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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Chiles 11. September: Hintergründe, Folgen und Debatten

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 17 Minuten

Salvador Allende unterschreibt das Dokument zur Nationalisierung des Kupfers 1971 - Foto: Biblioteca del Congreso Nacional ChileWenn heute vom 11. September die Rede ist, dann denken die meisten an das Jahr 2001. Der Schock über den Terrorakt damals hat sich tief in die Erinnerung der Weltöffentlichkeit eingebrannt. Hier soll an einen anderen, früheren 11. September erinnert werden, der Chile vor 40 Jahren in ein Trauma gestürzt hat, das bis heute fortwirkt: Der Putsch der Armee gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Er teilt die Geschichte des lateinamerikanischen Landes in ein „davor“ und ein „danach“.

Vor dem 11. September 1973 galt Chile als Vorzeigedemokratie mit einer starken Linken, die es 1970 auf parlamentarischem Weg sogar schaffte, an die Regierung zu kommen. Mit ihrem Anspruch, Demokratie und Sozialismus miteinander verbinden zu wollen, beschritt die Unidad Popular (UP), ein Zusammenschluss aus Sozialisten, Kommunisten, radikalen Republikanern, ehemaligen Christdemokraten und anderen Linken, Neuland. Zu den ersten Maßnahmen zählten die Nationalisierung des Kupferbergbaus und die Forcierung der Agrarreform. Die folgenden Schritte wie die Nationalisierung der Schlüsselindustrien, die Umverteilung zugunsten der bislang Benachteiligten und die Ausweitung der demokratischen Mitsprache für Arbeiter, Bauern und Studenten stießen zunehmend auf Widerstand. Aktion und Reaktion polariserten die Gesellschaft. Dass die UP bei den Parlamentswahlen im März 1973 44,2 (Abgeordnetenhaus) bzw. 57,2 Prozent der Stimmen (Senat) erhielt, war gegenüber den 36,6 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen im September 1970 ein deutlicher Erfolg. Daraufhin entschloss sich die rechte Armeeführung zum Putsch gegen die Demokratie, der von der Mehrheit der oppositionellen Christdemokraten begrüßt wurde.

Nach dem 11. September 1973 war Chile ein anderes Land. Es folgten 17 Jahre Diktatur unter General Augusto Pinochet, tausende Anhänger der UP wurden ermordet, die Gewerkschaften zerschlagen, jeder Widerstand brutal verfolgt. In diesem Klima blutiger Repression starteten die „Chicago-Boys“ 1978 den ersten neoliberalen Feldversuch. Dieser führte zweimal in die Wirtschaftskrise, war aber in einem anderen Sinne höchst erfolgreich: Ein ganzes Land stand nun zum Ausverkauf, ohne dass das einheimische und ausländische Kapital mit Widerstand rechnen musste. Allerdings sicherten sich die chilenischen Militärs ein wichtiges wirtschaftliches Faustpfand – das staatliche Bergbauunternehmen CODELCO. Ansonsten fiel alles der Privatisierung anheim, und die Arbeitskräfte wurden durch ökonomischen wie außerökonomischen Zwang billig und willig gemacht. Von der vormals starken Arbeiterbewegung war so gut wie nichts übrig geblieben.

1989 begann die Zeit der Post-Diktatur. Pinochet hatte 1988 ein entscheidendes Plebiszit verloren und musste den Weg für Wahlen freimachen, die im Dezember 1989 von der Concertación, einem Bündnis aus Sozialisten und Christdemokraten, gewonnen wurden. Das neue politische Regime, in der Fachliteratur wegen seiner antidemokratischen Erbteile als „Enklavendemokratie“ klassifiziert, führte den neoliberalen Kurs fort. Zum Erbe der Diktatur gehörten nicht nur die Verfassung von 1980, das einseitige Wahlrecht und die Vetomacht der Armee. Mindestens genau so schwer wiegt das schwere Trauma der chilenischen Gesellschaft. Jene Generation, die den Putsch bewusst erlebt hat, ist nach wie vor in Befürworter und Gegner Pinochets gespalten. Glaubt man dem Mehrheitsdiskurs, so lastet auf dem „sozialistischen Chaos“ der Allende-Zeit der Fluch des Scheiterns, der durch den Untergang der Sowjetunion nachträglich bestätigt scheint. Das ererbte Wirtschaftsmodell der „Chicago-Boys“ wird als alternativlos hingenommen. Im Vergleich zu den meisten lateinamerikanischen Ländern gilt Chile nach wie vor als „Erfolgsstory“ und neoliberales Vorzeigemodell. Über die jüngere Vergangenheit wird nur zögerlich und in kleinem Kreis diskutiert.

