Am 26. und 27. Januar 2012 veranstaltete das Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) Potsdam eine Konferenz, die sich mit neuen Paradigmen nachhaltiger Entwicklung in Lateinamerika beschäftigte. Bereits die Zusammensetzung der ca. 30 Teilnehmer zeigte, wie ernst man es mit dem selbst gewählten Anspruch der Vielfalt meinte. So kam etwa die Hälfte aus Ländern Lateinamerikas, darunter Angehörige indigener Völker aus dem Andenraum. Auch die Berufs- und Tätigkeitsfelder sprechen für sich: Neben Wissenschaftlern und Publizisten beteiligten sich Diplomaten, Angehörige der Zivilgesellschaft und junge Absolventen an den sehr intensiv geführten Diskussionen. Aus dem Kreis der parteinahen Einrichtungen Deutschlands war die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit ihrer Lateinamerika-verantwortlichen vertreten.
In seinem Eröffnungsbeitrag betonte Prof. Klaus Töpfer, Direktor des IASS und vormaliger Chef des Umweltprogramms der UNO (UNEP), wie wichtig angesichts der gegenwärtigen globalen Krise die Suche nach Alternativen sei. In einer Zeit „großer Transformationen“ (Polanyi) habe sich das Thatcher’sche Motto „There is no alternative“ (TINA) als obsolet erwiesen. In drei thematischen Blöcken wurde anschließend auf der Grundlage pointierter Kurzreferate darüber diskutiert, welche Erfahrungen und neuen Ansätze lateinamerikanischer Entwicklung geeignet sind, Alternativen in Richtung „Nachhaltigkeit“ theoretisch zu begründen und politisch durchzusetzen. Im ersten Block umrissen Federico Foders (Institut für Weltwirtschaft Kiel) und Manuel Chiriboga (Quito) den Status Quo, um dann die Vor- und Nachteile des bisherigen Wirtschaftsmodells zu benennen. Einerseits verwiesen beide darauf, dass die Region bislang die globale Finanzkrise vergleichsweise gut verkraftet habe und der anhaltende Rohstoffboom weiterhin hohe Wachstumsraten ermögliche. Andererseits vollziehe sich dies im Rahmen und auf Basis tradierter Strukturen der Ausbeutung und des Exports natürlicher Ressourcen.
Im zweiten Block stand die mögliche Wechselwirkung von Demokratie und (nachhaltiger) Entwicklung im Mittelpunkt der Debatte. Klaus Bodemer (GIGA Hamburg) verwies zunächst auf den optimistisch stimmenden Bestand demokratischer Verhältnisse, um dann laut über Faktoren nachzudenken, die ihre Stabilisierung und Vertiefung ermöglichen bzw. verhindern. Mit Blick auf die Geschichte Europas warf er zwei grundsätzliche Fragen auf: Die nach dem Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie sowie jene nach der Reichweite dringend notwendiger Alternativen. Oder anders gefragt: Sind Alternativen zum (gegenwärtigen) Kapitalismus (noch) innerhalb des Kapitalismus möglich? Arnoldo José Gabaldón (Caracas) forderte in seinem Beitrag, bei der Definition und der Durchsetzung von nachhaltiger Entwicklung den zentralen Stellenwert von Demokratie adäquat einzubeziehen.
Der dritte Block, in dem über das Konzept des „Sumak Kawsay“ diskutiert wurde, hob sich in zweifacher Hinsicht vom Rest der Veranstaltung ab: Zum einen wurde er in Gänze von Referenten aus Lateinamerika bestritten, darunter zwei Vertreter/innen indigener Völker aus Bolivien bzw. Ecuador; zum anderen sprengte er auch inhaltlich die mehrheitlich westlich geprägte Debatte der Konferenz. Bereits im ersten Beitrag, der von Eduardo Gudynas (Montevideo) gehalten wurde, spielte das grundsätzliche Kritik- und Alternativpotential des „Buen Vivir“ gegenüber dem westlichen Verständnis von Entwicklung eine zentrale Rolle. Der von ihm vorgestellte Begriff fasst den gemeinsamen Kern verschiedener indigener „Weltbilder“ zusammen und versteht sich als Gegenentwurf zur westlichen Entwicklung. Der zweite Beitrag von Yuri Amaya Guandinango Vinueza (FLACSO Quito) beleuchtete das Konzept des „Sumak Kawsay“ aus der lokalen Perspektive der indigenen Kichwa-Gemeinschaften von Cotacachi (Ecuador). Simón Yampara (La Paz) stellte das andine Konzept des „Suma Qamaña“ vor, das auf dem Prinzip der Harmonie verschiedener „Welten“ beruht. Alle drei Konzepte – Buen Vivir (spanisch), Sumak Kawsay (Kichwa) und Suma Qamaña (Aymara) – bedeuten ins deutsche übersetzt in etwa dasselbe: „Gut Zusammenleben“, wobei jedes zugleich eine ethnisch-lokale Spezifik aufweist. In der weiteren Diskussion, die sehr anregend und intensiv verlief, wurde deutlich, dass sich die in diesen Begriffen enthaltende Weltsicht für Zuhörer, die durch die westliche Kultur und Rationalität geprägt sind, nur schwer „übersetzen“ lässt. Dies zeigte sich besonders am zweiten Konferenztag, als Schwerpunktfragen in kleineren Diskussionsgruppen vertieft wurden. In der Gruppe, die weiter über das Konzept des „Gut Zusammenlebens“ debattierte, ging es besonders kontrovers zu. Strittig war vor allem die Frage, inwiefern dieses Konzept mit dem westlichen Entwicklungsverständnis kompatibel sei. Sowohl Eduardo Gudynas, der sich als uruguayischer Wissenschaftler bereits länger mit dieser Problematik beschäftigt, als auch die drei indigenen Diskutanten (Yuri Guandinango, Muruchi Poma, Simón Yampara), für die dieses Konzept der andinen Kultur zugleich „Lebenswelt“ ist, äußerten sich skeptisch über die Vereinbarkeit mit westlich geprägten Vorstellungen von Entwicklung. Auch wenn während der Konferenz klar wurde, mit welchen Schwierigkeiten ein interkultureller Dialog über nachhaltige Entwicklung selbst bei gutem Willen aller Teilnehmer zu rechnen hat, besteht ihr Hauptverdienst doch darin, den Boden dafür bereitet zu haben. Mit dem Konzept des „Buen Vivir“ eröffnet sich gerade für uns Europäer die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels. Ohne einen solchen bleibt jeder Versuch, neue Paradigmen zu finden und durchzusetzen, vergeblich. In diesem Sinne war die Potsdamer Konferenz ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Bildquelle: Quetzal-Redaktion, mp.
[1] v.l.: Yuri Guandinango (Ecuador), Simón Yampara (Bolivien), Jorge Jurado (ecuadorianischer Botschafter in Deutschland), Karin Gabbert (Rosa-Luxemburg-Stiftung).
[2] v.l.: Yuri Guandinango, Muruchi Poma, Simón Yampara.