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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Das Janusgesicht der Modernisierung

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 21 Minuten

Mexiko zwischen ökonomischer Liberalisierung und politischer Demokratisierung

Nach der Wahlentscheidung vom 21. August scheint in Mexiko alles wieder klar und beim Alten zu sein. Der eindeutige Sieg von Zedillo -48,77% der abgegebenen Stimmen – sichert der Regierungspartei PRI nach 65 Jahren ununterbrochener Herrschaft für weitere sechs Jahre die Macht. Trotz der aufgetretenen Fälschungen, Behinderungen und Unregelmäßigkeiten bescheinigen die zahlreichen in- und ausländischen Beobachter den ’94er Wahlen, dass sie die bisher saubersten in der mexikanischen Geschichte waren. Allein Cuauthémoc Cárdenas, der charismatische Präsidentschaftskandidat des linkszentristischen PRO, mit knapp 17% der eigentliche Verlierer, verweigert Zedillo trotzig die Anerkennung des Sieges. Eine Haltung, zu der sich Diego Fernández de Cevallos vom liberalkonservativen PAN, ungeachtet der auch von ihm geteilten Vorbehalte gegenüber den offiziellen Wahlergebnissen doch nicht durchringen konnte.

Demokratisierung durch Wahlen ?

Jedenfalls blieben die von vielen nach den Wahlen erwarteten Massenproteste der Opposition bisher aus. Ist von den „am meisten umkämpften Wahlen der letzen 50 Jahre“ [1], den „wichtigsten in der modernen Geschichte des Landes“ [2] wirklich nicht mehr als nur der schale Geschmack enttäuschter Hoffnung geblieben? Ist das, was sich unter dem Blickwinkel der Prozentverteilung zwischen Regierung und Opposition bestenfalls wie eine Wiederholung der Wahlen von 1988 ausnimmt, als Fort- oder als Rückschritt im langersehnten Demokratisierungsprozess zu werten?

Anlass für einen Vergleich der beiden letzten Wahlen gibt zunächst die Wahlarithmetik. Schon vor sechs Jahren hatte der Präsidentschaftskandidat des PRI nur knapp über 50% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können. Verglichen mit den 48% von diesem Jahr ein kaum ins Gewicht fallendender Unterschied von zwei Prozentpunkten. Aber – und hier beginnen die Unterschiede – damals hatten die in der FDN vereinigte linke Opposition mit offiziellen 31 % für C. Cárdenas einen echten Überraschungserfolg landen können. Der PAN lag mit 17% auf dem dritten Platz. Nicht allein die Umkehrung des Kräfteverhältnisses zwischen links und rechts innerhalb der Opposition markiert den Unterschied von damals und heute. 1988 war das politische System ernsthaft erschüttert worden. Die völlig überraschte Regierung konnte in der Wahlnacht, als sich schon ein Sieg von Cárdenas abzuzeichnen begann, nur noch per Stromausfall des zentralen Wahlcomputers die Notbremse ziehen. Erstmals hatte sich die „perfekteste aller Diktaturen“ (Vargas Llosa 1990 über Mexiko) verwundbar gezeigt. Heute haben die 48% für Zedillo eine deutlich stabilisierende Wirkung für das bestehende System. Wahlfälschungen spielten offensichtlich eine geringere Rolle als vor sechs Jahren. Der Legitimationseffekt lag damit bei den jüngsten Wahlen eindeutig höher als 1988, als Salinas mit dem Stigma des besiegten Gewinners seine Amtszeit beginnen musste. Nicht zuletzt bietet sich diesmal dem PRI in Gestalt des PAN ein Partner zur Herrschaftssicherung an, also eine ganz andere Konstellation, als sie die unversöhnliche Gegnerschaft zwischen Regierung und Linksopposition darstellt. Der PRI hatte mit seiner prononciert unterschiedlichen Haltung gegenüber den beiden Oppositionsparteien die Grundlage für ein mögliche Allianz mit dem PAN gelegt. Während sich der PRD um Wahlsiege in Hochburgen wie Michoacán geprellt sah, genehmigte man dem PAN 1989 erstmals einen Gouverneursposten in einem Gliedstaat, zwei weitere folgten etwas später.

Die entscheidende Differenz zwischen den beiden Wahlgängen liegt also darin, dass 1988 die Wahlen durch die überraschende Stärke der Opposition links vom PRI das bestehende System aufbrachen, erstmals seine Überwindbarkeit zeigten und einen deutlichen Demokratisierungsschub erhoffen ließen, während 1994 die Hoffnung auf Demokratisierung durch Ablösung des PRI von der Regierung für die nächsten sechs Jahre begrub.

