Einleitung
Vor 85 Jahren, am 14. Mai 1935, kam der salvadorianische Schriftsteller Roque Dalton García zur Welt. Vor 45 Jahren, am 10. Mai 1975, nur wenige Tage vor seinem 40. Geburtstag, wurde er getötet. Es war Mord.
Von Che Guevara wissen wir, dass er vom Feind in der Gestalt eines bolivianischen Feldwebels exekutiert wurde. Camilo Torres, der, obgleich Priester, in einer kolumbianischen Guerilla kämpfte, fand den gewaltsamen Tod beim Versuch, ein feindliches Gewehr zu erbeuten, einem zweifelhaftem Initiationsritual seiner bewaffneten Gruppe. Beide gelten, zumindest unter den Linken, als Märtyrer, weil sie für eine gerechte Sache kämpften und von Feindeshand getötet wurden. Wie aber ist das bei dem Schriftsteller und Revolutionär Roque Dalton, der von seinen eigenen Leuten umgebracht wurde? Ist er auch Märtyrer oder nicht? Oder ist er es vielleicht gerade deshalb?
Roque Dalton war sich seines schnelllebig-vergänglichen Lebens bewusst. In seiner Poesie bezog er sich fast immer auf die Liebe … und den Tod. So schrieb er dann auch in seinem Gedicht „Alta hora de la noche“: „Wenn du erfährst, dass ich tot bin, sprich meinen Namen nicht aus, weil sonst der Tod und die Ruhe aufgehalten würden … .“
Ich mag seinen Wunsch nicht erfüllen.
Roque Dalton und die Linken
Sein revolutionäres Wirken hatte Roque Dalton in der Partido Comunista Salvadoreño (PCS), der Kommunistischen Partei El Salvadors, begonnen. 1957, 1958 oder 1959 (die Jahreszahlen in den Quellen variieren) trat er in sie ein. Später gehörte er auch deren Zentralkomitee an. 1957 besuchte er die Sowjetunion. 1961 wurde er wegen revolutionärer Aktivitäten aus El Salvador ausgewiesen. Zunächst ging er in das mexikanische und dann in das kubanische Exil, um schließlich, ab 1966 und für zwei Jahre, in Prag als Vertreter des PCS in der Zeitschrift „Probleme des Friedens des Sozialismus“ (hier allerdings ohne Stimmrecht) zu wirken. Schon in dieser Zeit war Dalton von der Notwendigkeit des revolutionären bewaffneten Kampfes in seinem Heimatland überzeugt, während seine Partei dies noch anders sah. Die salvadorianische PCS optierte zu jener Zeit noch, in Anlehnung an Salvador Allende in Chile, für den friedlichen Weg der Revolution und sollte das erst 1979 ändern. Dalton stellte sich erstmals 1967 gegen Schafik Hándal, den späteren Generalsekretär der PCS, der da noch zusammen mit seiner Partei den friedlichen Weg der Revolution favorisierte. Über den diesbezüglichen Spagat, der Dalton in Prag abverlangt worden sein mag, ist in der Literatur nichts bekannt geworden. Schließlich ging Dalton wieder nach Kuba, wo er Mitglied der Casa de las Américas wurde und der Jury für deren Preis für Lyrik angehörte. Er selbst hatte diesen Preis 1969, unter dem Pseudonym „Farabundo“, für seine Rock-Oper „Taberna y otros lugares“ gewonnen. 1970 trat er, nach einem Konflikt mit Roberto Fernández Retamar (vgl. Bild) und Jury-Mitglied Ernesto Cardenal, aus dem Redaktionsbeirat und aus der Casa de las Américas aus und wurde bei Prensa Latina tätig. Auch mit Pablo Neruda und dem sozialistischen Realismus war er nicht auf einer „Wellenlänge“.