40 Jahre später

Chile: Demonstrant mit einer Allende-Fahne - Foto: Quetzal-Redaktion, cs40 Jahre später, im September 2013, durchlebt Chile einen Wandel, dessen erste Vorboten sich 2006 zeigten. Vor sieben Jahren gingen Schüler und Studenten auf die Straße, um ein anderes Bildungssystem zu fordern. Seit 2011 reißt der Strom der Proteste nicht mehr ab und hat die ganze Gesellschaft erfaßt. Das neoliberale System wird inzwischen von weiten Teilen der chilenischen Bevölkerung grundsätzlich infrage gestellt. Der Schatten Pinochets beginnt zu weichen. Dies hat weniger mit seiner juristischen Delegitimierung (16 Monate Hausarrest in England und Anklage in Chile) und seinem Tod im Dezember 2006 als vielmehr mit der Verbindung von Generations- und Perspektivenwechsel zu tun. Die Jugendlichen, die heute für kostenlose Bildung als Menschenrecht für alle kämpfen, kennen den Putsch bestenfalls aus den Erzählungen der Älteren und haben die Pinochet-Diktatur selbst nicht mehr erlebt. Dafür wissen sie aus eigener Erfahrung, was Neoliberalismus bedeutet. Chile zählt zu den Ländern mit den höchsten Bildungskosten weltweit. Zugleich ist das weitgehend privatisierte Bildungswesen ineffizient und korrupt. Um ihren Kindern trotzdem eine Chance zu bieten, haben sich viele Familien aus der Mittelschicht verschulden müssen. Die globale Krise ab 2008 offenbarte dann das ganze Dilemma des Systems. Um ihre Zukunft zurückzugewinnen, befragt die junge Generation auch die Vergangenheit.

Mit Blick auf den Putsch vom 11. September 1973 stehen vor allem drei Problemfelder im Mittelpunkt. Erstens bildet dieser den Ausgangspunkt des gegenwärtigen Systems. Auch wenn die Diktatur abtreten musste, hat sie doch das Fundament für den neoliberalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft gelegt. Auch das politische System trägt trotz mancher Reform immer noch schwer am Erbe Pinochets. Zweitens liefert das chilenische Modell wichtige Rückschlüsse für die Genesis, die Folgen und Wirkungen des Neoliberalismus im Besonderen wie Allgemeinen. Jeder Versuch, ihn zu überwinden, erfordert die Einbeziehung der Entwicklung in Chile während der letzten 40 Jahre. Drittens ist nach den Ursachen der Niederlage des chilenischen Weges zum Sozialismus zu fragen. War der Sieg der Konterrevolution unvermeidlich oder nicht? Wie groß waren die Chancen und Spielräume für eine sozialistische Transformation? Welche Fehler hat die Unidad Popular gemacht? Welchen Anteil haben die Gegner des demokratischen Weges zum Sozialismus an dessen blutiger Verhinderung? All dies mündet in der Systemfrage nach gesellschaftlichen Alternativen zum globalen Krisenkapitalismus.