Die zunächst sehr allgemeine Frage, ob politische Demokratisierung unter den Bedingungen Mexikos mittels Wahlen durchgesetzt werden kann, muss nach dem 21. August also dahingehend präzisiert werden, ob Demokratisierung nach den Wahlen auch unter Zedillo möglich ist. Hatte 1988 in Oppositionskreisen zunächst die Hoffnung bestanden, den PRI von der Regierung verdrängen zu können, musste sie nach der Stabilisierung der PRI-Herrschaft und den wirtschaftspolitischen Erfolgen von Salinas die Realisierung dieses Ziels auf die nächsten Wahlen 1994 vertagen. Aber erst der zapatistische Aufstand in Chiapas entfachte im Januar den Wind der Veränderung neu. Erst Chiapas nährte wieder die Hoffnung, dass das politische System durch einen Wahlsieg der Opposition demokratisiert werden könnte. Aber auch diese Hoffnung erwies sich zumindest als verfrüht.

Nachdem der PRI offensichtlich gestärkt aus den letzten Wahlen hervorgegangen ist und der PAN seine Rolle als Juniorpartner des PRI zu spielen bereit ist, steht die linke Opposition vor der Entscheidung, entweder dem PRI das weitere Schicksal der Demokratisierung zu überlassen oder es nunmehr selbst in die Hände zu nehmen. Letztlich geht es damit um die Entscheidung über Chancen, Richtung, Tempo und Ergebnisse der politischen Modernisierung in Mexiko: entweder selektive und von oben kontrollierte Reformen, die einen modernisierten Autoritarismus zum Ziel haben oder wirkliche Demokratisierung des politischen Systems unter aktiver Teilnahme der Regierten. Auch wenn die Zukunft der Demokratie in Mexiko noch im Schatten des „ancien regime“ liegt, zeichnen sich doch ihre Konturen im Ringen zwischen den wichtigsten politischen Akteuren schon ab.

Salinastroika ohne PRI-nost

Bereits vor dem 21. August schieden sich die Geister an der Frage, ob der Sturz des PRI Voraussetzung für die Demokratisierung sei. Jetzt, nachdem die Regierungsfrage zugunsten des PRI entschieden ist, hat sie noch an Brisanz gewonnen. Je nachdem, wie hoch oder niedrig die Reform- und Demokratiefähigkeit der ewigen Regierungspartei und ihres Präsidentschaftskandidaten veranschlagt werden, sieht man in ihnen Protagonisten oder Gegner einer künftigen Demokratisierung. Wenn klar ist, dass man in Sachen Demokratie nicht an Zedillo und seiner Partei vorbeikommt, dann gilt auch der Umkehrschluss: PRI, Regierung und Präsident können sich nun nicht mehr an diesem Thema vorbeimogeln. Sie müssen Farbe bekennen: für oder gegen Demokratie! Der bis Januar 1994 gültige und erfolgreiche Kurs des amtierenden Präsidenten Salinas, ökonomische Reformen als Substitut für politische Demokratisierung anzubieten, ist unter den neuen Bedingungen nicht mehr durchzuhalten. „Salinastroika ohne PRI-nost“, das ist vorbei. Diese spezifisch mexikanische „Reform“-Variante, ökonomische Liberalisierung ohne ernsthafte politische Reformen durchsetzen zu wollen, ist in Chiapas von den aufständischen Zapatisten beerdigt worden. Das ist auch Zedillo klar. Unklar bleibt auch nach den Wahlen, wie weit die unumgänglich gewordenen Reformen des politischen Systems gehen sollen. Zedillo muss das heiße Eisen, das ihm Salinas als ungewolltes Erbe hinterlassen hat, anfassen, ohne sich dabei die Finger zu verbrennen. Wie heiß das Eisen inzwischen auch für den engeren Führungskreis der PRI-Reformer inzwischen geworden ist, das zeigen nicht zuletzt die Attentate auf Luis D. Colosio [3], der ursprünglich von Salinas zum Nachfolger auserkoren worden war, und Francisco Ruiz Massieu, Generalsekretär des PRI und letzter Salinas-Vertrauter in der Führung der Regierungspartei. Bis heute wollen die Gerüchte nicht verstummen, die den „Dinosauriern“, der Fraktion der Betonköpfe im PRI, die Verantwortung für diese politischen Morde zuweisen. Seit der Ermordung von Obregón 1928, der sich damals erneut zum Präsidenten wählen ließ, hat keine Gewalttat das politische Leben des Landes mehr erschüttert. Im Unterschied zu Zedillo hatte sich Colosio nach dem Januar-Aufstand in Chiapas deutlich für politische Reformen – auch und gerade innerhalb des PRI selbst – ausgesprochen. Die Vermutung, dass er sich damit zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte und deshalb sterben musste, ist nicht von der Hand zu weisen.

