Ein kurzer Überblick über die Geschichte seit der Ankunft der Europäer
Die Guaraní bezeichnen sich selbst als Avá, was auf ihrer Sprache „Mensch“ bedeutet. Zum Volk der Guaraní gehören alle Gruppen, die der Sprachgruppe tupi-guarani zugeordnet werden. Als die ersten Europäer im Jahre 1492 das heutige Brasilien betraten, lag die Bevölkerung der Avá schätzungsweise bei zwei Millionen. Heute lebt das Volk der Guaraní in den Ländern Argentinien, Paraguay, Uruguay und Brasilien. In Brasilien leben drei Ethnien, wobei die Kaiowá oder auch Paĩ Tavytera in den südwestbrasilianischen Bundesstaaten Mato Grosso do Sul, Mato Grosso und im angrenzenden Paraguay mit schätzungsweise 40.000 Menschen die größte Bevölkerungszahl aufweisen.
Kaiowá bedeutet auf ihrer eigenen Sprach so viel wie „Waldvolk“. Die Kaiowá lebten traditionell als Seminomaden sowohl von Fischfang und Jagd als auch von Brandrodungsfeldbau in Wäldern und an Flüssen. Mit dem immer weiteren Vordringen der Europäer entstanden im 17. Jahrhundert auch die Jesuitenreduktionen, deren Ziel die „Zivilisierung und Christianisierung“ der Indigenen war. Die Errichtung der Reduktionen führte dazu, dass sich viele indigene Gruppen weiter ins Hinterland zurückzogen, um den Mönchen und dem „zivilisierten“ Leben zu entrinnen. Die Reduktionen waren zu jener Zeit dennoch das kleinere Übel, denn sie boten Schutz vor Sklavenhändlern und Zwangsarbeit.
Die Ausbeutung indigener Arbeitskraft setzte sich auch nach dem Abzug der Reduktionen fort. Als Hauptakteur in der Geschichte der Guaraní ist die Cia Mate Larangeira zu nennen. Das Unternehmen erhielt 1882 die Nutzungsrechte über den Mate in der Region des heutigen Mato Grosso. Die Cia Mate Larangeira (CML) hatte bald eine Monopolstellung bei der Kommerzialisierung des Mate inne, was zu Raubbau und zur Zerstörung der ursprünglichen Wälder führte. Des Weiteren wurden viele Indigene, darunter auch Kaiowá, als billige Arbeitskräfte missbraucht oder unverhältnismäßig entlohnt. Das führte dazu, dass sich viele Gemeinden immer weiter weg von ihren angestammten Gebieten ins Hinterland zurückzogen. In diesen Raum stießen nunmehr Siedler aus West- und Südbrasilien vor. Unter der Regierung Getúlio Vargas‘ (1930-1945 und 1950-1954) kam es dann zur ersten konkreten Besiedlungspolitik des bis dato weitgehend ungenutzten Südwestens Brasiliens. Im Zuge der sogenannten Marcha para o Oeste wurden Landrechte an neue Siedler günstig vergeben, was einer der Gründe für die heutigen Konflikte zwischen den Landbesitzern und den Kaiowá darstellt, die nie (juristisch verwertbare) Landrechte besaßen. Anders als unter der Monopolherrschaft der CML war es den indigenen Gemeinden nun nicht mehr erlaubt, auf dem Gebiet zu siedeln oder die Erde zu nutzen.
„Ohne wesentliche Kenntnis der indianischen Bevölkerung wurden vom damaligen Indianerschutzdienst (SPI) die ersten acht Reservate für die Guarani vermessen, im Durchschnitt jeweils ca. 2.300 ha groß, um Raum für die Kolonisierung zu schaffen. Mit zum Teil beträchtlichem Druck, Drohungen und Gewaltanwendung, aber auch mit Versprechungen von Seiten zweier Missionen, wurden viele Familien in die winzigen Reservate zwangsumgesiedelt. Ein Teil der indigenen Bevölkerung versuchte aber so lange wie möglich, in einigen Fällen bis heute, zumeist als Landarbeiter, in ihrem traditionellen Siedlungsgebiet zu bleiben, für das Großgrundbesitzer Besitztitel erworben hatten“ schreibt die Ethnologin Friedl Grünberg 2002 in ihrem Essay Reflexionen über die Lebenssituation der Guarani in Mato Grosso do Sul. Mato Grosso do Sul ist eines der wichtigsten landwirtschaftlichen Gebiete Brasiliens. Neben dem Anbau von Soja und Mais in Monokulturform ist die Rinderweidewirtschaft der ertragreichste Wirtschaftszweig. Hierzu wird der Boden nicht nur gerodet, sondern mit einem aggressiven afrikanischen Weidegras bepflanzt, das in kürzester Zeit hartnäckig auch die Anbaugebiete der Guaraní befällt. Mit dem Verlust des Waldes und des Landes gehen der Verlust des spirituellen Lebens und der wichtige Kontakt zu den Ahnen einher, die in den angestammten Gebieten begraben liegen.