Schock, Solidarität und Widerstand

Dem chilenischen 11. September haftet ebenso wie dem 9-11 von 2001 das Gefühl des „Unheim­lichen“ an (Cristian Alvarado Leyton). Dieses verbindet beide Zäsuren und bietet zugleich einen Ansatzpunkt zur Erklärung jener großen Schockwellen, die durch sie ausgelöst wurden. Im chilenischen Fall ist es weniger die Zahl der Opfer, die derart schockiert – diese lag im „schmutzigen Krieg“, den die argentinische Militärjunta 1976 bis 1983 gegen das eigene Volk führte, mit 30.000 Toten und Verschwundenen deutlich höher als in Chile. Es ist vielmehr die Kombination aus den großen Hoffnungen, die durch den Sieg Allendes zunächst massenhaft geweckt und dann durch den Putsch blutig ertränkt wurden, und dem damit verbundenen Zusammenbruch zweier Mythen chilenischen Selbstverständnisses: dem Mythos von der besonderen, unveränderlichen Festigkeit der Demokratie in Chile und der ebenso unverbrüchlichen Verfassungstreue der chilenischen Streitkräfte. Diese schockartige Entmystifizierung war auch deshalb so „unheimlich“, weil sie von unverhoffter Brutalität und heimtückischem Verrat – besonders Pinochets – begleitet war. Wer die brennende Moneda 1973 gesehen hatte, erlebte am 11. September 2001 ein unheimlich anmutendes Déjà-vu.[1]

Zugleich löste der Putsch weltweit eine Welle der Betroffenheit und Solidarität aus. Chilenen, die vor dem Terror Pinochets flüchten mussten, fanden unter anderem in beiden deutschen Staaten Exil. Eingedenk der antifaschistischen Vergangenheit Erich Honeckers und anderer führender Funktionäre sowie ihres sozialistischen Selbstverständnisses war die Solidarität mit den Opfern des Putsches für die DDR auch Staatspolitik. Nachdem die DDR sich 1990 per Beitritt selbst aufgegeben hatte, fand Honecker in Chile seine letzte Zuflucht. Die vormals erwiesene Solidarität erwies sich als eine gegenseitige. Tätige Unterstützung fanden Exilchilenen auch an der Karl-Marx-Universität Leipzig, wo sie in Verbindung von Wissenschaft und Politik einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen die Pinochet-Diktatur leisteten. Bei den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin (Ost) waren die chilenischen Teilnehmer und Delegierten gefragte Diskussions- und Gesprächspartner. Während meines Studiums und als junger Wissenschaftler entstand zu einigen der Exilchilenen, die in Leipzig arbeiteten und lebten, ein enger Kontakt. In manchem Fall wurde daraus Freundschaft. In Berlin (West) gaben die Ereignisse in Chile den Anstoß zur Gründung des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika (FDCL) und einer Zeitschrift, die heute als „Lateinamerika-Nachrichten“ bereits im 40. Jahrgang erscheint. In der BRD entstand eine breite gesellschaftliche Solidaritätsbewegung. Für viele junge Deutsche in Ost und West war der 11. September 1973 der entscheidende Punkt ihrer Politisierung. Vielleicht erwächst aus der gemeinsamen Erinnerung an den Putsch 1973 in Chile ein neuer Impuls, die jeweilige Vergangenheit, die ja immer auch eine miteinander verwobene ist, gleichberechtigt und ohne Vorurteile zu diskutieren.

In Chile leisteten die Anhänger der UP zwar verzweifelt Widerstand, der jedoch spätestens einen Monat nach dem Putsch gebrochen war. Sie befanden sich nun entweder auf der Flucht, im Untergrund und im Exil, oder waren von den Putschisten verhaftet, gefoltert und umgebracht worden. Victor Jara, dem bekannten Liedermacher und Sänger, wurden die Hände gebrochen, um ihn dann zu erschießen. Der Dichter und Nobelpreisträger Pablo Neruda starb – nicht zuletzt unter dem Schock des Vorgehens der Putschisten – am 23. September 1973. Sein Haus wurde nach seinem Tod geplündert und verwüstet. Salvador Allende hatte angesichts der erdrückenden Übermacht der gegen ihn putschenden Truppen und um ein Zeichen des Widerstandes zu setzen, den Freitod gewählt. Viele UP-Führer saßen in verschiedenen KZ. Einigen gelang die Flucht. So konnte der Generalsekretär der Sozialistischen Partei Chiles, Carlos Altamirano, mit DDR-Hilfe ausgeschleust werden. Erst Ende 1979 nahmen kleinere Einheiten des MIR den bewaffneten Kampf gegen die Diktatur wieder auf. Am 14. September 1983 gab die chilenische KP offiziell die Gründung des Frente Patriotico Manuel Rodríguez (FPMR) bekannt. Der Organisation, die zur führenden Kraft des militärischen Widerstandes gegen Pinochet wurde, schlossen sich Anhänger anderer linker Organisationen an. In den achtziger Jahren verfügte der FPMR über 1.500 Kämpfer, die als Stadtguerilla agierten.

