Als Teil des Kollektivs Transgalxia e.V. nahm ich auf meiner dreimonatigen Reise von Kolumbien über Panama, Costa Rica nach Nicaragua die Möglichkeit wahr, interessante Projekte zu besuchen und Interviews mit den Aktivist_innen zu führen. Ziel dabei ist, über soziale Kämpfe in Lateinamerika zu berichten, Austausch zu fördern und eine mögliche Zusammenarbeit mit unserem Verein zu etablieren.
Geht es um zivil-gesellschaftliches Engagement und Repression, sollte der Blick über den Tellerrand gewagt und Erfahrungen mit politisch aktiven Netzwerken weltweit ausgetauscht werden. In diesem Artikel geht es um die Arbeit des Ende der 1980er Jahre entstandenen RED JUVENIL (dt.: Jugendnetz), welches aufgrund der Schwerpunkte seiner Arbeit derzeit vor einer Umbenennung in RED ANTIMILITARISTA Y FEMINISTA steht [1].
Das RED ist eine Jugendorganisation, deren Philosophie sich in einem aktiven Nein zu Gewalt ausdrückt. Die Activist@s versuchen, über Medien wie Theater, Kultur und Musik Freiräume für einen sozialen Wandel zurückzugewinnen und den Jugendlichen neue Perspektiven zu geben [2].
Im Januar 2013 besuchte ich nun zum dritten Mal Medellín, diese vielfältige, vor Energie sprühende Metropole, und nahm bei diesem Aufenthalt auch den Interviewtermin mit dem Kollektiv wahr.
Medellín – von vielen mittlerweile als Partyhochburg geschätzt – ist gleichzeitig Synonym für das Leid in Kolumbien. Dieser riesige, in einem Talkessel der westlichsten Andenkordillere liegende Moloch zeigt, wie nah ständiges Wachstum und soziales Elend zusammen liegen können.
Die „Stadt des ewigen Frühlings“ [3] erlangte in den 1980er Jahren weltweit durch den auch „Robin Hood paisa“ genannten Drogenbaron Pablo Escobar und seinem Medellín-Kartell traurige Berühmtheit. Galt sie einst als „gefährlichste Stadt der Welt“, ist die „Metropole der Hoffnung nun ein Magnet für Stadtplaner, Politiker und Neugierige aus aller Welt.“ [4]
Hier soll aber nicht die äußerst interessante wie auch blutige Geschichte einer Stadt beschrieben werden, sondern die Arbeit des von mir besuchten Kollektives. Seit nunmehr zwanzig Jahren kämpft RED JUVENIL mit künstlerischen Mitteln gegen Gewalt, Vertreibung, für Frauenrechte und das Recht auf Wehrdienstverweigerung. Die Selbstbestimmung von Jugendlichen fernab der konkurrierenden Konfliktparteien ist das übergeordnete Ziel.
Wenn in Kolumbien von Repression gesprochen wird, geht es leider nicht wie im hiesigen Kontext „nur“ um Überwachung, Einschüchterung oder den Entzug von Fördermitteln. Hier steht mehr auf dem Spiel. So hat das mit dem RED eng verbundene Kulturprojekt „Son Batá“, das im seit Jahrzehnten von paramilitärischen Gruppen umkämpften Stadtteil Comuna 13 entstanden ist, allein in den letzten 24 Monaten sieben ermordete Rapper zu beklagen.[5] Bisher gelang es dem Kollektiv durch das Bereitstellen von Proberäumen, Instrumenten oder der Organisation von Festivals viele Jugendliche zu sensibilisieren und damit den ständigen Rekrutierungsversuchen aller bewaffneten Konfliktparteien peu à peu den Nährboden zu entziehen.
Auch Aktivist@s des RED fühlen sich seit vielen Jahren ständiger Bedrohung ausgesetzt. Es gab und gibt zahlreiche „Amenazas“ (Drohanrufe bzw. -schreiben), aber auch Entführungen und willkürliche Verhaftungen. Diese rufen natürlich Angst und Ohnmacht hervor. Sie stärken aber auch das gemeinsame Agieren und den Willen, weiter gegen die fortschreitende Militarisierung des Landes anzukämpfen. Solange die Repression gegen die abertausende von Binnenvertriebenen, die Zwangsrekrutierungen von Jugendlichen und die Gewalt gegen Frauen nicht eingedämmt sind, wird das RED weiter agieren.
Sandra sagt dazu: „Wenn wir uns von der Bedrohung einschüchtern lassen und die Angst siegen würde, dann wäre uns die Möglichkeit genommen, weiter von einem gerechteren Kolumbien zu träumen und dafür zu kämpfen!“
Spricht das RED von „bewaffneten Akteuren“, dann sind neben den Guerillagruppen FARC [6], ELN [7], den rechten neo-paramilitärischen Gruppen wie den „Aguilas Negras“ [8] oder den „Narcotraficantes“ [9] in jedem Fall noch zwei weitere gemeint: das Militär und die Polizei.