Für Roques wachsende Nähe zur bewaffneten Linken mag auch seine besondere Beziehung zum chilenischen Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) und natürlich zu Kuba sowie Fidel persönlich ausschlaggebend gewesen sein. Wahrscheinlich hatte er zunächst den Plan, in eine guatemaltekische Guerilla einzutreten. Doch dann traf er in Kuba Edgar Alejandro Rivas Mira („Sebastian Urquilla“), Gründungsmitglied und Comandante máximo des Ejército Revolucionario del Pueblo (ERP), einer salvadorianischen Guerilla. 1973, nach seinen Auseinandersetzungen in der Casa de las Américas, kehrte Dalton illegal, unter dem falschen Namen „Julio Dreyfus“ (später „Julio Delfos Marín“), mit Schnauzbart, Brille und kosmetisch verändertem Gesicht nach El Salvador zurück. Sein Gesicht war von demselben kubanischen Ärzteteam verändert worden, das auch Che Guevara vor dessen Aufbruch nach Bolivien versorgt hatte.
Wenn er sich in seinem Heimatland im revolutionären bewaffneten Kampf engagieren wollte, hatte er zu diesem Zeitpunkt zwei Optionen: den ERP und die FPL. Der Comandante máximo der Fuerzas Populares de Liberación „Farabundo Martí“ (FPL), der berühmt-berüchtigte Marcial, hatte jedoch sein Beitrittsgesuch mit den Worten abgelehnt, als Schriftsteller sei er wichtiger. So blieb ihm der ERP, der ihm von Mira Rivas ohnehin empfohlen worden war und zudem auch dadurch gefallen haben mag, dass in ihm christlich-soziales Denken Platz hatte, das Dalton, neben den für ihn zweifellos wichtigeren, kommunistischen Ideen, teilte, ohne noch ein orthodoxer Katholik zu sein. Im ERP waren auch Mitglieder der Christdemokratischen Partei und von deren Jugendorganisation integriert.
Mit seiner Rückkehr nach El Salvador an Heiligabend 1973 trat Roque Dalton in den Reihen des ERP in den militärischen Kampf ein. Dabei diente er zugleich als Mittelsmann (Berater) zwischen dem ERP und der kubanischen Regierung. Außer Edgar Alejandro Rivas Mira und Daltons Freunden soll im ERP damals zunächst niemand um seine wahre Identität gewusst haben. Er selbst blieb zwar Zeit seines Lebens ein weniger hoch positioniertes ERP-Mitglied, doch sein tragisches Schicksal sollte ihm – neben der schriftstellerischen – politische Prominenz verschaffen, ja möglicherweise gar einen Märtyrerstatus.
Der ERP betrat, nachdem die FPL unter Marcial die Möglichkeit eines Zusammengehens mit ihm ausgeschlossen hatten, im März 1972 als eigenständige Guerilla die Arena des bewaffneten Kampfes. Gegeben haben soll es ihn aber schon seit 1971. Er rekrutierte sich im Wesentlichen aus der Kommunistischen (z.B. Gründungsmitglied Eduardo Sancho Castañeda („Fermán Cienfuegos“) und der Christdemokratischen Jugend (z.B. Gründungsmitglieder Alejandro Rivas Mira, Lil Milagro Ramírez, Rafael Arce Zablah und Felipe Peña Mendoza), ja sogar der Führung des Partido Demócrata Cristiano (PDC) (Lil Milagro Ramírez). Von Anbeginn galt er als die bunteste und gleichzeitig rigideste, ja „militaristischste“ Guerilla in El Salvador. In seiner Gründungsphase war der ERP aufgrund seiner militaristischen Orientierung noch eine „ideologiefreie Loge“. Unter der Ägide von Edgar Alejandro Mira Rivas verfiel er aber immer mehr dem ideologischen Impetus antisowjetischer und dann auch antikubanischer, mithin maoistischer Auffassungen, wobei sich letztere erst 1977, also nach Daltons Tod, als dominante politische Linie herauskristallisierte.
Warum wurde Roque Dalton ermordet?