Wege der Revolution in Lateinamerika

Chile: Der Putsch vom 11. September 1973 - Foto: Biblioteca del Congreso Nacional de ChileIn Lateinamerika löste der Putsch vom 11. September 1973 unter den Linken eine heftige Debatte über die künftigen Wege der Revolution aus. 1978 gab es in Südamerika (außer den karibisch geprägten Ländern Guyana und Surinam) nur zwei Länder (Kolumbien und Venezuela), die nicht von einer Militärjunta regiert wurden. Mexiko galt als „perfekte“ zivile Diktatur, und in Zentralamerika herrschten (mit Ausnahme Costa Ricas) ebenfalls langjährige Militärdiktaturen. Am 19. Juli 1979 stürzten die Sandinisten die seit mehr als 40 Jahren herrschende Somoza-Diktatur und begannen mit der revolutionären Umgestaltung Nicaraguas. Die Niederlage des friedlichen Weges in Chile 1973 einerseits und der Sieg des bewaffneten Weges der Revolution 1979 in Nicaragua andererseits gaben den bereits während der UP-Regierung geführten Auseinandersetzungen um den „richtigen“ Weg zum Sozialismus neuen Auftrieb. Die Ausweitung und Intensivierung des bewaffneten Kampfes in El Salvador und Guatemala in den 1980er Jahren schien dessen Befürwortern Recht zu geben.

Während Zentralamerika noch ganz im Zeichen des militärischen Sieges der Sandinisten stand, hatte in Südamerika die sogenannte dritte Welle der Demokratisierung begonnen. Nach und nach mussten die Diktatoren im Laufe der 1980er Jahre abdanken und gewählten Zivilregierungen Platz machen. Die Modalitäten des Übergangs (Transition) wurden zumeist zwischen den Eliten beider Lager (Opposition und Diktatur) ausgehandelt. Die Gegner Pinochets, zu denen inzwischen auch die Christdemokraten zählten, standen vor der Frage, welcher Strategie sie den Vorzug geben sollten, um den Diktator in die Knie zu zwingen. Diese stellte sich immer dringender, da sich inzwischen auch in Chile eine antidiktatorische Bewegung zu entwickeln begann. Im Ergebnis einer schweren ökonomischen Krise hatte ab dem 11. Mai 1983 ein Zyklus von „Nationalen Protesttagen“ das Land erschüttert, die mehr als 100 Tote auf Seiten der protestierenden Bevölkerung forderten. Die sich formierende Opposition gegen Pinochet verfolgte jedoch unterschiedliche Strategien und spaltete sich in zwei Lager, die sich einerseits in der gemäßigten und antikommunistisch ausgerichteten Alianza Democrata (AD) und andererseits dem marxistisch orientierten Movimiento Democratico Popular (MDP) organisierten. Im August 1985 vereinbarten die AD und das Regime ein „Acuerdo Nacional de la Transición a la Plena Democracia“, auf dessen Grundlage am 5. Oktober 1988 ein Plebiszit stattfand. 54,7 Prozent stimmten gegen eine weitere Amtszeit Pinochets. Zuvor, am 7. September 1986, hatte ein FPMR-Kommando ein Attentat gegen Pinochet durchgeführt, welches dieser jedoch leicht verletzt überlebte. Die als Initialzündung für einen bewaffneten Voksaufstand gedachte Aktion verpuffte damit, und die Initiative ging an die gemäßigte Opposition über.

Europäische Parallelen?