Ungeachtet aller verbalen Versprechen können auch die PRI-Reformer nur dann ihre Demokratiefähigkeit glaubwürdig nachweisen, wenn das erneuerte politische System auch tatsächlich einen Machtwechsel mit demokratischen Mitteln zulässt. Dies ist zugleich der Lackmus-Test der künftigen mexikanischen Demokratie. Erst wenn diese Probe bestanden ist, kann der Übergang vom Autoritarismus zur Demokratie als vollzogen angesehen werden.

Dabei geht es weniger um die Abwahl des PRI, als vielmehr um eine generelle Neubestimmung des Verhältnisses von Präsident, Partei und Staat. Im Zuge einer echten Demokratisierung stehen die beiden Hauptsäulen des gegenwärtigen Systems zur Disposition: die nur zeitlich begrenzte Allmacht des Präsidenten und die Symbiose zwischen Staatsapparat und PRI. Die in dieser Hinsicht auffällige Ähnlichkeit des politischen Systems Mexikos mit denen der real-sozialistischen Länder Osteuropas täuscht jedoch in zumindest einem Punkt. Waren dort der Parteiapparat das machtpolitische Kernstück und die Parteioberen das Entscheidungszentrum, kommt dem PRI im System der Machterhaltung eine zwar wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle zu. In Osteuropa stand der Staatsapparat im Dienst der Partei, während das Verhältnis in Mexiko genau umgekehrt ist. Die Funktion des PRI, der nunmehr dienstältesten Staatspartei der Welt, ist am ehesten mit der eines Transmissionsriemens vergleichbar. Im Dienst der zentralen Exekutive, also des Präsidenten, übt die Staatspartei die Kontrolle über einen ganzen Komplex korporativer Organisationen – Gewerkschaften, Bauernorganisationen, Verbände, Massenorganisationen – aus und bindet sie an den Staat. Für dieses System des „korporativen Autoritarismus“ organisiert der PRI praktisch den notwendigen Zusammenhalt.

Die der Exekutive untergeordnete Stellung der Staatspartei illustriert wohl am besten die Position des PRI-Vorsitzenden innerhalb der „familia revolucionaria“, der aus der Revolution hervorgegangenen herrschenden politischen Elite des Landes. Nach dem amtierenden Präsidenten, nach einem inneren Zirkel von Ex-Präsidenten, wichtigen Ministern und Geldmagnaten und nach einem weiteren Kreis von Staatsfunktionären steht er zusammen mit den Gouverneuren der wichtigsten Bundesstaaten lediglich auf der vierten Stufe der Hierarchie. Wie ein normaler Minister kann er vom Präsidenten beliebig ein- oder abgesetzt werden.

Über der symbiotischen Verklammerung von Staat und Partei thront an der Spitze der Machtpyramide der Präsident, der sämtliche Macht in seinen Händen konzentriert und dem allein das ‚Recht auf Wiederwahl verwehrt bleibt. Ohne weiteres kann man Mexiko als eine absolute Sechs-Jahres-Monarchie bezeichnen. Auch seinen Nachfolger bestimmt der amtierende Präsident per „dedazo“ – Fingerzeig – selbst.

Der für die politische Kultur Mexikos typische Klientelismus zeigt sich auch auf der obersten Etage der Macht. Jeder Präsident hat seine eigene, ihm persönlich ergebene Gefolgschaft, aus deren Kreis er für sechs Jahre die wichtigsten Staatsämter besetzt. Wechselt nach Ablauf der regulären Amtszeit die Präsidentschaft, so folgt dem scheidenden Präsidenten seine Anhängerschar zu neuen Pfründen und der neue Staatschef bedient seinerseits die eigene „camarilla“ mit Staatsposten. In diesem komplizierten Wechselspiel hat der jeweilige Amtsinhaber für einen gewissen Ausgleich zwischen den „camarillas“ der Ex-Präsidenten zu sorgen, um Unruhe und Spannungen innerhalb der „familia revolucionaria“ zu vermeiden.

