Schwerin: Pflegekräfte aus Mexiko
100. Pflegekraft aus Mexiko in Deutschland eingetroffen
„Wir lassen ja alles hinter uns“
El Ministro de Salud de Alemania viaja hasta México para reclutar personal sanitario
Alemania contrata a enfermeras mexicanas, con sueldo de hasta 70 mil pesos
Die Schlagzeilen klingen schon einmal gut; egal, ob sie aus bundesdeutschen oder mexikanischen Medien stammen. Und wenn man sich die entsprechenden Texte näher ansieht, verstärkt sich dieser Eindruck noch. Mexikanische Pflegekräfte kommen nach Deutschland und helfen, den Pflegenotstand hierzulande zu lindern. Das hilft der Bundesrepublik. Auf der anderen Seite gibt es in Mexiko zu viele Pflegekräfte, die keine Arbeit finden. Und zudem verdienen diese nur etwa ein Sechstel dessen, was sie hierzulande verdienen könnten. Hierher zu kommen hilft auch den MexikanerInnen. Eine perfekte Win-Win-Situation also. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein.
Wahr ist natürlich, dass es in Deutschland einen Pflegenotstand gibt. Dieser ist allerdings nicht über Nacht über Deutschland hereingebrochen und neu ist er schon gar nicht. Wir wollen an dieser Stelle nicht über die Ursachen dieser Situation diskutieren und auch nicht darüber, dass die Anwerbung ausländischer Pflegekräfte nichts an den systemischen Ursachen der deutschen Pflegekrise ändern wird. Es gibt eher begründete Befürchtungen, dass sich diese dadurch noch verschärft. Die Erfahrungen lehren jedenfalls, dass ausländische Pflegende oft nicht nach dem Grundsatz Gleicher Lohn für gleiche Arbeit eingestellt wurden.
Aber an dieser Stelle soll mehr der Fakt interessieren, dass die Bundesrepublik oder um genauer zu sein, insbesondere die Bundesagentur für Arbeit seit 2018 mexikanische Pflegekräfte für eine Tätigkeit in Deutschland anwirbt, unter anderem mit dem Versprechen, diese würden bis zu 70.000 Pesos verdienen. Seit Oktober 2019 gibt es außerdem die DeFa, die Deutsche Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe, die diese Aufgabe besser koordinieren soll. Dass man von deutscher Seite nach dem Kosovo und den Philippinen jetzt Mexiko in den Fokus der Fachkräfterekrutierung nimmt, ist leicht zu erklären: Der Kosovo ist klein und der asiatische Markt ist „abgegrast“, wie der Sprecher des Helios Klinikums Schwerin sehr offenherzig feststellte. Außerdem verfügt Mexiko über sehr gut ausgebildete Pflegekräfte, ca. die Hälfte von ihnen hat einen Bachelorabschluss.
Es ist daher nur folgerichtig, dass der deutsche Gesundheitsminister im September letzten Jahres nach Mexiko reiste, um das Anwerbeprogramm weiter in Gang zu bringen. Jens Spahn wies bei seinem Mexikobesuch darauf hin, dass Deutschland eine alternde Gesellschaft sei, weshalb die Nachfrage nach Pflegekräften steige. Allerdings fehlten 50.000 bis 80.000 Pflegekräfte und deshalb sei es notwendig, dass junge Leute aus dem Ausland nach Deutschland kämen, um im Gesundheitssystem zu arbeiten. Und so vermeldeten deutsche Zeitungen bereits im September 2019 die Ankunft der 100. Pflegekraft aus dem lateinamerikanischen Land. Und nach wie vor bereiten sich weitere auf die große Reise vor.
Fast als wäre es bestellt worden, brachte der Weltspiegel vom 16. Februar 2020 den Beitrag Mexiko: Als Pflegerin nach Deutschland. Der etwa zehnminütige Film erzählt die Geschichte zweier mexikanischer Krankenschwestern, die den Schritt nach Deutschland wagen wollen bzw. bereits wagten. Berichtet wird von den Hoffnungen der beiden Frauen und auch von den Schwierigkeiten, die mit der Emigration verbunden sind. Letzteres betrifft vor allem die Hürde, die deutsche Sprache zu erlernen und die Trennung von der Familie. Itamar Rojas, alleinerziehende Mutter von drei Kindern, erhofft sich in Deutschland bessere Entwicklungsbedingungen für ihre Kinder. Doch muss sie diese für mindestens ein Jahr in Mexiko zurücklassen.
Ihre Kollegin Azucena Solís, die seit etwa einem Jahr in einer hessischen Kleinstadt arbeitet, hofft darauf, dass ihr Mann bald nach Deutschland kommen kann; das ist aber erst möglich, wenn ihr Aufenthalt hier gesichert ist, d.h. wenn ihr Abschluss anerkannt wurde. Die studierte Fachkraft wird bislang als Pflegehilfskraft beschäftigt, mit der entsprechend geringeren Entlohnung.