Innerhalb des ERP hatte sich gleich in den ersten Jahren seines Bestehens eine Kontroverse herausgebildet: zwischen der militaristisch-hegemonistischen ERP-Führung um Alejandro Rivas Mira, Carlos Humberto Portillo („Mario Vladimir Rogel“) sowie Joaquín Villalobos („René Cruz“) und den um die Zeitung „Por la causa proletaria“ gescharten Intellektuellen, darunter Roque Dalton und Eduardo Sancho Castañeda. Aus der zweiten Gruppe sollten sich nach Daltons Tod die Fuerzas Armadas de la Resistencia Nacional (FARN) bzw. die Resistencia Nacional (RN) unter Führung von Eduardo Sancho verselbstständigen. Konstituiert hatten sie sich aber schon noch im Rahmen des ERP, Ende 1973. Sancho, späterer Comandante máximo der FARN, war es auch, der im ERP der „Tutor“ Daltons und dann, im späteren „Prozess“ gegen ihn, sein „Pflichtverteidiger“ gewesen sein soll. Diese (zweite) Gruppe und mit ihr Dalton plädierte schon innerhalb des ERP für die langfristige Strategie von Massenkampf und städtischem Aufstand statt für die kurzfristige der orthodoxen und militaristisch angewandten Focustheorie, die erstere verfocht und die Dalton zunehmend kritisierte. Daltons Kritik nannten die Führungskräfte des ERP „kleinbürgerlich-intellektuell“ und „bürokratisch“. Manche Autoren, wie z.B. Ehrenreich (2010), werten diese Auseinandersetzung als Führungs- oder Machtkampf. Am Ende wurde Dalton von der ERP-Spitze als Agent zuerst Kubas und dann der CIA bezeichnet. Dalton, der seine nicht-militaristische Positionen auch nach außen getragen hatte, wurde daraufhin der Vorwurf des Ungehorsams, der Spaltungstätigkeit, der Desertation und des Verrats gemacht. Dalton sei „das Gehirn einer dissidentischen Fraktion“ gewesen, so die ERP-Führung. Am 13. April 1975 nahm ihn diese gefangen. Ihn nicht zu verurteilen, hätte, so die Meinung Joaquín Villalobos‘, des letzten, langjährigen Comandante máximo des ERP und Militärstrategen der FMLN, Gefahr für die illegale Organisation bedeutet.
Dalton war immer eine undogmatische Person gewesen, ein „volcán convertido en palabra“ (Primavera 2015) und wohl auch ein Bohemien und Frauenheld, ein Mann mit Hang zu extremer Offenheit und zu viel, vielleicht zu zuviel schwarzem Humor, ja Sarkasmus, den er gegen jeden, auch und gerade gegen sich selbst richtete. Er war „eine Bombe der Ironie im Magen der Bourgeoisie“, eckte aber, obwohl eine kommunikative und freundliche Person, auch innerhalb der Linken, in der PCS, der Casa de las Américas und eben zuletzt auch im ERP an. Allein, mit Kritik, Ironie und Spott vermögen revolutionäre Organisationen kaum umzugehen, zumindest dann nicht, wenn sich diese gegen sie selbst richten. Nicht nur im ERP, auch schon im PCS galt Dalton als unbequem. Aus diesen Gründen wurde er und mit ihm Armando Arteaga (Pancho), ein Gewerkschafter und Waffen- sowie Explosionsspezialist, füsiliert. Während Pancho seine unmittelbar bevorstehende Ermordung ohne Protest hingenommen haben soll, habe Dalton mehrfach gerufen „No matés!“ (Ermorde mich nicht). Man habe dabei, so Roques Sohn Juan José Dalton später, extra eine Frau Feuerwerkskörper zünden lassen, damit man den Schuss nicht höre. Der ERP gab zu dem Hergang noch am Tage des Mordes ein Kommuniqué heraus. Darin hieß es, er sei mit ihm, dem Mord, siegreich aus einer Attacke des Feindes hervorgegangen, mit der der Verräter Dalton in seine Reihen infiltriert worden sei. Stolz verkündete der ERP am Ende des Dokuments, dass er immer all seine militärischen Aktionen publik machen werde.
Dies alles steht außer Frage, und niemand bestreitet es.
Alles andere aber ist umstritten:
Wer war es genau, der den tödlichen Schuss auf Dalton abgab? Wo geschah der Mord? Und wie wurde damit politisch und strafrechtlich umgegangen?