Die Repression führt leider dazu, dass aufgrund der in einigen „Comunas“ (Stadtvierteln) vorherrschenden bürgerkriegsähnlichen Zustände die so notwendigen Aktionen dort nicht stattfinden können. Die Sicherheit der agierenden Personen wäre einfach nicht gegeben. Wie im Falle der erwähnten ermordeten Activist@s in Comuna 13 sind den bewaffneten Akteuren jegliche Bemühungen ein Dorn im Auge, die gezielt gegen Anwerbe- und Einschüchterungsversuche vorgehen.
Im Zentrum Medellíns, am Rande der Altstadt in der Calle 47 befindet sich das Büro vom RED in einem von aussagekräftigen Graffiti verschönertem Kolonialgebäude. Fragt man die Nachbarn nach dem Büro, wird einem der Weg zu dem in mancher Augen renovierungsbedürftigen Gebäude mit den Worten gewiesen, man solle „aufpassen, dort werden eh nur Drogen verkauft“. Mit lautem Gelächter wurde diese Anmerkung von den dort arbeitenden Aktivist@s aufgenommen. Trotzdem ist die Tür ständig verschlossen. Einlass erhalten die Besucher durch lautes Klopfen. Es öffnet sich eine kleine Luke in der Tür. Dies ist als Sicherheitsmaßnahme leider notwendig, die zuvor genannten repressiven Vorgehensweisen der oft gewalttätig eingestellten Sicherheitsorgane sowie der Konfliktparteien sind nur zu gut bekannt.
Da die Arbeit des RED dezentral ist und sich bis auf oben genannten Ausnahmen im gesamten Stadtgebiet abspielt, wirkt das große Gebäude an diesem Tag mit seinem schönen Patio und den vielen Räumen etwas verlassen. Julio aus dem zehn Busstunden entfernten Cali ist jedoch gerade angekommen, um von kürzlich begangenen schweren Menschenrechtsverstößen in seinem Departamento zu berichten. In Cali und weiteren kolumbianischen Städten sind nach dem Vorbild des RED ähnliche Projekte entstanden. Trotz aller Brisanz fällt bei diesem Gespräch und auch im geführten Interview auf, dass eine gesunde Portion Sarkasmus und schwarzer Humor die Arbeit ständig begleiten.
Es gibt eine kleine Bar, die neben dem Verkauf von fair gehandeltem Kaffee, dem Drucken von T-Shirts sowie einem entstehenden Restaurant die „Autogestión“ (Selbstverwaltung) des Projektes ermöglichen soll. Der Kaffee wird gemeinsam mit einem Kollektiv produziert, welches in der Peripherie von Medellín von der gemeinsamen Netzwerkarbeit profitiert und die Ernte, Veredlung sowie Vermarktung organisiert.
Finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite lehnt das RED ab und keineR der ca. 100 Activist@s bezieht durch seine Arbeit ein Gehalt. Aufgrund der umfangreichen Aktivitäten des RED ist die Selbstverwaltung allerdings (noch) nicht vollständig umsetzbar und wird durch die Zusammenarbeit mit NGOs und Netzwerken aus Spanien (z.B. aus Basauri im Baskenland) oder Deuschland (KJG[10]) gestärkt. Gerade mit der KJG hat sich eine langfristige Zusammenarbeit etabliert, die nicht nur auf Geldspenden basiert, sondern auch im Rahmen eines Austauschprogramms stattfindet. Deshalb war auch die Interviewpartnerin Sandra 2010 für ein Jahr in Aachen, um die Arbeit der KJG kennenzulernen und zu unterstützen. Dies ist wichtig und notwendig, um aus der durch viele NGOs angebotenen „Weltwärts-Erfahrung“ für deutsche Jugendliche ein auf Augenhöhe stattfindendes Austauschprogramm zu machen.
Neben dem erwähnten einjährigen Austausch gab es für weitere Activist@s vom RED auch 2009 und 2011 die Möglichkeit, die kolumbianische Realität über einige Wochen hinweg auf europäischen Theaterbühnen darzustellen und in Workshops sowie den anschließenden Diskussionen in Europa auf die Problematik hinzuweisen. In diesem Rahmen wurden viele Menschen für kolumbien-relevante Themen sensibilisiert.
Einmal im Jahr wird im Zentrum der Stadt das „Antimili Sonoro“ organisiert. Dies ist ein Festival, welches Künstlern und Gästen gleichermaßen die Möglichkeit bietet, auf die existenten Konflikte mit Musik und Tanz zu antworten.
