Alle sechs Jahre durchlebt Mexiko eine lang andauernde Phase politischer Paroxysmen, auch bekannt als Präsidentschaftswahlen. Der Wahlkampf nimmt den öffentlichen Alltag in Beschlag, die Medien behandeln nur noch ein einziges Thema, und die politische Propaganda bedeckt die Landschaft der großen Städte und fernen Dörfer.
In einer Nation, deren Geschichte geprägt ist von Caudillos und gekennzeichnet durch eine einundsiebzig Jahre andauernde Regierung einer einzigen Partei, bestimmen die Präsidentschaftswahlen die politische Zukunft.
Bis jetzt habe ich fünf miterlebt und über sie geschrieben. 1988, als sich bei der Stimmenauszählung eine klare Tendenz für den Sieg des Mitte-Links-Kandidaten Cuauhtémoc Cárdenas abzeichnete, „stürzte“ das Computer-System „ab“, unterbrach die Verbuchung der Stimmen und erlaubte es dem politischen System erneut, einem Kandidaten der Partei der Institutionellen Revolution (Partido Revolucionario Institucional, PRI) an die Macht zu verhelfen. Bis zum Ende seiner sechsjährigen Amtszeit musste der neoliberale Reformer Carlos Salinas de Gortari zwei widersprüchlichen Tatsachen ins Auge blicken, die das Land an ein und demselben Tag erschütterten: Der Beitritt des Landes zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Tratado de Libre Comercio de América del Norte, NAFTA) sowie der Anfang des bewaffneten indigenen Aufstandes.
1994 wurde der Kandidat der PRI, Luis Donaldo Colosio, am helllichten Tag beim Abschluss eines Wahlkampfmeetings ermordet. Inmitten von weitverbreiteten Gerüchten über eine Palastintrige übernahm im letzten Moment Ernesto Zedillo die Nachfolge. Bis heute hat die Debatte darüber, was an jenem 23. März in Wirklichkeit passierte und warum es passierte, Inspiration für zahlreiche Bücher und einen Film, der die Machtsäle verdüstert, geliefert.
Im Jahr 2000 unterbrach Vicente Fox, der Kandidat der konservativen Partido Acción Nacional (PAN) die absolute Herrschaft der PRI. Obwohl die Macht formal den Besitzer wechselte, regierte Fox sechs Jahre lang an der Spitze einer Allianz zwischen PRI und PAN, deren Ziel es war, das neoliberale Wirtschaftssystem zu sichern und die Linke im Zaum zu halten. Viele Anhänger der Linken hatten zur „zweckdienlichen“ Wahl von Fox aufgerufen, um die Einparteienregierung der PRI zu beenden. Das Land endete mit einem neuen Gesicht an der Regierung, aber auch mit sechs weiteren Jahren der Konsolidierung eines Wirtschaftsmodells von den und für die Reichen.
2006 siegte erneut der Wahlbetrug, als der Anwärter der PAN, Felipe Calderón, mit nur einem verdächtigen halben Prozentpunkt vor dem Mitte-Links-Kandidaten, Andrés Manuel López Obrador, zum Sieger erklärt wurde. Monatelang füllten Millionen Anhänger von López Obrador die Straßen, um zu protestieren.
Angesichts der öffentlichen Forderungen, die auf eine Untersuchung der Beschuldigungen, es handele sich um ein falsches Spiel, drängten und ganz konkret die Überprüfung der Stimmauszählung basierend auf den abgegebenen Stimmen und nicht anhand der Protokolle forderten, prüfte der Wahlprüfungsausschuss lediglich neun Prozent der Stimmen. Eine spätere Prüfung der Unterlagen von etwa der Hälfte der Wahllokale zeigte Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung, die größere Stimmenzahlen betrafen, als der Unterschied zwischen den zwei Kandidaten betrug. Der Prüfungsausschuss bestätigte die Offensichtlichkeit illegaler und unregelmäßiger Praktiken bei der Stimmauszählung, erklärte jedoch Calderón offiziell zum Sieger.
In Mexiko sind die Wahlen niemals langweilig.
Die Wahlen 2012
Im Jahr 2012 schloss sich der Kreis der Geschichte. Die PRI, die seit zwölf Jahren nicht mehr den Präsidenten gestellt hatte, kehrte nach Wahlen, die durch Anschuldigungen bezüglich Stimmenkaufes, Geldwäsche und geheimen Abkommen mit mächtigen und einflussreichen Mediengroßkonzernen in Verruf geraten waren, endlich an die Spitze der Regierung zurück. Der Kandidat der PRI, Enrique Peña Nieto, gewann die Wahlen mit 39 Prozent der Stimmen, etwa drei Millionen Stimmen mehr als López Obrador, der mit 32,5 Prozent die zweithöchste Stimmenzahl erreichte. Völlig in seiner neuen Rolle aufgehend, grüßte der PRI-Kandidat gemeinsam mit seiner neuen Ehefrau, einem Telenovela-Star, in die Kameras und wiederholte nochmals sein Versprechen einer „neuen“ PRI.