Wer hat den tödlichen Schuss abgegeben?
Hierzu gibt es mehrere Versionen oder Narrative:
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Die ERP-Führung selbst soll ihre Mordtat Vladimir Rogel zugeschrieben haben.
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Casa de las Américas behauptete 1986, nicht Dalton sei Dissident gewesen, sondern die, die ihn erschossen haben, hätten zu einer „dissidentischen Fraktion“ gehört.
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Sancho Castañeda erzählte 1978 seiner Familie in Cuba, Villalobos habe geschossen, versöhnte sich aber später mit diesem und erklärte daraufhin, nicht zu wissen, wer es gewesen sei.
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Joaquín Villalobos selbst, der 1993 in einem Interview mit Roques Sohn Juan José seine politische Verantwortung für den Mord anerkannt und dies als den „größten Fehler“ seines politischen Lebens bezeichnete, nahm später das Gesagte wieder zurück und spricht inzwischen nicht mehr gern über ihn. Von Anfang an beteuerte er, nicht selbst geschossen zu haben und nannte insgesamt sechs (sich selbst, Meléndez, Rivas, Rogel, Sandoval und ein Guerrillero namens Mateo) verantwortliche Führungsmitglieder. Einen konkreten Schützen gab er nicht an. Meinte er anfangs noch, es habe vor dem Mord ein Gerichts- bzw. Strafverfahren mit Todesurteil gegen Roque stattgefunden, nimmt er heute diese „Legitimation“ wieder zurück: Es habe nicht einmal die Möglichkeit gegeben, Beweise zu sammeln, geschweige denn, dass es eine Verteidigung gegeben habe, also sei es auch kein Gerichtsverfahren gewesen.
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Jorge Meléndez („Jonás“), nach Mira Rivas‘ Tod in der Rangfolge hinter Villalobos zweiter Comandante des ERP, bekannte sich zu überhaupt keiner Schuld. Er, so sagte er 2010, erinnere sich nicht an den Mord von Dalton, er erinnere sich lediglich an einen politischen Prozess, in dessen Folge es mehre Tote gegeben habe, unter ihnen Roque Dalton. Seiner Meinung nach sei es Rivas Mira gewesen, der gegenüber Dalton den Schuldspruch „er sei ein CIA-Agent“ formuliert habe.
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Der mexikanische Schriftsteller Hermann Bellinghausen (2010), seines Zeichens Journalist bei La Jornada und gut informiert über lateinamerikanische Guerillas, ist wiederum der Meinung, der Kopfschuss auf Roque sei der Beschluss von drei Führungsmitgliedern gewesen: Villalobos, Rivas Mira und Rogel.
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Im Dokumentarfilm der Österreicherin Tina Leisch erklärt demgegenüber Porfirio Hernández, einer der Gefängniswärter von Roque Dalton, das Mordszenario so: Jorge Mélendez habe bei Roque am Fenster gestanden, und sie hätten sich unterhalten, dann sei Villalobos hereingekommen. Sein erster Schuss ging daneben, sein zweiter traf. Vor dem zweiten Schuss habe Roque gerufen: „No matés!“
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Juan José Dalton, einer der drei Söhne von Roque und heute prominenter Herausgeber der Online-Zeitschrift „Contrapunto“, knüpft an dieses Narrativ an und ist überzeugt, dass es Villalobos eigenhändig gewesen sei, der Dalton erschossen habe, und Rogel habe Gleiches dem „Mitangeklagten“ Arteaga zugefügt.