Auch wenn die Arbeit zu Genderkonflikten sowie Theater- und Musikworkshops mit Kindern und Jugendlichen derzeit im Vordergrund steht, gibt es seit vielen Jahren eine Beratung für Wehrdienstverweigerer. Die Umsetzung des gesetzlich verankerten Rechts auf Verweigerung ist in Kolumbien immer noch sehr schwierig und bedarf guter Unterstützung und Vorbereitung.
Das RED bietet in den sogenannten „Barrios populares“ – den ärmeren Stadtvierteln – auch Programme an Schulen an. Beeinflusst durch Paolo Freires „Pädagogik der Unterdrückten“[11] bevorzugt es das RED aber, die Jugendlichen für gemeinsame Projekte außerhalb von Schule und Milieu zu begeistern. Das wiederum führt zu mehr Vernetzung, Bewegung und letztendlich zu mehr Teilhabe von sonst ausgeschlossenen Personengruppen. Die Jugendlichen sollen die Möglichkeit erhalten, ihre Stadt und die gesamte Problemlage besser kennenzulernen und die „Kultur des Schweigens“[12] aufzubrechen.
Abschließend möchte ich noch kurz auf das jährlich in Medellín stattfindende „Foro social“ hinweisen. Auf diesem Forum haben zahlreiche soziale Bewegungen, NGOs und Indigenenverbände die Möglichkeit, über Themen wie Binnenflucht, Landvertreibungen Wasserprivatisierung und die schon angesprochenen Themenkomplexe auf internationaler Ebene zu debattieren und Lösungen zu finden. Das Treffen ist hilfreich für das Knüpfen von lokalen wie auch überregionalen Netzwerken. Sandra spricht von „einer Notwendigkeit der Vernetzung feministischer und pazifistischer Praxis in Lateinamerika, um die leider existenten unsichtbaren Barrieren einzureißen. Mit den Mitteln der Kunst, dem Gewaltverzicht und dem Feminismus können wir das schaffen!“
Auf die Frage, was das RED in fünf Jahren erreicht haben möchte, antwortete Sandra: „…dass Kinder und Jugendliche in diesem Land selbst wieder Entscheidungen in ihren Stadtvierteln und auf dem Land treffen werden, träumen und ihr Leben selbst gestalten können. Dass die Gewalt gegenüber Frauen endlich eingedämmt und bestraft wird und die aus Kalkül verübten massenhaften Frauenmorde[13] aufhören. Wir möchten endlich wieder einen Platz in dieser Gesellschaft finden!“
Es gab selbst in schwierigen Zeiten nie einen Punkt, der die Arbeit und den gemeinsamen Kampf in Frage stellte. Jede Bedrohung rief laut Sandra noch mehr Aktivität hervor und half dabei, weiter zusammenzuwachsen. „Halte immer ein Lächeln bereit egal in welchem Moment, ohne zu vergessen was passiert ist. Das hilft uns den Alltag zu meistern und auch, um zu überleben.“
Dies sollte auch im Hinblick auf hier stattfindende Repression gegen politisch aktive Gruppen, die eben nicht staatskonform sind oder irgendeine Klausel unterschreiben werden, ein würdiger Schlusssatz sein.
Für weitere Infos zum RED JUVENIL siehe deren Website:
www.redjuvenil.org (diese ist vorübergehend wegen der Umbenennung und Umgestaltung nicht erreichbar)
Weitere Links:
https://www.facebook.com/redjuvenil.medellin
http://www.connection-ev.org/article-1049 (in deutsch)
http://wri-irg.org/statemnt/medellin-de.htm
Lars Petzka, TRANSGALAXIA e.V.
[1] Anti-militaristisches und feministisches Netzwerk. Die Umbenneung wurde im geführten Interview erwähnt, jedoch noch noch nicht offiziell bestätigt.
[2] http://www.soziale-bildung.org/poldo/details/103-kolumbianisches-jugendtheater-qred-juvenilq
[3] http://www.raulzelik.net/unterwegs-essays-erzaehlungen/51-unsichtbare-grenzen-alltag-medellin
[5] http://jungle-world.com/artikel/2012/46/46596.html
[6] Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo – Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee
[7] Ejército de Liberación Nacional (ELN, Nationale Befreiungsarmee)
[8] Paramilitärische Organisation Aguilas Negras – Schwarze Adler, ein Block der ehemaligen, seit 2006 offiziell aufgelösten AUC (Autodefensas Unidas de Colombia)
[9] Narcos – verschieden Kartellen angehörige Drogenhändler
[10] Katholische Junge Gemeinde, http://www.kjg.de/
[11] Ein durch seine weltweit umgesetzten Alphabetisierungskampagnen und Veröffentlichungen wie „Die Pädagogik der Unterdrückten“ bekannter brasilianischer Pädagoge (1921-1997)
[12] Ebenfalls eine Aussage P. Freies, um die Situation von in Favellas lebenden Menschen besser zu verstehen.
[13] der sog. Feminicidio
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Bildquellen: [1] Streetart, Dj Lu; [2] Felipe Campuzano