Wie schon im Jahr 2006 bestanden die Wahlen 2012 aus dem Kampf zweier Kandidaten; diesmal einem der PRI und einem der PRD, aber es war auch der Kampf zweier Projekte für Mexiko. Die PRI ist während der letzten drei Jahrzehnte ein starker Förderer der neoliberalen Ökonomie gewesen. Als Präsident festigte Salinas de Gortari den Wandel von einer autoritären, nationalistischen Partei hin zu einer politisch offeneren und unterstützte die freie Marktwirtschaft. Er trieb die Verhandlungen über das Nordamerikanische Freihandelsabkommen voran, um das Land für ausländische Investitionen zu öffnen, fror Regierungsprogramme zur Unterstützung und wirtschaftlichen Hilfe ein und privatisierte große nationale Mittel, unter anderem das Bankensystem und die Produktion der Erdölchemie. Zedillo für seinen Teil, vertiefte die neoliberalen Reformen.
Der vermeintliche Übergang zur Demokratie mit der Wahl von Fox, Mitglied der PAN, offenbart die Grenzen eben jener Demokratie in einem System der freien Marktwirtschaft, das nur durch geschlossene Eliten kontrolliert wird. Die Hoffnungen, Fox würde die Politikmaschinerie der PRI beenden, wurden schon bald enttäuscht. Um die neoliberalen Wirtschaftsreformen in einem Kongress, in dem die PRI die Mehrheit innehatte, durchzusetzen, hielt Fox praktisch an den Machtstrukturen der besagten Partei fest. Dennoch gab es Diskrepanzen zwischen der Regierung von Fox und dem Senat. Diese bezogen sich hauptsächlich auf die Reformen, die den politischen Rückhalt der PRI schädigen konnten, wie beispielsweise die Besteuerung der Lebensmittel und Medikamente, für die Peña Nieto jetzt eintritt.
Gegen Ende der Regierungszeit Fox´ hatten die neoliberalen Reformen, die von der PRI-PAN Allianz (und von der US-amerikanischen Regierung) vorangetrieben worden waren, eine tiefe Kluft innerhalb der mexikanischen Bevölkerung geschaffen. Der Slogan von López Obrador, den Bedürfnissen der Armen, in einer sehr ungleichen Gesellschaft, Priorität einzuräumen, verband die Hälfte der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze lebt, mit einem großen Teil der Mittelschicht.
2012 waren die Ergebnisse für die Mehrheit in vielerlei Hinsicht schlechter: 18 Jahre nach der Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens belegt Mexiko, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge, den zweiten Platz bezüglich der Ungleichheit. Millionen von Menschen leben in Armut, die Kaufkraft der Arbeiter ist gesunken, und das Land sieht sich mit ernsthaften Umweltproblemen konfrontiert. Im Gegensatz hierzu haben die Reichen große Vermögen angehäuft, und eine arme Nation, die sich im Zustand eines Entwicklungslandes befindet, hat den reichsten Mann der Welt hervorgebracht. Es handelt sich um Carlos Slim, der seinen kometenhaften Aufstieg begann, als die Regierung ihm die nationale Telefongesellschaft Mexikos (Telmex) übergab.
Nichtsdestotrotz gelang es der Linken in dieser Situation nicht, die wirtschaftlichen Ungleichheiten in ein starkes Engagement für die Präsidentschaft umzuwandeln, da es zu internen Konflikten innerhalb der Partei kam und die Wahlkampagne zu unstrukturiert war. Die PRI hingegen nutzte die Armut zu ihrem eigenen Vorteil, indem sie materielle Vergütungen im Tausch gegen Wählerstimmen versprach.
Die PAN, deren Kandidatin Josefina Vázquez Mota lediglich 26 Prozent der Stimmen erreichte, zahlte den Preis für die schlechte wirtschaftliche Lage, die internen Differenzen und das Desaster des Kampfes gegen die Drogen, der von Calderón geführt worden war. Seit Calderón den Krieg gegen die Drogen im Dezember 2006 verkündet hatte, haben mindestens 60.000 Menschen bei Morden, die mit dem Anti-Drogen-Krieg in Verbindung stehen, ihr Leben verloren. 2012 war der Bevölkerung bereits bewusst, dass etwas in einer Verteidigungsstrategie grundlegend falsch läuft, wenn sie so viele negative Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit hat.
López Obrador bat darum, die sozialen Programme zu verstärken und den Anti-Drogen-Krieg zu beenden. Seine Plattform legte vor allem Nachdruck darauf, die Ungleichheit zu verringern und Beschäftigungsprogramme zu finanzieren. Dies sollte durch Gehaltseinsparungen bei Regierungsbeamten, den Kampf gegen die Korruption und die Schließung der Gesetzeslücken, die die Steuerflucht ermöglichen, finanziert werden.
