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Bolivien: Eine politische Achterbahnfahrt ohne absehbares Ende?

Florian Quitzsch | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Die derzeitige Situation in Bolivien präsentiert sich als Achterbahnfahrt mit ungewissem Halt. Man könnte auch sagen: vom strukturellen zum katastrophalen Patt und wieder zurück. Wollten die Konfliktparteien Regierung und „Demokratischer Nationaler Rat“ (CONALDE) bis vor kurzem die Situation noch durch einen „nationalen Pakt“ lösen, so wurde bei den strittigen Fragen bis letzte Woche (6.10.2008) keine Einigung erzielt. Die Verhandlungen scheiterten (bisher) vor allem an der mangelnden Kompromissbereitschaft der im CONALDE versammelten Präfekten der nach Autonomie strebenden Tieflanddepartements. Diese hatten möglicherweise kalte Füße bekommen, da die Regierung nach der Festnahme des Präfekten von Pando, Leopoldo Fernández, weitere an Unruhen oder Ermordungen beteiligte Personen verhaften ließ. Die Verhandlungen wurden sofort an den Kongress zurückverwiesen, wo sie aufgrund der dortigen Verhältnisse auch nur auf die lange Bank geschoben sind. Nach Meinung der meisten Regierungsmitglieder sowie Vertretern der sozialen Bewegungen soll dort nur über das Autonomiekapitel der neuen Verfassung gerungen werden – aber nicht mehr.

Die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition hatten nach bürgerkriegsähnlichen Zuständen Anfang September am 18. September in Cochabamba unter Beobachtung und Vermittlung von Vertretern der Vereinten Nationen, der katholischen Kirche, der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAE bzw. OAS) begonnen. Einmal soweit gekommen, stellt sich die Frage, ob die Verhandlungen von Seiten der Opposition nur aus taktischen Gründen (Hinhaltung) und aufgrund des Druckes aus dem Ausland mitgetragen wurden. Was die aus verschiedenen Lagern bestehenden Regierungsgegner wirklich wollen, ist aufgrund unausgereifter bzw. unterschiedlicher Lösungsvorschläge weiterhin nicht ganz klar. Sie wissen anscheinend nur was sie nicht wollen. Die Kritikpunkte der Opposition betreffen vor allem:

  1. die demokratische Institutionalisierung bzw. Verfasstheit des Staates (insbes. die Eliminierung des republikanischen Konzeptes, die Exklusion von Minderheiten in der Legislative, eine Aufgabe der Unabhängigkeit der Gewalten sowie eine “Verfälschung” (desnaturalización) der sozialen Kontrolle und der Wiederwahl des Präsidenten);
  2. die Verletzung der Gleichheit und eine Diskriminierung der Bürger;
  3. die Justiz (eine Verzerrung (distorsión) der staatlichen Justiz (justicia comunitaria), die Politisierung der Justiz mittels Wahlen von und/oder Referenden über Richter sowie die “Verfälschung” (desnaturalización) der neuen Verfassung (CPE) durch die Festschreibung von Landesverrat als Delikt);
  4. die Negierung der Autonomien (im Bezug darauf, dass die Departements keine Gesetze erlassen können);
  5. die konstitutionelle Instabilität;
  6. die Beschränkung von Privatbesitz (vorgesehene Enteignung unproduktiv und/oder spekulativ genutzter Landflächen über 5.000 bzw. 10.000 Hektar), und
  7. das Fehlen eines “régimen agropecuario” (im Sinne der Befürchtung der Agrarbesitzer bei “willkürlichen” Enteignungen von Ländereien nicht mehr produktiv arbeiten zu können).

Über den Sinn oder Unsinn der aufgeführten Punkte lässt sich – je nach ideologischem Standpunkt, aber auch aus realen Gründen (siehe weiter unten) – trefflich streiten; nach Meinung des Autors sind die meisten von ihnen – selbst wenn sie, wie im Falle einer potentiellen Machtkonzentration und einer damit einhergehenden Verwässerung der Gewaltenteilung, nicht völlig unsachlich sind – nur vorgeschobene Gründe, um zumindest den sozioökonomischen Status quo der Agrarindustriellen aufrechtzuerhalten.