Mehr oder Genaueres weiß, außer den Tätern und Verantwortlichen natürlich, niemand und wird wohl jenseits eines Gerichtsverfahrens auch nicht herauszubekommen sein. Einige der Verdächtigen sind tot (Rogel und Rivas), Edgar Alejandro Rivas Mira hat sich nach Daltons Tod vom ERP abgesetzt und war ins Ausland geflohen, im Koffer fünf Millionen Dollar, die aus einer Entführung des Oligarchen Roberto Poma stammten. Anders als bei Dalton wurde Rivas‘ Aktion vom ERP aber nur als „Dissidenz“ und nicht als „Verrat“ behandelt. Rivas hatte übrigens in den 1960er Jahren in Tübingen studiert und besaß in dieser Zeit enge Kontakte zur neuen deutschen Linken. Vladimir Rogel sollte ein Jahr nach Daltons Tod aufgrund von „Abenteurertum“ von seinen eigenen Kameraden hingerichtet werden, was allerdings nicht im Zusammenhang mit dem Mord an Dalton gestanden haben soll. Nur Joaquín Villalobos und Jorge Meléndez sind heute noch aktiv und haben sich, so oder so, zum Tatverlauf geäußert, ohne dass sie jedoch eine direkte Mordschuld eingeräumt hätten. Meléndez hat sogar Roques Sohn Juan José Dalton der Diffamierung beschuldigt. Roques Familie hingegen würde gern verzeihen, möchte aber zuvor gern wissen, was sie denn genau verzeihen solle.
Wo genau geschah der Mord?
Auch die Antwort auf diese Frage ist umstritten. Die Leiche von Roque Dalton wurde bis jetzt nicht gefunden und wohl auch nicht richtig gesucht. Sie wird im vulkanischen Territorium El Playón vermutet, wo sie von Hunden zerfleischt und Raubvögeln verschlungen worden sein soll. Ob dieser Ort auch der Ort des Mordes ist – auch dazu differieren die Meinungen. Wahrscheinlich ist, dass Roque Dalton erst als Leichnam dorthin transportiert wurde und in einem Haus im Viertel Santa Anita in San Salvador ermordet worden war. Daltons Sohn Juan José ist der Überzeugung, dass Meléndez wisse, wo die Leiche ist. Es gibt bis heute kein Grab für Roque, erst recht kein (zentrales) Denkmal, sieht man einmal von dem auf dem Campus der Universidad Nacional ab (vgl. Bild).
Wie wurde der Mord politisch aufgearbeitet?
Wirklich aufgearbeitet wurde der Mord an Dalton von keiner salvadorianischen Regierung. So absurd es klingt, die meisten Ehren erwiesen Roque Dalton noch die ARENA-Regierungen, wohl nicht ohne den Hintergedanken, ihrem Gegner, der FMLN, damit „eins auswischen“ zu können. Sie gaben sogar eine Briefmarke mit seinem Konterfei heraus und ehrten ihn als „verdienten nationalen Poet“. Wäre Dalton am Leben geblieben, so James Iffland (2016), hätte ihn sicher ARENA getötet. Unter den nachfolgenden FMLN-Regierungen war Roque dann, absurderweise, am wenigsten offiziell anerkannt, denn hätten die ihn breit ehren wollen, dann wäre wohl vorherige Selbstkritik nötig gewesen. Doch in der FMLN bzw. ihren Organisationen galt und gilt Selbstkritik als politische Naivität. Die „causa Dalton“ wurde von ihr lange Zeit als Tabu behandelt, um die „Guerilla nicht zu spalten“. Aus diesem Grund waren gerade die FMLN und ihre Regierungen in Daltons Fall an Straflosigkeit interessiert. Der vonseiten der FMLN aufgestellte und dann gewählte Präsident El Salvadors Mauricio Funes begründete diese Attitüde mit den in diesem Zusammenhang zynisch klingenden Worten „Er, Dalton, gehöre nicht der Familie Dalton, sondern dem salvadorianischen Volk“ und setzte darüber hinaus Jorge Meléndez, einen der mutmaßlichen Mörder Daltons, als hohen Regierungsfunktionär ein. Dass Roque Daltons Söhne ihrerseits der FMLN angehörten bzw. ihr noch immer politische Sympathien entgegenbringen und einer von ihnen, Roque jr., sogar im Bürgerkrieg auf ihrer Seite umkam, macht das Verhalten der FMLN umso problematischer. Auch der bisher letzte salvadorianische Präsident vonseiten der FMLN, Salvador Sánchez Cerén, beließ es bei Funes‘ Entscheidung. Der gegenwärtige, eher rechts orientierte und unabhängig von ARENA und FMLN regierende Nayib Bukele hingegen entließ gleich nach Amtsantritt, noch 2019, Meléndez als Regierungsfunktionär. All diese Logiken sind nur schwer zu durchschauen.