In Bezug auf Europa lassen sich von Chile 1973 aus vier Parallelen und Querverbindungen aufzeigen. Erstens gibt es in Bezug auf den Versuch, Sozialismus und Demokratie miteinander zu verbinden, Analogien sowohl zum Prager Frühling als auch zur 68-er Bewegung in Westeuropa. Allerdings kamen die europäischen Versuche nicht über ein kurzes Anfangsstadium hinaus. Der „schöne Mai“ 1968 in Paris ging schon bald in den „Angstwahlen“ im Juni unter, und das Prager Experiment geriet unter die Ketten sowjetischer Panzer. Im Unterschied dazu hatte die chilenische Volkseinheit 1.000 Tage Zeit, den demokratischen Weg in Richtung Sozialismus zu beschreiten. Auch wenn sie dieses Ziel nicht erreichen konnte, bleiben ihr Mut und ihre Erfahrungen ein unverzichtbarer Bezugspunkt für alle Versuche, den Sozialismus des 21. Jahrhunderts Realität werden zu lassen.

Zweitens zeigt sich die internationale Tragweite des Putsches in Chile in den Reaktionen der größten kommunistischen Partei des Westens, der Italienischen KP. Ihr Generalsekrätär, Enrico Berlinguer, nahm die Ereignisse in Chile zum Anlass, um sich schon wenige Wochen nach dem 11. September 1973 zu drei zentralen Fragen zu äußern: zu Imperialismus und Koexistenz, zum demokratischen Weg und zur reaktionären Gewalt, sowie zur Bündnsipolitik gegenüber den Mittelschichten.[2] Die dort geäußerten Argumente und Einsichten trugen wesentlich zur Formulierung der Strategie des „Historischen Kompromisses“ und der weiteren Ausformung des „Eurokommunismus“ bei. Dass diese Neuorientierung (nach dem Tod von Berlinguer) in der Preisgabe der kommunistischen Identität und des Marxismus endete, deckt sich interessanterweise mit dem Werdegang großer Teile der UP (nicht der KP Chiles) seit Mitte der 1980er Jahre.

Drittens lieferte die portugiesische Armee schon im April 1974 das Gegenbeispiel zum chilenischen Fall. In Portugal waren es die in den Kolonialkrieg verwickelten Streitkräfte, die das faschistische Salazar-Regime mit einem bewaffneten Aufstand entmachteten und sich an die Spitze der „Nelkenrevolution“ stellten. Wichtige Teile der Bewegung der Streitkräfte (MFA) strebten im Bündnis mit anderen Linkskräften sogar den Sozialismus an. Die Nationalisierung der Schlüsselindustrien, die Agrarreform, die Arbeiterkontrolle und eine fortschrittliche Verfassung bildeten die wichtigsten Errungenschaften der portugiesischen Revolution. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass es in den Streitkräften Lateinamerikas, so auch in Chile Anfang der 1930er Jahre, im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder zu Linksentwicklungen kam. Bis kurz vor dem September-Putsch 1973 gab es auch in der chilenischen Armee einen starken verfassungstreuen Flügel. Es gehört zur Tragik des chilenischen Weges zum Sozialismus, dass sich dieser nicht durchsetzen konnte.

Viertens fand der von Pinochet eröffnete neoliberale „Reigen“ 1979 in Großbritannien seine nächste Fortsetzung. Margaret Thatcher, die „Eiserne Lady“, knüpfte an die chilenischen Erfahrungen an und zerschlug zunächst die mächtigen britischen Gewerkschaften. Dank ihres Wahlsieges bewältigte sie dies ohne Putsch. Mit dem Motto „There is no alternative“ (TINA) brachte sie die neoliberale „Revolution“ auf den Punkt. Mit ihrer Auffassung, dass es keine Gesellschaft, sondern nur Individuen gäbe, illustrierte sie treffend das auch von Pinochet umgesetzte Ziel ihres Kurses.

