Seit 23 Jahren verfasst die Comissão Pastoral da Terra einen jährlichen Bericht, in welchem die Gewalt auf dem Land dokumentiert wird. Auf den ersten Blick scheinen die Landkonflikte welchen die ländliche Bevölkerung, deren Bewegungen und Organisationen ausgesetzt sind, im Jahr 2007 [1] zurück gegangen zu sein.
Zu Beginn einige Daten: Während von 2005 bis 2006 in Zahlen kaum Unterschiede festzustellen waren, so sank die Zahl der Landkonflikte (Conflitos por Terra [2]) 2007 auf 615 gegenüber 761 im Vorjahr.[3] Die Anzahl betroffener Familien sank dabei von 86.000 auf 67.000. Die Gesamtzahl der Gewaltakte gegen Personen (Violência contra a Pessoa)[4] ist von 1.657 auf 1.538 im Jahr 2007 gesunken. Insbesondere bei Ermordungen (Assasinatos) gab es einen drastischen Rückgang von 39 (38 im Jahr 2005) auf „nur“ 28 im letzten Jahr.
Bei näherer Betrachtung der Daten der Comissão Pastoral da Terra (CPT) lässt sich jedoch ein Wandel der Konflikte feststellen, welcher nicht minder besorgnisregend ist. Und zu keinem Zeitpunkt sollte vergessen werden, welche persönlichen Schicksale sich schweigend hinter diesen Zahlen verbergen, wie viel Hoffnung, Angst, Frust und Entbehrung sich in diesen niederschlägt, aber auch unbeachtet neben diesen herrscht.
Betrachtet man die Konflikte um Wasser sind diese auf fast das Doppelte gestiegen: 87 Fälle, und zum ersten mal zwei Ermordungen.[5] Besonders tragisch war die Ermordung eines zwölf jährigen Jungen in Pernambuco, welcher Wasser aus einem Bewässerungskanal stehlen wollte. Dies verdeutlicht zum einen den wirtschaftlichen Kontext vieler dieser Konflikte, lässt aber auch die Entbehrungen vermuten die vielerorts unbeachtet erduldet werden. Das Jahr 2007 wird uns auch im Zusammenhang mit den vergeblichen Kämpfen um das Bewässerungsprojekt am Rio São Francisco und der 24tägigen Fastenzeit von Dom Luiz Flávio Cappio in Erinnerung bleiben.
Während eindeutig weniger Familien von staatlicher Seite vertrieben wurden – 25.618 (2005), 19.449 (2006) und 14.221 (2007) – ist die Zahl derer, die durch private Gewaltanwendung vertrieben wurden, erheblich gestiegen – von 1.809 (2006) auf 4.340 (2007). Diese Bereitschaft „in eigener Sache“ tätig zu werden, zeigt die fatalen Folgen der faktischen Straflosigkeit aufgrund von parteiischen oder fehlenden staatlichen Institutionen. Vielleicht ist dieser Anstieg auf ein anderes Selbstverständnis der besitzenden ländlichen Elite zurückzuführen, angesichts der zunehmenden öffentlichen und staatlichen Glorifizierung der Agrarindustrie und Exportwirtschaft. Gestiegen ist im letzten Jahr auch die Zahl der Morddrohungen von 207 auf 259.
Die Zahlen der Landkonflikte 2007 spiegeln insbesondere die steigende Nachfrage nach Agrokraftstoffen wider. 363 Zuckerrohrfabriken sind inzwischen in Betrieb. Die fatale Modernisierung der Landwirtschaft hat sich weiter beschleunigt. Die Frage der Nahrungsmittelsouveränität und der Verdrängung durch Monokulturen wird immer drängender. Von Modernisierung kann jedoch nur im Sinne von Wirtschaftlichkeit gesprochen werden: 52% (3131 von 5974) der „Arbeiter unter Sklaverei ähnlichen Bedingungen“, welche durch die „Mobile Eingreiftruppe“ des Arbeitsministeriums befreit wurden, waren in Zuckerrohrfabriken beschäftigt. Insgesamt ist die Zahl der „modernen Sklaven“ und der Arbeiter unter „ausbeuterischen Arbeitsbedingungen“ enorm gestiegen.
Bezeichnend ist auch, dass sich die Gewalt auf dem Land in andere Gebiete ausbreitet. Ein Anzeichen hierfür sind die zwar insgesamt gesunkenen Morde (insbesondere in der Region Nord von 28 auf 10 Fälle), jedoch geschahen diese Fälle in 14 verschiedenen Bundesstaaten (2007: 8 Staaten). Gestiegen sind diese Zahlen in den Regionen „Zentrum-West“ (Centro-Oeste) und im „Nordosten“ (Nordeste), also den Regionen des Cerrado, welche neuerdings an landwirtschaftlichem Wert gewinnen. Ein weiterer Hinweis, dass die Konflikte sich verlagern, zeigt sich dadurch, dass in diesen Regionen und im Amazonasgebiet in mehr als der Hälfte der Konflikte traditionelle Gemeinden involviert waren. Unter den Toten sind erheblich mehr Indígenas zu beklagen. All dies deutet die CPT als Auswirkung des Biomasse-Booms und des immer weiter vordringenden Agrobuisness.