(Wie) wurde der Mord rechtlich aufgearbeitet?
Natürlich war und ist die Familie Dalton sehr an der rechtlichen Aufarbeitung des Mordes interessiert. Seit 2009 bemüht sie sich um strafrechtliche Ahndung des Verbrechens. 2010 stellte sie bei der Generalstaatsanwaltschaft El Salvadors einen entsprechenden Antrag gegen Villalobos und Meléndez. Das Verfahren wurde aber 2012, und zwar ohne vorherige Untersuchung, vom Generalstaatsanwalt eingestellt, mit der Begründung, die Tat sei verjährt und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit liege hier nicht vor. Es handele sich vielmehr um eine ganz normale kriminelle Tat. Außerdem habe El Salvador das Rom-Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof nicht unterschrieben. Die Dalton-Familie ging in Berufung, aber auch das half nichts. Denn die Regierungen waren und sind bisher nicht bereit, das im Kontext des Friedensabkommens erlassene Amnestiegesetz zu annullieren, das eine Strafverfolgung für zivile wie auch kriminelle Verantwortlichkeiten im Bürgerkrieg ausschließt. Als man dieses Gesetz formulierte, geschah das jedoch noch in der Überzeugung, die beiden kriegführenden Seiten, Regierung und FMLN, würden ohne ein solches Gesetz kein Friedensabkommen unterschreiben. Niemand hatte damals an Konflikte innerhalb einer „Front“ gedacht. Auch in den Bericht der Wahrheitskommission gelangte die Angelegenheit „Roque Dalton“ nicht, weil da nur die von 1981 bis 1991 begangenen Menschenrechtsverletzungen Eingang fanden. Wie bezeichnend ist es aber, dass eine der wenigen in diesem Dokument registrierten Menschenverletzungen vonseiten der FMLN der Mord an elf Bürgermeistern ist, der ebenfalls auf das Konto der ERP-Führung geht. Neben anderen werden im Bericht der Wahrheitskommission als Schuldige für diese Tat genannt … Joaquín Villalobos und Jorge Meléndez. Im Juli 2018 hat das salvadorianische Oberste Verfassungsgericht den Antrag der Familie Dalton auf Wiederaufnahme des Verfahrens, einschließlich der habeas-corpus-Forderung, akzeptiert. Sie hatte dazu Dokumente beigebracht und die Identitäten von möglichen Zeugen benannt. Seitdem hat man allerdings nichts mehr davon gehört. Vielleicht wartet man ja das Ende der Corona-Krise ab. Würde die Familie das Verfahren gewinnen, so hätte das gewiss eine exemplarische Wirkung auf die in El Salvador noch immer obwaltende Straflosigkeit. Sollte sie verlieren, behält sich Juan José Dalton vor, vor internationale Gerichte, zum Beispiel vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, zu ziehen: Immerhin gab es im Kontext der Morde auch solche Delikte wie Freiheitsberaubung, physische und psychische Folter und Verschwindenlassen.
Was machen die noch lebenden Mord-Verantwortlichen heute?