Selbstmord und Seelenverständnis
Seit den neunziger Jahren finden wir bei den Guaraní-Kaiowá eine erschreckend hohe Tendenz zum Selbstmord. Das Jahr 1995 war mit 56 Toten das Jahr der meisten Suizide. Trotz fallender Zahlen seit 2008 (34 registrierte Fälle), gab es 2010 noch immer 13 registrierte Selbstmordfälle, meist unter Jugendlichen. Hochgerechnet ergibt dies eine Selbstmordrate von 32,5/100.000, die weit über dem nationalen und internationalen Durchschnitt liegt. Die Mehrheit der Selbstmörder ist zwischen 15 und 19 Jahren alt, wobei es keine signifikanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Beim jüngsten bekannten Fall handelt es sich um ein neunjähriges Mädchen. Die Gemeinde, in der es mit Abstand die meisten Selbstmorde in den Jahren zwischen 1981 und 2000 gab, ist das von unterschiedlichen Ethnien dichtbesiedelte Reservat Jaguapiru/Bóróró in der Nähe von Dourados, der zweitgrößten Stadt Mato Grosso do Suls.
Da der Suizid bei den Guaraní nicht als Straftat, sondern vielmehr als Folge einer durch Zauberei ausgelösten Krankheit verstanden wird, wird er oft nicht gemeldet, auch um eine weitere Ausbreitung der „Krankheit“ zu vermeiden. Somit ist es möglich, dass die Zahl der Opfer höher liegt, als angenommen. Die am häufigsten verwendete Methode ist das Erhängen. Dabei stirbt die Person nicht anhand eines Nackenbruchs beim Sprung in die Tiefe, sondern erstickt langsam, denn der Selbstmörder legt sich kniend in die Schlinge und wartet gewissermaßen auf das Eintreten des Todes.
Diese Art der Selbsttötung ist wahrscheinlich auf das komplexe Seelenkonzept der Kaiowá zurückzuführen: der Unterscheidung der Körperseele von der Geist-Seele. Die Körperseele verlässt nach dem Tod den Körper des Verstorbenen und bleibt auf der Erde. Ein Teil geht innerhalb einiger Tage in die Erde oder in eine Pflanze über, die Körperseele kann aber auch noch eine Weile rastlos auf der Erde umherwandern und den Lebenden schaden oder sie auch zum Selbstmord treiben. Die Geist-Seele jedoch verlässt den Körper und kehrt in ihre wahrhafte Heimat zurück, die Himmelsebene. Sie ist im Nacken verortet, und es ist anzunehmen, dass das Legen in die Schlinge verhindern soll, diese wichtige Seele zu „brechen“. Nur Seelen, die nicht nach den „guten Sitten“ gelebt haben, bleiben in einer Zwischenebene, die dem katholischen Fegefeuer ähnelt, gefangen. Der Selbstmord ist keine verwerfliche Tat, und die Geist-Seele hat die Zwischenebene nicht zu befürchten, sondern darf auf ein sofortiges Leben in der Himmelsebene hoffen.
Weshalb sich jedoch so viele junge Menschen der Kaiowá das Leben nehmen, während Menschen anderer Ethnien in denselben Reservaten unter gleichschweren Umständen leben und nicht den Selbstmord wählen, ist weiterhin unklar.
Offensichtlich ist jedoch, dass die Vertreibungen, der Raubbau, die Zwangsarbeit und der Landraub seit Beginn der Besiedelung der Europäer einen großen Beitrag dazu geleistet haben, dass sich die jungen Generationen Indigener im Wandel ihrer Kultur verloren fühlen. Sie leben meist peripher außerhalb der Städte in Reservaten, selbstverwalteten Gemeinden oder provisorisch in okkupierten Landstücken an Schnellstraßen. Die staatlichen Schulen sind schlecht und tragen, weil sie häufig nur für Indigene zugänglich sind, zur weiteren Segregation zwischen brasilianischer Gesellschaft und Indigenen bei. Auch besitzen die Indigenen schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, weil das Vorurteil des faulen Alkoholikers viele davon abhält, Indigene einzustellen und/oder entsprechend zu entlohnen.
Aufgrund der Veränderung in der Umwelt und der Wohnform in den Reservaten unterliegt die soziale Struktur einem starken Wandel. So gibt es in den Reservaten nur Einfamilienhäuser aus Backstein und keine traditionellen Langhäuser, die das Leben in der ursprünglich wichtigen Großfamilie ermöglichen. Des Weiteren finden immer wieder gewaltsame Angriffe auf Gemeinden und gezielte Tötungen von Führungspersonen statt, die sehr selten von staatlichen Behörden aufgeklärt werden, wie zum Beispiel der gewaltsame Übergriff auf eine Gemeinde in Iguatemi im Frühjahr diesen Jahres sowie das gewaltsame Verschwinden des Kasiken Nísio Gomes im November 2011.
All diese kleinen und großen Veränderungen können Ursachen dafür sein, dass immer mehr junge Erwachsene der Kaiowá die Selbsttötung als Option zu den prekären Lebensumständen in Erwägung ziehen. Die Demarkierung von angestammtem Land und Autonomie indigener Gemeinden außerhalb abgesteckter Reservate sind seit Jahrzehnten dringliche Forderungen, deren Umsetzung sowohl von Staat, als auch weiten Teilen der Gesellschaft unterdrückt und verzögert wird. Aber selbst mit einer Landrückgabe ständen die Gemeinden der Kaiowá vor der schweren Aufgabe, ihre eigene Identität zwischen Tradition und Moderne wiederzufinden, um vor allem der heranwachsenden Generation Halt zu geben.
Bildquellen: [1]–[4] Quetzal-Redaktion, hlr