde ist Lateinamerikaner-sein etwas was uns definiert, sobald wir in Europa sind. Aber tatsächlich existiert es nicht. Es ist eine Konstruktion.

Quetzal: Beeinflusste die Zeit, in der Sie in Deutschland gelebt haben Ihre Arbeit oder Ihre Entwicklung als Schriftstellerin? Ihr erstes Buch wurde ja veröffentlicht, während Sie in Deutschland lebten. Wenn ja, in welcher und welche ist Ihre Beziehung zur deutschen Literatur?

Carola Saavedra: Meine ersten beiden Romane, sowohl Toda Terça als auch Flores Azuis, habe ich hier in Deutschland geschrieben. Wenn ich nicht die Erfahrung gemacht hätte, in Deutschland gelebt zu haben, hätte ich große Zweifel daran, dass ich je Schriftstellerin geworden wäre. Ich glaube es eher nicht, denn es war eine Erfahrung, die mir Abstand geschaffen hat. Man verlässt jenen Ort, der sein Land ist, und man beginnt eine andere Sichtweise darauf zu bekommen. Man befindet sich außerhalb. Der Schriftsteller sucht auch oder ist auf eine bestimmte Art und Weise ein Fremder. Wenn man mitten in den Geschehnissen steckt, ist man zu sehr damit verstrickt, um darüber zu schreiben. Um darüber schreiben zu können, muss man weggehen, einen Schritt heraus gehen, um so als Betrachter weitermachen zu können. Und das ist genau das, was passiert, wenn man die Erfahrung macht, außerhalb des Heimatlandes zu leben. Das erste, was man dabei erkennt, ist das Andere und ob man dem gleicht oder ob man anders ist. Man beginnt sich zu fragen: Gut, wenn das das Andere ist, wer bin dann ich? Das heißt, Deutschland hat mich dazu gebracht, viele Dinge, die mit mir zu tun haben, zu überdenken. Dinge, die vorher noch nie meine Aufmerksamkeit geweckt hatten. Ich fing an, darüber nachzudenken, welche Dinge der deutschen Kultur ich für mich will und welche ich nicht will. Und über die Dinge, von denen ich weiß, dass ich sie niemals ändern werden kann. Ich kann 20 Jahre in Deutschland leben und werde weiterhin Brasilianerin sein.

Die zweite Frage, denke ich, ist die der Sprache. Ich bin verliebt in die deutsche Sprache. Im Gegensatz zu dem, was die Leute in Brasilien allgemein denken, finde ich die deutsche Sprache schön. Das Deutsche hat wunderschöne Wörter, die nicht im Portugiesischen existieren, wie zum Beispiel ein Wort, das ich liebe und das mich über lange Zeit definiert hat: das Fernweh. Was für ein schönes Wort!

Quetzal: Und Heimweh…

Interviewt - Carola Saveedra - Landschaft mit DromedarCarola Saavedra: Heimweh, Fernweh! So wie das Portugiesische das Wort saudade kennt. Sie sind mit einander verwandt, aber bedeuten doch nicht genau dasselbe. Also ist jede Sprache, die man spricht, eine Form, die Welt zu betrachten. Es ist eine Sichtweise der Welt, die man hat. Ich sehe die Welt auf eine andere Art und Weise, wenn ich auf Deutsch spreche, als wenn ich auf Portugiesisch spreche. Die Sprache ermöglicht Dinge aus dieser Welt zu verstehen. Sie gibt einem dafür ein Instrument, und das finde ich wundervoll! Ich erinnere mich beispielsweise, dass ich wie verzaubert war von all dem, was möglich ist, mit einer Sprache zu machen, als ich angefangen habe, die Poesie von Nelly Sachs zu lesen. Danach begann ich Thomas Bernhard, einen meiner Lieblingsautoren, zu lesen. Als ich dann jene Syntax, jene langen Sätze, die man im Deutschen konstruieren kann, sah, dachte ich: Mein Gott, ist das denn möglich? Das ist ja unglaublich, wundervoll! Wie kann ich das sehen und mit dieser Leseerfahrung zurückkehren in meine Sprache?

Quetzal: Also findet eine kulturelle „Antropophagie“ statt?

Carola Saavedra: Auf jeden Fall. Zum Beispiel habe ich W.G. Sebald gelesen, ein Autor, der mit Fotos arbeitet. Aber er nimmt nicht einfach ein Foto und setzt es ein, um irgendetwas zu illustrieren, sondern es gibt eine Verbindung zwischen den Fotos und seinen Texten. Sie sind zusammenhängend. Das verändert den Blick auf die Bilder.

Es sind also künstlerische und intellektuelle Erfahrungen, die Deutschland und die deutsche Sprache mir gegeben haben. Was ich mitgebracht habe, verwende ich auf eine Art und Weise. Nicht unbedingt in direkter Weise, aber irgendwie verarbeite ich das immer in meinen Texten.

Bildquelle: Quetzal-Redaktion, hlr.

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