Jorge Meléndez schloss sich (gemeinsam mit Villalobos, der dieser Partei dann sogar vorstand) dem 1995 gegründeten, in jeder Hinsicht opportunistischen Partido Democrático (PD) an, hatte eine Kolumne in der rechtskonservativen Tageszeitung „Diario de Hoy“ und wurde schließlich als Direktor des Zivilschutzes in El Salvador Regierungsfunktionär. Villalobos, zuerst der Militärstratege der FMLN und dann einer der Hauptprotagonisten des Friedensvertrages, wurde bald nach dem Friedensschluss zum Freund oligarchischer Familien und des US-Botschafters in El Salvador. Letztlich, wahrscheinlich ein Deal im Kontext des Friedensabkommens, wurde er – ehrerbietig aufgenommener und als Chevening-Scholar vom Foreign Office finanzierter – Masterstudent und am Ende gar Visiting Scholar am Latin American Centre des St Antony’s College in Oxford. Immerhin erhielt genau zu dieser Zeit Marrack Goulding, der frühere UN-Undersecretary for peace-keeping, der Villalobos in den Friedensverhandlungen gegenüber gesessen hatte, in demselben St Antony’s College den Posten des Warden, des Rektors. Die Autorin, zu dieser Zeit dort auch selbst Senior Associate Member, saß das eine oder andere Mal bei Vorträgen und Seminaren neben Villalobos. Mit dem Oxforder Abschluss wurde dieser „wichtig“ und avancierte zum Berater sowohl des kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe (mit dem Dalton am St Antony’s College auch „an einer Bank“ gesessen hatte) als auch des mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón. Ihnen zeigte Villalobos, wie man, auch aus Hubschraubern heraus, Guerilleros erschießt.
Schluss
Die Geschichte der – politischen und rechtlichen – Aufarbeitung des Mordes an Roque Dalton ist noch lange nicht zu Ende. Wie wichtig wäre doch für El Salvador gerade heute Roques Präsenz! Bestimmt hätte er sich mit dem ihm eigenen Sarkasmus über alle dort gegenwärtig agierenden politischen Parteien lustig gemacht, erst recht über die „Aufarbeitung“ seines eigenen Falls. Nun ja, das ist wohl ein wenig zuviel des Surrealismus‘. In jedem Fall aber hätte Roque der Linken in seinem Land Rat geben oder auch ein weises Poem über sie verfassen können, wenn er noch lebte. Wer nach niemandes Mund redet, bekommt eben in der Regel, selbst in schwierigen Situationen, niemandes Schutz, auch nicht von den eigenen Genossen. Diese Regel gilt nicht immer, aber oft. Märtyrer werden laut Bibel wegen ihres Glaubens getötet. Dalton glaubte und wusste.
Silvio Rodríguez, der bekannte kubanische Sänger war Roques Freund. Er schrieb ihm ein Gedicht mit dem Titel „Flor para Roque“ (Blume für Roque). Sein wohl berühmtestes Lied „Mi Unicornio Azul“ (Mein blaues Einhorn) ist gleichfalls ihm gewidmet. Es stützt sich auf die salvadorianische Legende, nach der einst, in einem Zug der Armen und Schwachen, durch die Berge El Salvadors ein blaues Einhorn schritt …, und Silvio beklagt in ihm, dass er sein Einhorn nun verloren habe …
Nicht nur er.
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Literatur:
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BBC News Mundo (2019): Cómo murió Roque Dalton, cuyo „magnicidio“ en El Salvador hace 4 décadas llevó ahora al presidente Bukele a destituir un funcionario. In: https://www.bbc.com/mundo/noticias-america-latina-48537513 (Zugriff: 06.05.2020).
Bellinghausen, Hermann (2010): ¿Quién mató a Roque Dalton? In: http://www.cubadebate.cu/especiales/2010/01/19/quien-mato-a-roque-dalton/#.XrKE76gzZPY (Zugriff: 06.05.2020)
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Dalton, Juan José (2016): Roque Dalton jamás podrá ser una bandera oficialista. In: https://www.contrapunto.com.sv/cultura/archivoRD/roque-dalton-jamas-podra-ser-una-bandera-oficialista/2617 (Zugriff: 06.05.2020).
Ehrenreich, Ben (2010): Who killed Roque Dalton? In: https://www.lrb.co.uk/the-paper/v32/n12/ben-ehrenreich/diary (Zugriff: 06.05.2020).
Huezo Mixco, Miguel (2010): Roque Dalton vuelve a morir. In: https://www.jornada.com.mx/2010/10/24/sem-miguel.html (Zugriff: 06.05.2020).
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Zinecker, Heidrun (2004): El Salvador nach dem Bürgerkrieg. Ambivalenzen eines schwierigen Friedens. Frankfurt a.M. (Campus).
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Bildquellen: [1-5] wiki_CC [6] CoverScan