Der Beitrag ist alles in allem sehr typisch für den Umgang mit der Migration mexikanischer Pflegekräfte nach Deutschland, sei es nun in Printmedien oder in Fernsehberichten. Da ist stets viel Wärme und Sympathie, wenn von Itamar und Azucena oder Ariana und Sonia die Rede ist. Und da ist mindestens genauso viel Oberflächlichkeit. Analyse findet nicht einmal ansatzweise statt. Die Bundesrepublik scheint ein Hort der Harmonie zu sein, an dem man die mexikanischen Pflegekräfte die geringe Anerkennung und die schlechte Bezahlung hinter sich lassen können.
In dem genannten Beitrag des Weltspiegel klingt nur einmal ein kleiner Vorwurf an, als die mexikanischen Kollegen von Itamar Rojas beklagen, dass sie nun eine erfahrene Fachkraft verlieren, die nicht einfach zu ersetzen sein wird. Und das nur, so der Kommentar der Moderatorin, weil Deutschland Pflegekräfte braucht. Doch es wird betont, dass Itamar in Mexiko schließlich nur 500 Euro verdient. Was ja nun wirklich nicht sehr viel ist, aber andererseits auch nicht sehr viel besagt, solange man die konkreten Lohn-und Preisgefüge in den jeweiligen Ländern nicht vergleicht. Übrigens: Eine mexikanische Pflegekraft verdient das 1,83-fache des Durchschnittslohns, eine deutsche das 1,13-fache.
Es wäre grundsätzlich nicht ganz schlecht gewesen, wenn die Filmemacher etwas genauer hingesehen und auch einmal hinter die deutschen Kulissen geblickt hätten. Itamar Rojas sei ein ruhiges Leben mit einer besseren Ausbildung für ihre Kinder von ganzem Herzen gegönnt, doch wer z.B. die Arbeitsbedingungen für Pflegende hierzulande ein wenig kennt, fragt sich schon, wie eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern im Schul- und Vorschulalter als Krankenschwester oder Altenpflegerin arbeiten will, ohne jede familiäre Unterstützung. Man spricht von einer deutschen Pflegekrise schließlich nicht nur wegen des Mangels an Pflegepersonal, sondern auch wegen schlechter Arbeitsbedingungen, der systematischen Überlastung der Pflegenden und ihrer geringen gesellschaftlichen Anerkennung, die sich u.a. in einer verhältnismäßig schlechten Bezahlung äußert. Deshalb ist dieser Beruf hierzulande auch so unattraktiv. Davon ist aber in den Beiträgen meist nicht die Rede.
Aber zurück zum Weltspiegel und den nicht gestellten Fragen; mir fallen da spontan noch einige ein.
Wieso dauert es eigentlich ein Jahr (und länger?), den Abschluss einer studierten Krankenschwester anzuerkennen, damit sie in Deutschland als (examinierte) Altenpflegerin arbeiten kann? Sind mexikanische Pflegende mit ihrem fünfjährigen Bachelorstudium nicht eigentlich überqualifiziert für den deutschen Pflegemarkt, der nur eine dreijährige Berufsausbildung verlangt?
Wieso wirbt die BRD Pflegekräfte in Mexiko für eine Auswanderung an, erwartet aber, dass diese jahrelang von ihren Familien getrennt leben?
Was bedeutet die gezielte Abwerbung von jungem und hochqualifiziertem Fachpersonal eigentlich für das mexikanische Gesundheitswesen? Oder anders gefragt: Gibt es in Mexiko wirklich zu viele Pflegekräfte, wie in hiesigen Medien unter Berufung auf den Gesundheitsminister berichtet wird?
Was die letzte Frage betrifft, sollte man eigentlich beruhigt sein können. Im Jahre 2010 verabschiedete die Weltgesundheitsorganisation ihren Verhaltenskodex für die internationale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften, dem auch die Bundesrepublik zustimmte. Dieser Kodex fordert die Staaten auf, in erster Linie selbst für einen ausreichenden Personalbestand im Gesundheitswesen zu sorgen, zur grenzüberschreitenden Anwerbung sollte es – in behutsamer Weise – nur dann kommen, wenn diese Bemühungen erfolglos bleiben. Auch wenn die WHO grundsätzlich betont, dass das persönliche Recht des Einzelnen auf Migration nicht eingeschränkt werden soll, erstellte sie eine Liste von 57 Ländern mit einem krisenhaften Mangel an Gesundheitsfachkräften, in denen eine Rekrutierung von Fachkräften verboten ist. Die Bundesregierung hat entsprechende Regelungen zur Einschränkung der Anwerbung erlassen. Mexiko erscheint definitiv nicht auf dieser Liste. Ist damit hinsichtlich Abwerbung also alles im grünen Bereich? Wohl eher nicht.