In der Autonomiefrage schien man eigentlich schon ein ganzes Stück weiter gekommen zu sein. Diese ist äußerst kompliziert, da sie mehrere Ebenen – Departements, Regionen (Provinzen), Kommunen und indigene Territorien – betrifft und die Zuständigkeiten bisher nicht genau geklärt waren. In diesem Punkt konnte man sich an einem der Verhandlungstische so ziemlich einigen; die Abgrenzung legislativer, exekutiver und judikativer Kompetenzen zwischen dem bolivianischen Staat und den genannten Einheiten wurden ebenfalls weitestgehend geklärt. Eine ausschließliche Zuständigkeit des Staates wurde für die Streitkräfte, die Polizei und die Zentralbank erklärt, während es gemeinsame Kompetenzen (Staat/Departements/Kommunen) auf dem Gebiet der Bodenschätze und der Telekommunikation geben sollte. Als ausschließliche Kompetenzen auf Departements-Ebene wurden 30 Punkte anerkannt, 20 weitere in gemeinsamer Zuständigkeit mit dem Staat.

Auch bei der Verteilung der Einnahmen aus der Förderung von Kohlenwasserstoffen (vor allem Erdgas) – unter Berücksichtigung der Finanzierung der Altersrente für Bolivianer über 60 Jahre („renta dignidad“) – hatte sich die Regierung zumindest für das laufende Haushaltsjahr kompromissbereit gezeigt. So sollte der nach der Auszahlung der Rente verbleibende Betrag wieder an die Präfekturen zurückgezahlt werden. Auf der anderen Seite kam eine von der Opposition geforderte Revision des Rentengesetzes für die Regierung nicht in Frage. Die „Unstimmigkeiten“ sind im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass im Zuge der Rentenfinanzierung die vom Staat verteilten direkten Steuereinnahmen aus der Kohlenwasserstoff-Gewinnung (IDH) für die Präfekturen um 30 Prozent gekürzt worden waren. Die Opposition hatte in den Verhandlungen gefordert, die Verordnung über die IDH dahingehend zu ändern, dass für die Präfekturen ein prozentual höherer Anteil festgeschrieben wird – zu Lasten des kommunalen Anteils.

Nachdem die Verhandlungsergebnisse nicht in einem nationalen Abkommen besiegelt wurden, ist es nun am Kongress, den modifizierten Verfassungstext zu verabschieden. Auch wenn die wichtige Senatsmehrheit bei der Oppositionspartei PODEMOS liegt, so haben doch einige Mitglieder (z.B. Senator Carlos Böhrt) bereits signalisiert, sich einer Zustimmung für den modifizierten Text nicht völlig verschließen zu wollen. Der extremen rechten Opposition auf der anderen Seite gehen die Autonomieregelungen nicht weit genug. Sie wollen, wenn auch keinen Separatismus, eine eher föderale Regelung mit mehr Einfluss der Departements,  und im Falle von Tarija, exklusiveren Zugriff auf die Einnahmen aus der Erdgasförderung. Zuletzt wurde im CONALDE für den Fall, dass der Kongress positiv über das Verfassungsreferendum entscheidet, auch wieder über zivilen Widerstand gesprochen. Damit wäre man aber wieder in der gleichen Situation von Anfang September und weitere Unruhen scheinen vorprogrammiert. Die Achterbahnfahrt ginge somit weiter. In leichter Abwandlung des Zitates von Alexander Kluge kann man sagen: „An einem bestimmten Punkt der Erstarrung angekommen, ist es schon gleich, von wem sie ausgegangen ist: Sie soll nur aufhören.“ Das aber bedeutet das Zustandekommen einer – aus Sicht des Autors eher unwahrscheinlichen – einvernehmlichen und friedlichen Lösung oder die völlige Konfrontation. Zwischen beiden Polen liegt nur der Status quo des strukturellen Pattes – jenes ist allerdings besser als ein Bürgerkrieg, auf den das Pando-Massaker vom 11. September dann „nur ein Vorgeschmack“ gewesen sein könnte.

Das Land wird über kurz oder lang wohl nicht zur Ruhe kommen. Die sozialen Bewegungen, vereint im Bündnis „Nationale Koordination für den Wandel“ (CONALCAM), sind langsam mit ihrer Geduld am Ende. Am 13. Oktober 2008 starteten sie einen Marsch von Caracollo nahe Oruro nach La Paz, um den Kongress zu einer Abstimmung über die Ansetzung des Verfassungsreferendums und zu einem Volksentscheid über die Größe zu enteignender unproduktiver Flächen zu „bewegen“. Die Ankunft ist für den 20. Oktober geplant. Fidel Surco, CONALCAM-Führer, sieht den Volkswillen an den Wahlurnen nach dem Scheitern der Gespräche als einzige Lösung, um den Verfassungsentwurf von 2007 endlich in die Praxis umzusetzen.


Dieser Beitrag ist Bestandteil unseres Quetzal Bolivien-Tagebuchs: Bolivia en Movimiento Bolivia en Movimiento - Das Quetzal Bolivien-Tagebuch

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