Als im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 1982 das damalige Entwicklungsmodell der neoliberalen Weltmarktöffnung weichen musste und sich das traditionelle System des Korporativmus nicht mehr aufrechterhalten ließ, brachen jedoch auch Widersprüche in der bis dahin weitgehend homogenen politischen Elite auf. Die Weltmarktöffnung erforderte den Übergang vom alten Modell des Korporativismus zu einem neuen Modell der politischen Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die enormen sozialen Kosten des neoliberalen Kurswechsels brachten das alte Gebäude des Korporativmus zum Einsturz. Verlierer innerhalb der herrschenden Elite waren die „Dinosaurier“, die politischen Funktionäre des korporativistischen Modells. Ihre Gegenspieler, die Modernisierer um Salinas waren dennoch gezwungen, die bröckelnden Strukturen des alten Apparates zu stützen, da ihnen kein effektiverer Mechanismus zur Kontrolle über die unteren sozialen Gruppen zur Verfügung stand. Eine Demokratisierung wollten – und konnten – sie jetzt (noch) nicht riskieren. Die ökonomische Liberalisierung hatte Vorrang vor der politischen Demokratisierung. Ziel der PRI-Reformer unter Salinas war der wirtschaftliche Anschluss an die Industriestaaten der Ersten Welt. Mit dem Eintritt in die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) und in den Club der Industrieländer OECD schien Salinas am Ziel seiner ehrgeizigen Träume.

Chiapas – die bitteren Früchte der Modernisierung

Der bewaffnete Aufstand in Chiapas legte jedoch die gewaltigen strukturelle Deformationen, Defizite und Verwerfungen des rasanten Modernisierungskurses bloß. Erst die Gewehre der Zapatisten gaben den Verlierern der Modernisierung ihre Stimme zurück. Erst jetzt wurde den neoliberalen Modernisierern, die in der glänzenden Fassade der Bankhäuser verzückt nur ihr eigenes Spiegelbild wahrgenommen hatten, einer anderen Realität gewahr. Die Modernisierung Mexikos enthüllte ihr doppeltes Gesicht: eines schaut nach Norden, auf den Wohlstand und den Reichtum der Ersten Welt, während das Gesicht der Armut, des Ausgestoßenseins, der Ungerechtigkeit weiterhin dem Süden zugewandt ist. Es war der Sturm der Veränderung von unten, aus dem Süden, der endlich den Schleier von der hässlichen Hälfte des Janusgesichts der Modernisierung herunterriss. Aber kaum hatte sich die erste Überraschung gelegt, meldeten sich Stimmen zu Wort, die diese Hässlichkeit mit dem Mangel an Modernität und dem Zuviel an Traditionellem, wie es nur im indianischen Süden Mexikos zu finden sei, erneut zu verschleiern versuchten. Für sie – so Nobelpreisträger Octavio Paz – „… ist der Fall Chiapas singulär“ [4]. Im Gegenzug betonen Intellektuelle wie Carlos Fuentes die nationale – und internationale – Tragweite der Ereignisse von Chiapas. Schnell polarisierten sich beim Versuch, die Ereignisse nach dem Neujahrstag zu deuten, die Meinungen. Kontrovers prallen seitdem die Standpunkte über die Bedeutung von Chiapas aufeinander:

– Erbe der Vergangenheit oder Menetekel für die Zukunft ?
– Ergebnis der Singularität lokaler Missstände oder Ausdruck des Universalismus der Forderung nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit?
– Verweis auf den Regionalismus einer indigenen Minderheit oder Teil des allgemeinen Streben der Mehrheit der Mexikaner nach nationaler Einheit in ethnischer, kultureller und regionaler Vielfalt und Selbstbestimmung?

Hält man sich an die Fakten, so kommt man nicht umhin festzustellen, dass die kapitalistische Moderne im bisher vernachlässigten Süden besonders gründlich nachvollzogen wird. Zwar sind im Bundesstaat Chiapas mit 60% überdurchschnittlich viele Arbeitskräfte im der Landwirtschaft beschäftigt (der nationale Durchschnitt beträgt nur 22%), aber dafür hatte die Wirtschaft in den 70er Jahren ein auch für Mexiko ungewöhnlich hohes Wirtschaftswachstum von 10,5% pro Jahr aufzuweisen. Im Ergebnis dieser Entwicklung konnte Chiapas seinen Anteil am Agrarexport des Landes von 7,7 (1970) auf 12,4% (1980) steigern. Insbesonders die Viehzucht erwies sich als ein ideales Feld beschleunigter Kapitalakkumulation. Von 1970 bis 1983 verdoppelte sich die Stückzahl der Rinder auf über 4 Millionen. Die Menge des vermarkteten Fleisches wuchs von 1982-87 um 400%.