Fast zur gleichen Zeit, als in Deutschland die Ankunft der 100. mexikanischen Pflegekraft bejubelt wurde, titelte die Deutsche Welle in Mexiko: Escasez de enfermeras en México (Mangel an Krankenschwestern in Mexiko). Die Meldung nimmt Bezug auf Angaben der WHO zum Mindestbedarf an Pflegepersonal, um eine ausreichende Versorgung zu ermöglichen.
Die Weltgesundheitsorganisation schätzt ein, dass zur Deckung des Pflegebedarfs in einem Land 6 Pflegekräfte pro 1.000 Einwohner nötig sind, laut OECD sollten es sogar 8,8 sein. In Deutschland kamen laut OECD im Jahr 2017 auf 1.000 Einwohner immerhin 12,9 Pflegekräfte, in Mexiko waren es im gleichen Jahr gerade einmal 2,9. Das mexikanische Nationale Institut für Statistik und Geografie INEGI zählte 2015 pro 1.000 Einwohner 3,9 Pflegende. Im Gegensatz zur OECD liefert die INEGI auch Zahlen für die Situation in den mexikanischen Bundesstaaten.
Bei einer differenzierten Betrachtung der Versorgung nach Bundesstaaten wird deutlich, dass die Pflegenden regional sehr unterschiedlich verteilt sind. In großen Städten und in einigen Bundesstaaten entspricht die ihre Zahl in etwa dem von der WHO geforderten Standard, während die Versorgung in ländlichen Gebieten sehr schlecht ist. Dort steht nicht selten nur etwa ein Drittel der benötigten Pflegekräfte zur Verfügung, Laut INEGI bilden die Bundesstaaten Tamaulipas (6,1 Pflegende pro 1.000 Einwohner), Mexiko-Stadt (6,0), Campeche und Quintana Roo (jeweils 5,9) die Versorgungspitze, Schlusslichter sind Hidalgo, Michoacán, Veracruz (jeweils 2,8), Querétaro (2,6) und Puebla (2,3).
Egal, welche Berechnung der notwendigen Mindestzahl des Pflegepersonals man zugrunde legt und ob nun die Mindestanforderung der WHO oder der OECD als Referenz dient, von einem Überangebot an Pflegepersonal kann in Mexiko nicht die Rede sein. Im Gegenteil, das Land ist derzeit nicht in der Lage, den Pflegebedarf angemessen abzudecken. Fátima Masse errechnete einen Mehrbedarf von 730.000 Pflegekräften, um dem von der OECD geforderten Versorgungsstandard zu entsprechen. Bei der aktuellen Wachstumsrate von 4,3 Prozent pro Jahr bräuchte das Land also 17 Jahre, um eine angemessene Versorgung zu erreichen. Vorausgesetzt, der Bedarf ändert sich nicht.
Die Pflegemisere in Mexiko ist im Übrigen kein Geheimnis, außer vielleicht in deutschen Medien. Bereits seit Jahren wird in dem lateinamerikanischen Land die schlechte Situation in der Pflege beklagt: zu wenige Pflegekräfte, schlechte Arbeitsbedingungen, zu geringe gesellschaftliche Anerkennung des Pflegeberufs, unzureichende Bezahlung. Das klingt doch wirklich wie ein Déjà-vu, wie eine Blaupause der deutschen Verhältnisse. Nur, dass die BRD auf einem deutlich höheren Niveau klagen und es sich zudem leisten kann, in Mexiko Pflegekräfte abzuwerben. Dazu braucht es zweifellos eine gehörige Portion Egoismus und Ignoranz. Deutschland lässt jetzt verstärkt seine Pflegefachkräfte im Ausland ausbilden, Brain Drain in Reinkultur.
An dieser Stelle sei noch eine Bemerkung zu Spahns Aussage erlaubt, es gebe in Mexiko zu viele arbeitslose Pflegekräfte, die in Deutschland eine Arbeit finden könnten. In Mexiko sind Werbeanzeigen geschaltet worden, in denen als Voraussetzung für eine Anstellung in der Bundesrepublik neben abgeschlossener Ausbildung und Mindestalter auch ein Arbeitsvertrag innerhalb der letzten zwei Jahre verlangt wird. Man möchte schließlich keine Pflegekräfte ohne Arbeitserfahrung rekrutieren.
In Tepoztlán, der Heimatstadt von Itamar Rojas, wird es in Kürze eine erfahrene Krankenschwester im Rettungsdienst weniger geben. Die Kleinstadt liegt übrigens im Bundesstaat Morelos. Dort kommen auf 1.000 Einwohner 3,6 Pflegende.