Weltmacht und Weltsystem

USA_FlaggeBisher ist ein zentraler Faktor des 11. Septembers 1973 unerwähnt geblieben: die Rolle der USA. Der globalen Führungsmacht des Westens war der chilenische Weg zum Sozialismus von Anfang an ein Dorn im Auge. Sie förderten zunächst die „Revolution in Freiheit“ des christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei (1964-1970). Als sich 1970 ein Wahlsieg Allendes abzeichnete, sollte durch die Entführung des Oberbefehlshabers der chilenischen Streitkräfte, General René Schneider, ein präventiver Putsch provoziert werden. Die von der CIA angeleitete und unterstützte Aktion schlug jedoch fehl. Dass General Schneider dabei ums Leben kam, stärkte eher die verfassungstreuen Militärs und führte zu einer Annährung von UP und Christdemokraten. Die nächste Runde zum Sturz Allendes wurde in enger Kooperation mit dem US-amerikanischen Telekommunikations-Multi ITT organisiert und scheiterte ebenfalls. Selbst der Streik der Fuhrunternehmer im Oktober 1972, der eine ernste Versorgungskrise provozierte und für Chaos sorgte, brachte keinen Durchbruch. Als die UP dann im März 1973 bei den Parlamentswahlen ihren Stimmenanteil gegenüber 1970 sogar noch um mehr als sieben Prozent steigern konnte, blieb nur noch der Putsch der Armee, um Allende zu stürzen. Dafür hatten die USA durch ökonomischen und politischen Druck nicht nur ein entsprechendes Klima geschaffen, sie gab den Putschisten auch logistische Rückendeckung. Auch wenn Richard Nixon und Henry Kissinger hinterher ihre Hände in Unschuld wuschen – ohne die Hilfe und die Einmischung der USA hätte es den 11. September 1973 nicht gegeben.

Als fast 30 Jahre später der demokratisch gewählte Präsident Venezuelas, Hugo Chávez aus dem Amt geputscht werden sollte, erinnerte vieles an den Sturz Allendes. Auch hier zogen die Putschisten mit Unterstützung der USA alle Register: militärischer Staatsstreich, Unternehmerstreiks, Medienkampagnen, Ausreizen der politischen Spielräume. Anders als in Chile scheiterten diese Machenschaften in Venezuela allesamt. Dort gingen die Volksmassen auf die Straße, um ihren Präsidenten zu verteidigen, und die regierungstreue Mehrheit der Armee kam ihnen dabei zu Hilfe. Dennoch stellen sich den linken Regierungen Lateinamerikas vierzig Jahre nach dem September-Putsch in Chile grundsätzliche Fragen, die die Rolle der USA und die Spielräume für Alternativen zum Neoliberalismus betreffen. Auf der einen Seite haben die USA seit 1973 an politischem, ökonomischen und „moralischem“ Gewicht verloren, andererseits hat die globale Transformation im Zeichen des Neoliberalismus in den vergangenen 40 Jahren Strukturen und Institutionen geschaffen, die den „Ausbruch“ einzelner Länder aus dem Weltsystem des Krisenkapitalismus noch unwahrscheinlicher erscheinen lassen, als es in Chile 1970 bis 1973 der Fall war. Die Spielräume für einen Sozialismus des 21 Jahrhunderts lassen sich jedenfalls nur noch im globalen Rahmen, unter Einbeziehung aller relevanten Wechselwirkungen abschätzen.

Sonderfall oder Modell?

Der 11. September 1973 und seine Langzeitfolgen werfen nicht zuletzt die Frage auf, wie sich der „Modellfall Chile“ zum „Sonderfall Chile“ verhält. Im Rückblick zeigt sich, dass die Durchsetzung des Neoliberalismus nicht an die Existenz einer Militärdiktatur gebunden ist und Chile dabei zwar eine Pionierrolle einnimmt, die ihm wichtige Vorteile als „first-comer“ verschafft hat. Es bleibt aber zu klären, welchen Anteil dieser „Sonderweg“ am „Modell Chile“ hat. Ferner muss diskutiert werden, ob die lange Wirkdauer des Neoliberalismus in Chile dessen Merkmale besonders prägnant hervortreten lässt oder ob Chile damit eher einen abweichenden Fall darstellt. Die potenzierte Wirkung von Putsch und 17 Jahren Diktatur einerseits und „reiner“ bzw. langer Wirkung des Neoliberalismus andererseits ist besonders in Hinblick auf mögliche Widerstandsformen und -potentiale interessant. In diesem Zusammenhang kommt sowohl der neuen Schüler- und Studentenbewegung als auch der „alten“ Bewegung der Mapuche eine zentrale Rolle zu. Auch die Frage, wo das neoliberale System an ökologische Grenzen stößt und wie sich dies auf seine Aufrechterhaltung und Akzeptanz auswirkt, verdient Beachtung.