Soziale Kennziffern für Chiapas im Vergleich zu den gesamtnationalen Werten

1. Haushalte ohne Wasser und Sanitärversorgung
Chiapas: 43 % Mexiko: 21 %

2. Haushalte ohne Elektrizität
Chiapas: 35 % Mexiko: 13 %

3. Erwachsene ohne Primarschulabschluss
Chiapas: 62 % Mexiko: 13 %

4. Erwachsene Analphabeten
Chiapas: 30 % Mexiko: 12 %

Die Kehrseite dieses Prozesses war die Konzentration des wirtschaftlich attraktiven Bodens in den Händen der Viehbarone und die Zerstörung der Lebensgrundlagen großer Teile der Landbevölkerung. Und das, obwohl aufgrund der Proteste der Bauern 1983-1988 mehr Land verteilt werden musste als in den 30 Jahre zuvor. Aufgrund ihrer beherrschenden Stellung war es den großen Herdenbesitzern ein leichtes durchzusetzen, dass 1988 offiziell 70% der Viehweiden von der „Landreform“ freigestellt wurden. Über 100.000 Bauern blieben weiter ohne eigenen Grund und Boden. Das Angebot der Hauptnahrungsmittel der Bevölkerung – Mais und Bohnen – verringerte sich im gleichen Zeitraum (1982-87) um jeweils ein Fünftel.

Gemessen an seiner Größe (3,2 Millionen Einwohner; 74.211 Quadratkilometer) verfügt Chiapas über erstauliche Reichtümer und Ressourcen, von denen das ganze Land profitiert. Hier wird die Hälfte des mexikanischen Kaffees geerntet und ein Drittel des Erdöls gefördert. Auch ein Drittel des aus Wasserkraft gewonnenen Stroms kommt aus Chiapas. Zugleich liegt der südliche Bundesstaat in wichtigen sozialen Kennziffern weit unter dem nationalen Durchschnitt. Vier Fünftel der in der Landwirtschaft beschäftigten Chiapaneken verdienen weniger als umgerechnet 80 Dollar im Monat.

Die sozialen Spannungen und Widersprüche, aus denen der bewaffnete Aufstand der Zapatisten erwuchs, sind also kaum auf ein Zuwenig an Modernisierung zurückzuführen. Vielmehr ist es die Art und Weise, mit der die Modernisierung sich in Chiapas ihren Erfolg verschafft hat, die die indianische Bevölkerung zur Rebellion treibt. Wenn Modernisierung bedeutet, dass ganze Dorfgemeinschaften ihr Land und damit ihre Existenzgrundlage verlieren und ihre Mitglieder entweder in den Urwald oder die kulturelle Entwurzelung der städtischen Elendsviertel getrieben werden, wenn Modernisierung nur wenige Gewinner und viele Verlierer kennt, wenn Modernisierung die Bevölkerung eines reichen Landstrichs ärmer macht, wenn bisherige Ausbeutung angesichts der drohenden Marginalisierung und des Versinkens in der völligen Bedeutungslosigkeit noch wie eine Wohltat erscheint, dann kann die Antwort der so Modernisierten nur lauten wie in Chiapas. Und dass Chiapas keine Ausnahme ist, zeigen die Hinweise auf die Vorbereitung bewaffneter Aktionen in Bundesstaaten wie Oaxaca, Guerrero und Chihuahua. Was für Chiapas im Kleinen, gilt für Mexiko im Großen: Ungeachtetet aller makroökonomischen Erfolge offenbart die gegenwärtige kapitalistische Modernisierung – im Unterschied zum Wirtschaftsboom der „goldenen Sechziger“ – Eigenschaften und Wirkungen, die polarisieren statt ausgleichen, ausgrenzen statt einbinden, spalten statt zusammenhalten.