Kurz gesagt, obwohl Peña Nieto die Notwendigkeit der Integrierung von mehr Hilfsprogrammen in das Marktmodell hervorhob und López Obrador die explizitere Botschaft bezüglich „die Armen zuerst“ seiner Kampagne von 2006 vermied, gestaltete sich der Wahlkampf wie ein Kampf der Ideologien rund um einige traditionelle Fragen der Linken und der Rechten: Teilhabe des Staates an der Wirtschaft und Umverteilung des Reichtums oder Vertrauen in den freien Markt und das Wachstum; Privatisierung oder öffentliche Verwaltung der Ressourcen; eine militärische Antwort auf das Verbrechen oder eine, die auf der Gemeinschaft basiert, etc. Die Wahlmuster spiegeln die Trennung zwischen Armen und Reichen wider, obwohl die PRI in ländlichen Regionen und bei den Geringverdienern mehr Stimmen erlangte als noch bei den Wahlen von 2006.
Peña Nieto versprach, die Wirtschaftsreformen, die von der PRI-PAN-Allianz angestrebt worden waren, sowie den Anti-Drogen-Krieg weiterzuführen. Am Tag nach den Wahlen bekräftigte er sein Versprechen durch fünf strukturelle Reformen, von denen einige seit langem auf der neoliberalen Agenda standen: die Energiereform, um den Prozess der Privatisierung der nationalen Erdölfirma PEMEX voranzutreiben, die Reform des Arbeitsmarktes, die einige der historischen Errungenschaften der Arbeiter in der mexikanischen Verfassung ausradiert, eine Steuerreform, eine politische Reform, um die Zahl der Repräsentanten im Unterhaus (Abgeordnetenkammer) zu verringern, und die Schaffung einer Militärpolizei.
Darüber hinaus versprach er mehr soziale Programme sowie die Bekämpfung der Armut und der Arbeitslosigkeit durch Wachstum und eine stärkere wirtschaftliche Eingliederung in Nordamerika , eine Formel des „Überlaufeffekts“, die bisher in Mexiko gescheitert war. Das Jahr 2012 wird in die Geschichte eingehen als das Jahr, in dem die machthabende Partei den Glanz (oder ihre Niederträchtigkeit) vergangener Zeiten wiedererreichte. Viele befürchten, dass die Politikmaschinerie, die Korruption und die Manipulation, die die ersten sieben Jahrzehnte der Regierungszeit der PRI charakterisierte, zurückkehren. Die Versprechen Peña Nietos von einer reformierten PRI wirken nicht aufrichtig, wenn man die Anzahl und den Umfang an Personen aus vergangenen Regierungszeiten betrachtet, die zum inneren Zirkel gehören, ihm an die Macht verholfen haben und hinter ihm stehen. Peña Nieto ist ein Mensch, der Salinas de Gortari und der Atlacomulco-Gruppe nahesteht, die aus seinem Geburtsstaat Estado de México stammt, und für ihren Reichtum, ihre Macht und ihre Strategie der harten Hand bekannt ist.
Über dem von Peña Nieto modernisierten Fernsehbild liegen die Schatten aus der Zeit, als er Gouverneur des Bundesstaates Estado de México war. 2006 schickte er Truppen der Polizei des Bundesstaates in das Dorf Atenco, wo sie, gemeinsam mit der lokalen und der Bundespolizei die Demonstranten angriffen und zwei Jugendliche töteten. 26 Frauen wurden sexuell missbraucht und vergewaltigt, während sie sich in Polizeigewahrsam befanden. Bis heute wurde niemand für die zahlreichen begangenen Delikte belangt. Dies liegt vor allem am fehlenden politischen Willen Peña Nietos und der Bundesregierung. Die Zahl der Frauenmorde stieg während der Amtszeit Peña Nietos als Gouverneur des Estado de México in alarmierender Weise an. Er entschied sich dafür, die Angelegenheit zu verheimlichen, damit sie sich nicht in eine politische Last verwandelte, anstatt sich mit der zunehmenden Gefahr zu konfrontieren, der die Frauen ausgesetzt waren.
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Laura Carlsen ist Politikforscherin und Autorin. Sie leitet das Americas Program des Zentrums für internationale Politik (Programa de las Américas del Centro de Política Internacional, www.cipamericas.org) mit Sitz in Mexiko-Stadt und hat ausgiebig über Mexiko, Lateinamerika und die Außenpolitik der USA geschrieben.
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Der Artikel erschien bereits am 11.02.2013 bei www.cipamericas.org. Mit freundlicher Genehmigung des Americas Program. Den zweiten Teil finden Sie hier.
Übersetzung aus dem Spanischen: Cora Puk, Monika Grabow.
Bildquellen: [1] Ranyuz Sleman_ , [2] PRi.org.mx.