Dieser Beitrag wirft vor allem Fragen auf und verweist auf Zusammenhänge, die einer weiteren Darstellung und Diskussion bedürfen. Die Redaktion des QUETZAL hat deshalb für Ende September 2013 ein Dossier geplant, in dem dies versucht werden soll. So sind Rezensionen zum Thema und Artikel zu wichtigen Teilaspekten des „Modellfalls Chile“ wie Wirtschaft, soziale Folgen, Widerstand sowie Lebens- und Arbeitsbedingungen vorgesehen.

[1] Vgl. dazu Ariel Dorfman in der „Los Angeles Times“ vom 21. Sep. 2001 – dt. Übersetzung in: Alvarado Leyton, Cristian: Der andere 11. September, Münster 2010, S. 253-256.

[2] Vgl. Berlinger, Enrico: für eine demokratische Wende, Berlin (Ost) 1975, S. 360-386.

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Bildquellen: [1], [3] Biblioteca del Congreso Nacional de Chile_ [2] Quetzal-Redaktion, cs, [4] USA-Flagge

1 Kommentar

  1. Lemmy Caution sagt:

    Viel Glück und Ausdauer für ihr Dossier.
    „Über die jüngere Vergangenheit wird nur zögerlich und in kleinem Kreis diskutiert.“
    Im ernst? Im Gegenteil komme ich zu dem Ergebnis, dass die Debatte über das Modell in Chile extrem vielfältig und umfangreich ist. Sowohl in gedruckter Form, die via Amazon inzwischen als ebook kaufbar ist:
    – Manuel Gárate Chateau, La revolución capitalista de Chile (1973-2003) (absolut großartig)
    – El otro Modelo, verschiedene Autoren (meine Linie, nicht unbedingt „links“)
    – Alberto Mayol, No al lucro (moderner Klassiker)
    – einiges von Raúl Sohr
    – das kurze Buch von Giorgio Jackson
    – Gabriel Salazar (mag den Stil nicht, les/hör ihn aber)
    Im Internet Podcasts rund um Ariel Zuniga, Inutiles y Subversivos (mag ich nicht, hör ich aber), Nachrichten Portale wie ciper, elciudadano, elmostrador.
    Und nicht zu vergessen im Fernsehen, viel ist über youtube aus Deutschland konsumierbar. Der Klassiker tolerancia cero von chilevision, die Interviews von Rayen Araya nun bei radio bio bio, viele weitere Polit-Sendungen über die man auf youtube derzeit gut über die Eingabe der 8 oppositionellen Kandidaten der Präsidentschaftswahl kommt.
    Stell Dir vor es ist Neoliberalismus, es gibt beständig seit Jahren hohes BIP-Wachstum von 4,5% bis 6% und nur noch 25% halten das für eine gute Idee.
    Der Wahlkampf feuert das aktuell natürlich weiter an. 8 von 9 Kandidaten sprechen sich für tiefe Reformen aus.
    Meine aktuelle Sicht: In Chile wurde der Neoliberalismus geboren. In Chile wird er aktuell intellektuell beerdigt.
    Problem ist, dass nach wie vor ein größerer Prozentsatz der Chilenen einfach nach wie vor ziemlich unpolitisch ist. Kann aber momentan nicht ausschliessen, dass UDI/RN im November eine wirklich fette Wahlniederlage einstecken wird. Selbst wenn das durch sistema binominal natürlich bezüglich Sitze im Parlament verwässert wird, fehlt denen dann aber einfach die Legitimation zur Blockade.
    Kenn das Land gut. War in den letzten 15 Jahren ungefähr 2,5 Jahre dort.
    Es wird in Chile keine bunt-karibische Show mit Schwefel-Sprüchen geben. Ein gut-reflektierter Bruch mit dem extrem neoliberalen Modell sehe ich aktuell als einzige Möglichkeit, um die innere Konfliktsituation des Landes aufzulösen. Geht Bachelet zu zögerlich vor, wird es ein anderer machen. Das ist meine letztlich optimistische Meinung. Chilenische Freunde sehen das pessimistischer, denken aber in die gleiche Richtung.
    Solidarische Grüsse
    Lemmy

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