Während z.B. das Realeinkommen in den letzen beiden Jahren um 40% gesunken ist, hat sich die Zahl der mexikanischen Dollar-Milliardäre in der Regierungszeit von Salinas von 2 auf 24 erhöht, eine Steigerung, die weltweit ihrergleichen sucht. Mit dieser Explosion des Reichtums, konzentriert in den Händen von zwei Dutzend Geldmagnaten, vollzog das Dritte-Welt-Land Mexiko eine Entwicklung nach, die einige Jahre zuvor beim nördlichen Nachbarn USA unter dem Banner des Neoliberalismus begonnen hatte. Dort hatte sich die Zahl der Milliardäre innerhalb von sechs Jahren von 13 (1982) auf 51 (1988) vervierfacht [5]. Wirtschaftswachstum und makroökonomische Erfolge werden mit hohen sozialen Kosten und der Spaltung des Gesellschaft bezahlt.

Der selektive, polarisierende und ausgrenzende Charakter der Modernisierung zeigt sich nicht nur in der zunehmenden sozialen Kluft zwischen Arm und Reich, sondern auch in der Gefahr der Spaltung des Landes in einen industrialisierten Norden und einen agrarisch geprägten Süden:

„Heute… läuft Mexiko Gefahr, in zwei Nationen zu zerfallen. … Mexiko ist heute eine Nation, deren Wirtschaft Platz dreizehn in der Welt belegt,…. Das Drama von Chiapas jedoch wirft einen langen, unheilvollen Schatten auf die Zukunft Mexikos. Die Steine von Chiapas sprechen noch immer, und sie erzählen uns von der drohenden Teilung des Landes. Der Norden, relativ modern, -wohlhabend und in die Weltwirtschaft integriert, könnte für immer den Süden hinter sich lassen – heruntergekommen, unterdrückt, zurückgeblieben. Chiapas ist ein Signal: Der Süden, die Armen Mexikos müssen teilhaben an der Dynamik eines Landes, das zurecht stolz ist auf die Fortschritte seit Beginn seiner Revolution 1910. Die Brücke zwischen diesen beiden Mexikos ist die Demokratie. Das Drama von Chiapas begreifen heißt, die Demokratie in ihrer konkretesten Form, im Dorf, zuzulassen und dafür zu sorgen, dass der soziale Fortschritt -weder im Sande -wirtschaftlicher Unterdrückung versickert noch von einer Flut politischer Unterdrückung hinweggespült wird. Dann wird der Reichtum von Chiapas allmählich den vielen und nicht allein einigen wenigen nützen…. Möge Chiapas sich in Mexiko wiederfinden, aber auch Mexiko in Chiapas. Die Lektion von Chiapas heißt: Es gibt keine wahre Entwicklung ohne Demokratie. “ (C. Fuentes) [6]

Von Chiapas nach Mexiko – Revolution und Demokratie Hand in Hand?

Chiapas symbolisiert jedoch nicht nur die Gefahr des Spaltung Mexikos, es weist auch Wege, wie diese Gefahr gebannt werden kann und wo sich Gegenkräfte regen. Die Bedeutung von Chiapas reicht in dreifacher Hinsicht weit über die einer Warnung vor den destruktiven Kräften des neoliberalen Modernisierungstyps hinaus:

1. Chiapas – Rückbesinnung auf die Ideale der Revolution von 1910. Nicht nur, dass deutlich geworden ist, dass diese Revolution in Chiapas eigentlich noch gar nicht stattgefunden hat. Gerade mit dem bewussten Rückgriff der Aufständischen auf Zapata, den Revolutionsführer des Südens und Initiator der Agrarreformbewegung der Revolutionszeit, klagen die Zapatisten die uneingelösten Versprechen der Revolution ein: politische Demokratie, soziale Gleichheit und nationale Unabhängigkeit. Indem sie diese drei zentralen Forderungen als untrennbar miteinander verbunden und nur in dieser Einheit realisierbar ansehen, gehen sie selbst über das spätrevölutionäre Reformwerk von Lázaro Cárdenas hinaus. Während dessen Regierungszeit 1934-40 waren unter der Losung „Soziale Gerechtigkeit und nationale Unabhängigkeit“ 17 Mio. ha Land an die Bauern verteilt und die ausländischen Erdölgesellschaften nationalisiert worden. Noch heute wird er als Vollender der Revolution verehrt. Zugleich aber war er der wichtigste Architekt des autoritären politischen Systems. Unter seiner Regie erhielten der PRI seine heutige Gestalt und der mexikanische „Presidencialismo“ seinen letzten Schliff. Faktisch wirkten die Sozialreformen der Cárdenas-Zeit als Ersatz für die fehlende Demokratie. Nachdem die mexikanische Revolution bereits mehrfach für tot erklärt worden war [7], erwacht sie in den Forderungen der Zapatisten wieder zu neuem Leben.