Besonders deutlich wird der Zusammenhang von Agrobuisness und Landkonflikten in den „reichen“ Regionen „Süd“ und „Südost“. Entgegen dem allgemein rückläufigen Trend, stiegen in diesen Regionen die Zahlen der Konflikte, der betroffenen Personen und der staatlichen Räumungen. Zwar hat auch die Zahl der Landbesetzungen zugenommen, im Verhältnis zu den Konflikten jedoch wesentlich schwächer. Vielmehr sind die wachsenden Konflikte ein Ausdruck davon, dass durch zunehmenden Reichtum – unter den bisherigen Bedingungen – erst ein stetig wachsender Bedarf für eine Agrarreform produziert wird. Auch diese Entwicklungen werden von der CPT auf den Bedarf an Agrokraftstoffen, insbesondere des Zuckerrohrs, zurückgeführt.
Insgesamt lässt sich zwar feststellen, dass 2007 geringfügig weniger Landbesetzungen statt fanden. Eindeutig gestiegen ist die Zahl der Demonstrationen und der daran beteiligten Personen. Die niedrigere Zahl der Landkonflikte 2007 führt die CPT nicht auf eine effiziente Agrarreform oder Bekämpfung der Gewalt zurück. Zwei andere Faktoren werden dafür verantwortlich gemacht: Zum einen sei eine wachsende Frustration zu spüren aufgrund der Tatsache, dass viele Landbesetzungen seit vier, fünf, sechs oder mehr Jahren vergeblich auf eine „Siedlungserlaubnis“ warten. Zum anderen wird die existenzielle Notwendigkeit, die eigenen Lebensverhältnisse zu verändern, durch die neue Sozialhilfe (Bolsa-Familia) abgefedert.
Auch wenn im Süden und Südosten die Konflikte zunehmen, kommt es in den Regionen Nord und Nordost immer noch zu den meisten Vorfällen. Der Bundesstaat Pará, immer noch derjenige, welcher die meisten Todesfälle, Gewaltakte und Landkonflikte aufweist. Betrachtet man die Vorfälle im Jahresverlauf, tauchen wieder und wieder die selben Orte auf. Dadurch wird deutlich, wie sehr der Alltag in diesen Regionen von einer Atmosphäre der Gewalt geprägt ist. Ebenso unfassbar (in Zahlen) ist der Verlust an sozialen und kulturellen Werten in jedem einzelnen persönlichen Fall, durch die vorherherrschende Gewalt, die Arbeitsbedingungen, durch Vertreibung und Verdrängung aus der traditionellen Lebensweise.
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[1] Angaben beruhen auf: CPT, Conflitos no Campo 2007, 15. April 2008: http://www.cptnac.com.br/?system=news&action=read&id=2435&eid=6; und http://www.cptnac.com.br/?system=news&action=read&id=2430&eid=6; vorläufiger Bericht, Januar bis September, 10.Dezember 2007: http://www.cptnac.com.br/?system=news&action=read&id=2108&eid=6; CPT, Conflitos no Campo 2006, 10.04.2007: http://www.cptnac.com.br/?system=news&action=read&id=1825&eid=6
[2] Bei diesen Zahlen ist zu berücksichtigen, was als Landkonflikt gezählt wird. Die hier genannte Zahl umfasst alle Vorfälle (Ocorrências de Conflitos), bei denen Familien vertrieben wurden, ihnen ein Räumungsbescheid erlassen wurde, deren Eigentum zerstört wurden oder welche von Privatmilizen bedroht wurden. Eine umfassendere Definition bezieht die Besetzungen (Occupações) und Niederlassungen (Acampamentos) ein. Nach dieser kam es zu ‚nur’ 1.027 (2007) Landkonflikten gegenüber 1.212 (2006). Davon 364 Besetzungen (2006: 384) und 48 Niederlassungen (2006: 67). Leider sind die Statistiken zum Teil sehr uneindeutig: Nimmt man die umfassende Definition der Landkonflikte incl. Besetzungen und Niederlassungen, so waren 2006 140.650 Familien beteiligt und 2007, 122.400.
[3] Im September 2007 hatte es noch den Anschein, als sei diese Rückgang noch gravierender, Man hatte bis dahin „nur“ 258 gezählt.
[4] Violência contra Pessoa umfasst alle Landkonflikte (incl. Besetzungen und Niederlassungen), Konflikte um Arbeit (sowohl moderne Sklaverei – Trabalho Escravo – als auch ausbeuterische Arbeitsbedingungen – Superexploração do Trabalho), Konflikte um Wasser, Konflikte zur Trockenzeit und andere.
[5] Unter Konflikten um Wasser summieren sich Aktionen des Widerstands – meist kollektiv – die den Schutz und Nutzung des Wassers einzufordern, der Kampf gegen Staudämme, gegen die private Aneignung von Wasserressourcen und gegen die Einschränkung von Nutzungsansprüchen von traditionellen Flussbewohnern (Ribeirinhos), Betroffenen von Staudämmen (Atingidos por Barragens), Fischern, usw.. Die Zahl der beteiligten Familien stieg ca. 13.000 (2006) auf knapp 33.000 (2007).