———————————————-
Literatur:
100. Pflegekraft aus Mexiko in Deutschland eingetroffen. BA blickt auf anderthalb Jahre erfolgreiche Rekrutierung zurück. (18.9.2019, Presseinfo Nr. 30). https://www.presseportal.de/pm/6776/4378478
Alemania busca enfermeras con sueldos de $70 mil, aquí los requisitos. (23.9.2019). https://politico.mx/minuta-politica/minuta-politica-estados/alemania-busca-enfermeras-con-sueldos-de-70-mil-aqu%C3%AD-los-requisitos/ Letzter Zugriff: 22.2.2020
Alemania contrata a enfermeras mexicanas, con sueldo de hasta 70 mil pesos. (23.9.2019). https://noticieros.televisa.com/ultimas-noticias/alemania-contrata-enfermeros-mexicanos-2019-70-mil-mensuales/ Letzter Zugriff: 22.2.2020
Cano, Deya: México en crisis por escasez de enfermeras. https://www.salud180.com/adultos-mayores/mexico-en-crisis-por-escasez-de-enfermeras Letzter Zugriff: 22.2.2020
Cruz, Laura: Enfermeros en Alemania: explotación o multa. (22.7.2015). https://www.diagonalperiodico.net/global/27197-enfermeros-alemania-explotacion-o-multa.html Letzter Zugriff: 22.2.2020
Deutsche Plattform für Globale Gesundheut (dpgg): Brain-Drain durch grenzüberschreitende Abwerbung von Gesundheitsfachkräften. Deutschlands Beitrag zu einem globalen Gesundheitsskandal. https://www.plattformglobalegesundheit.de/wp-content/uploads/2016/10/dpgg_brain-drain.pdf
Deutscher Pflegerat e.V. (2014): Im Fokus: Migration ausländischer Pflegefachpersonen. Berlin
Deutsche Welle Mexico (21.9.2019): Escasez de enfermeras en México. https://www.dw.com/es/escasez-de-enfermeras-en-m%C3%A9xico/av-50525862 Letzter Zugriff: 22.2.2020
Escasez de enfermeras en México. (21.8.2018) https://www.elpulsolaboral.com.mx/seguridad-social-y-salud/14687/escasez-de-enfermeras-en-mexico Letzter Zugriff: 22.2.2020
Hernández, Gerardo: Sólo el 11 por ciento del personal de enfermería en México tiene una especialidad. El Economista, (27.8.2018). https://www.eleconomista.com.mx/gestion/Solo-el-11-por-ciento-del-personal-de-enfermeria-en-Mexico-tiene-una-especialidad-20180827-0102.html Letzter Zugriff: 22.2.2020
Internationaler Vergleich: Das verdient man in der Pflege. (22.11.2017): https://www.medinside.ch/de/post/internationaler-vergleich-das-verdient-man-in-der-pflege Letzter Zugriff: 22.2.2020
Masse, Fátima: Enfermeras: tan importantes y olvidadas. https://imco.org.mx/temas/enfermeras-tan-importantes-olvidadas/ Letzter Zugriff: 22.2.2020
Mejía, Ximena (12/08/2018) Faltan 255 mil enfermeras en México; escasez de plazas. https://www.excelsior.com.mx/nacional/faltan-255-mil-enfermeras-en-mexico-escasez-de-plazas/1258135 Letzter Zugriff: 22.2.2020
Mexikanische Pflegekräfte. „Wir lassen ja alles hinter uns“. (16.12.2019) https://www.tagesschau.de/ausland/mexiko-pflege-fachkraefte-101.html Letzter Zugriff: 22.2.2020
Rojas, Rodrigo (21.01.2019): ¿A cuánto asciende el déficit de personal de Enfermería en México? https://www.saludiario.com/a-cuanto-asciende-el-deficit-de-personal-de-enfermeria-en-mexico/ Letzter Zugriff: 22.2.2020.
Schwerin: Pflegekräfte aus Mexiko. (3.1.2020). https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Schwerin-Pflegekraefte-aus-Mexiko-,pflegeausbildung110.html Letzter Zugriff: 22.2.2020
Trapero, Luisa (2019): El Ministro de Salud de Alemania viaja hasta México para reclutar personal sanitario. https://es.euronews.com/2019/09/21/urgen-enfermeras-en-alemania Letzter Zugriff: 22.2.2020
WHO (2010): Globaler Verhaltenskodex der WHO für die Internationale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften. (Inoffizielle, von Deutschland, Österreich und der Schweiz genehmigte Übersetzung der englischsprachigen Originalversion.)
————————————————–
Bildquelle: Wikimedia Commons, Paulette636