2. Chiapas – Focus gesamtnationaler Probleme und Widersprüche. Die wichtigsten Forderungen der Zapatisten lesen sich wie eine Agenda der gegenwärtigen Hauptprobleme Mexikos: freie Wahlen und Demokratie, Wiederaufnahme der Agrarreform zugunsten der landlosen und -armen Campesinos, ein neues Entwicklungsmodell unter Einbeziehung aller sozialen und ethnischen Gruppen und Neuverhandlung des Freihandelsabkommens NAFTA, Wahrung der Menschenrechte. Auch wenn naturgemäß konkrete Forderungen zur Verbesserung der Lage der indianischen Bevölkerung von Chiapas einen hohen Stellenwert im Verhandlungkatalog der Zapatisten hatten – immerhin 32 von 34 verhandelten Punkten – , stand doch stets das Bemühen der Aufständischen im Vordergrund, die regionalen Probleme als Teil der nationalen zu behandeln. Interessanterweise lief die Strategie der Regierung genau darauf hinaus, die regionale Spezifik in den Vordergrund zu rücken und von den gesamtnationalen Forderungen abzukoppeln. Verbesserung der Infrastruktur, zweisprachige Ausbildung, politische, wirtschaftliche und kulturelle Selbstbestimmung für die indianischen Dorfgemeinschaften, politische Reformen der Verfassung und des Wahlgesetzes von Chiapas schienen auf einmal für die mexikanische Bundesregierung kein Problem mehr zu sein. „Nur“ bei den beiden Verhandlungspunkten von nationaler Dimension lehnte sie alle weiteren Gespräche rundweg ab: freie und demokratische Wahlen in ganz Mexiko und der Rücktritt der Regierung Salinas standen nicht zur Debatte. Aber die Strategie der „Regionalisierung“ des Konflikts ging nicht auf. In wochenlangen Diskussionen und Abstimmungen entschieden die Aufständischen im Juni mit einer Mehrheit von 97% gegen die Annahme der 32 Punkte des Regierungsangebots und zugleich für die Einhaltung des Waffenstillstands bis zu den Augustwahlen. Die Zapatisten machten damit deutlich, dass für sie die gesamtnationalen Forderungen genauso wichtig sind wie die spezifisch regionalen. Carlos Fuentes brachte diesen Zusammenhang in seiner Antwort an Subcomandante Marcos auf folgende Formel: „Demokratie in Chiapas, damit es Demokratie in Mexiko geben kann, und Demokratie in Mexiko, damit es Demokratie in Chiapas geben kann.“ [8]. Indem die Zapatisten die regionalen Konflikte mit den nationalen Probleme verbunden haben, sind sie zur Hoffnung und zum Bezugspunkt der gesamten linken Opposition Mexikos geworden.

3. Chiapas – erste Revolution des 21. Jahrhunderts? Überrascht waren Öffentlichkeit wie Experten gleichermaßen nicht nur von der Existenz und dem plötzlichen Auftauchen einer Guerrilla im politisch stabilsten Land Lateinamerikas, sondern besonders auch von der Neuartigkeit des politischen Ansatzes der Zapatisten. Eine Neuartigkeit, die Fuentes veranlagte, von der „ersten Revolution des 21. Jahrhunderts“ zu sprechen. Auch Ernesto Cardenal sieht die zapatistische Erhebung nach der unvollendeten Revolution von 1910 in den Rang einer zweiten Revolution gerückt [9] . Beschreibt „Revolution“ vor allem die Tragweite der zapatistischen Bewegung im weiteren Sinne, so zielt deren Charakterisierung als „bewaffneter Reformismus“ eher auf Strategie und Selbstverständnis der Zapatisten im engeren Sinne (einer politischen Kraft). So beruft sich der EZLN bei seinen politischen Forderungen ausdrücklich auf die geltende Revolutionsverfassung von 1917; und in der für sie sehr wichtigen Agrarfrage fordern die Zapatisten „lediglich“ die Wiederherstellung des Artikels 27 der Verfassung, der im Zuge der Beitrittsverhandlungen zu NAFTA 1992 bis zur Unkenntlichkeit „liberalisiert“ worden war [10]. Dieser „reformistische“ Bezug ist insofern zugleich revolutionär, als das es sich um eine Revolutionsverfassung, handelt, deren Verwirklichung größtenteils noch aussteht. Den Zapatisten geht es mit ihrer Reformstrategie darum, die „institutionalisierte Revolution“ aus ihrer Versteinerung zu befreien und wieder zum Leben zu erwecken.

Andererseits haben die Zapatisten vom traditionellen Revolutionsverständnis in mehrfacher Hinsicht Abschied genommen. Für sie ist die Machteroberung durch eine politische Avantgarde nicht mehr zentrales Anliegen. Unter ausdrücklichem Verzicht auf jedweden Avantgarde-Anspruch sehen sie ihre Hauptaufgabe darin, die Zivilgesellschaft zu stärken, freie und unverfälschte Wahlen zu garantieren und den Demokratisierungsprozess voranzutreiben. Die Machtfrage soll vom mexikanischen Volk selbst gestellt und beantwortet werden. An Wahlen will sich der EZLN nicht beteiligen, wohl aber alle Mittel – auch bewaffnete – einsetzen, damit sie frei und fair ablaufen. Auch sind sich die Zapatisten bewusst, dass Wahlen allein noch keine Demokratie sind. Wie diese Strategie wirksam werden kann, zeigen die Ereignisse in Chiapas selbst. Dort waren nach dem Waffenstillstand zwischen Zapatisten und Regierung zahlreiche neue Menschenrechts-, Bauern-, Indigena- und andere Organisationen der Zivilgesellschaft entstanden; bereits im März waren ein Drittel aller Bürgermeister abgesetzt worden und in mehr als 300 Fällen hatten indianische Bauern Latifundien besetzt.

Ebenso wie die indianische Agrarbewegung unter Zapata am Beginn unseres Jahrhundert die Revolution vorangetrieben und den Grundstein für ihre Langzeitwirkung gelegt hatte, sind es heute – am Ende dieses Jahrhunderts – wieder die indigenas des mexikanischen Südens, die sich mit ihrem antirassistischen Universalismus an alle Mexikaner wenden und dem allgemeinen Streben nach Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit den notwendigen Impuls geben. Mit den Zapatisten ist der Kern einer neuen politischen Kraft entstanden, die dem neoliberalen Mainstream erfolgreich den Kampf angesagt hat und zugleich über den tradierten Linkspopulismus des Neo-Cardenismus hinausweist. Ihr wird die Aufgabe zufallen, die Demokratisierung von unten voranzutreiben und die Blockade- und Verhinderungsstrategie des PRI zu durchkreuzen. Nachdem endgültig klargeworden ist, dass über Wahlen die notwendigen Reformen nicht durchzusetzen sind, besteht die einzige Hoffnung darin, dass der Impuls der Veränderung, der von den Zapatisten ausgeht, von den Organisationen der Zivilgesellschaft aufgenommen und im Rahmen einer umfassenden politischen Mobilisierung der Bevölkerung tatsächlich in eine breite Demokratiebewegung umgewandelt wird. Die Konstituierung der Convención Nacional Democrática Anfang August 1994 und ihre inzwischen entwickelten Aktivitäten weisen genau in diese Richtung [11]. Bis zu den nächsten Wahlen im Jahr 2000 stehen Mexiko jedenfalls noch unruhige Zeiten bevor.

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[1] El Pais, 16. Aug. 1994
[2] Ebenda, 21. Juli 1994
[3] Luis Donaldo Colosio; enger Vertrauter des Präsidenten Salinas (1988-94); in dieser Zeit von 1988 bis 1992 Vorsitzender des PRI; am 30. November 1993 von Salinas als sein Amtsnachfolger per dedazo (Fingerzeig) auserkoren; am 23. März 1994 während einer Wahlveranstaltung in Tijuana erschossen.
[4] Ebenda, 7. Jan. 1994
[5] Kevin Phillips, The Politcs of Rich and Poor, S. 239
[6] Die Zeit, Nr. 3, 14. Jan. 1994
[7] Vgl: Meyer, L.: La segunda muerte de la Revolución Mexicana, 1. Aufl. Mexico 1992.
[8] TAZ, 11. Juli 1994
[9] ANN, Nr. 298, 15. Feb. 1994
[10] Bis 1992 garantierte Art. 27 der mexikanischen Verfassung die Unverkäuflichkeit des ejido-Landes, das im Rahmen der Agrarreform zumeist an Kleinbauern vergeben wurde. Der Wegfall dieser Garantie begünstigt in- und ausländische Grund- und Kapitaleigentümer und läuft auf die endgültige Zerstörung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft hinaus.
[11] Vgl. Lexikon

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