Mama Coca und indigener Widerstand
Mama Coca, die heilige Koka-Pflanze begleitet mich nun seit fast 10 Jahren. Nicht die hoch konzentrierten Alkaloide die einst ein deutscher Chemiker isolierte und die von Coca Cola in die ganze Welt exportiert wurden, bevor Kokain als Droge eingestuft und international verboten wurde, sondern die heilige Pflanze der Inkas. Die erste Begegnung mit der ursprünglichen und rituellen Bedeutung der Pflanze für die indigene Bevölkerung hatte ich auf der Insel Amantani mitten im Titicaca See. Ich war in dem Irrglauben angereist, die in Lima ausgestellten Papiere, Drehgenehmigungen und Begleitschreiben der Ministerien würden uns für die Dreharbeiten auch hier alle Türen öffnen. Auf der Insel wurde ich eines Besseren belehrt. Die Einwohner riefen am Tag nach unserer Ankunft den Inselrat zusammen und ich musste vor der Ratsversammlung unser Vorhaben – Dreharbeiten für einen deutschen Sender – beschreiben und um die Zustimmung der Vertreter der Einwohner werben. Eine ernste Angelegenheit. Vor der gemeinsamen Beratung, die hinter verschlossenen Türen stattfand, das Zeremoniell des gemeinsamen Koka-Kauens. Dazu tauschten die Anwesenden die mitgebrachten Koka-Blätter gegenseitig aus und kauten dann gemeinsam. Erst nach dem Zeremoniell und der damit verbundene Befragung der Andengötter, wurde eine Entscheidung getroffen. Sie fiel positiv aus, wir durften mit unserer Kameraausrüstung die heiligen Stätten der Insel besuchen, die Tempel der Pacha Tata und Pacha Mama, Vater Himmel, Mutter Erde. Die Koka-Pflanze ist ein bis heute gelebtes Medium, die heilige Pflanze, die die Menschen, die das harte Leben in den Anden praktisch autark unter härtesten klimatischen Bedingungen meistern, mit den Göttern in Einklang bringt. Es ist ein anerkanntes Tauschmittel, die Währung der Anden. Das Kokablatt, einst den Eliten der Inka und den Postläufern, den Chaskis vorbehalten, hat aber auch ganz praktischen Nutzen: Energiespender der Minenarbeiter und Bauern, Vitaminquelle, Durstlöscher und Schmerzmittel. Das ist eine der vielen Bedeutungen dieses Blattes in den Anden heute.
Das Koka-Blatt ist aber auch ein politisches Symbol. Symbol für den indigenen Widerstand gegen die postkolonialen Strukturen. Und das Koka-Blatt ist die Quelle für eine harte Droge mit all ihren zerstörerischen sozialen, ökologischen und gesellschaftlichen Folgen. Ich möchte hier aber nicht darüber schreiben, wie der Anbau des Koka-Blattes Tausende Hektar Urwald zerstört, auch nicht darüber, dass für ein Kilo Kokain tonnenweise Kerosin die Erde des Amazonasbecken verseuchen. Und ich habe mich nicht mit der Gewalt, dem Terror und dem Waffenhandel beschäftigt, der z.B. in Mexiko als Folge der Drogenkartelle und ihrem Kampf gegen die Staatskräfte verheerende Folgen hat.
Ich habe die Menschen kennen gelernt, die für die Koka-Pflanze kämpfen und ich möchte hier über ihren Kampf schreiben, weil ich selber verstehen wollte, warum diese Menschen, meist Frauen, oft Mütter, ihr Leben für diese Pflanze aufs Spiel setzen.
Im Oktober 2004 habe ich die Protagonisten für die Dokumentation „Koka, Terror und der Inka Aufstand“ kennen gelernt. Der „Andenrat der Koka-Bauern“ hatte zu einer Großdemonstration in La Paz aufgerufen. Der Präsident dieser internationalen Organisation, die Koka-Bauern von Kolumbien bis Bolivien politisch zu organisieren versuchte, war zu dieser Zeit ein gewisser Evo Morales, den wir heute als Präsidenten Boliviens kennen. Die Demonstration legte die bolivianische Hauptstadt lahm. Ich filmte zwischen den Demonstranten: Indigene Gruppen aus Bolivien, Peru, Kolumbien aber auch Argentinien und Ecuador. Die Polizei hielt sich diesmal zurück, im Vorjahr, dem „Octubre Negro“ wurden Demonstranten einfach von der Polizei niedergeschossen, der damalige Präsident musste später zurücktreten. Ein Jahr danach hatten die Zeitungen großformatige Sonderbeilagen mit den Fotos der Opfer des Schwarzen Oktober drucken lassen. Angehörigen trafen sich zu Mahnkundgebungen. Jetzt ließen Minenarbeiter Dynamitstangen in der Luft explodieren, Demonstranten wurden getroffen, meine Hose wurde zerfetzt und ein Minenarbeiter verlor seinen Arm. Die Luft war zum schneiden und allen war klar, hier passiert etwas historisches. Später wurde Evo Morales mit seiner Partei MAS – Bewegung zum Sozialismus – zum ersten indigenen Präsident Boliviens gewählt. Damals war das noch eine vage Hoffnung (oder Befürchtung) auf den Straßen von La Paz. Aber ich lernte damals seine „Leute“ kennen, die, die mit ihm im Andenrat für die Sache der Kokabauern kämpften.
Diana Perafan, die Vertreterin des Andenrates aus Kolumbien, berichtete von den Verfolgungen, dem Genozid an der indigenen Bevölkerung, den chemischen Waffen gegen die Koka-Pflanzen und dem Krieg zwischen Guerilla und Paramilitärs um die Zugänge zum Drogenhandel, in die die Politik tief verstrickt ist. Elsa Malpartida bewegt als Kokabauernführerin in Peru ähnliche Massen wie Evo Morales in Bolivien. Zu diesem Zeitpunkt stand sie auf mehreren Fahndungslisten wegen „Terrorismus“ und „Anstiftung zum Aufruhr“ gegen die Staatsordnung. Dennoch war es ihr gelungen, die Veranstaltung in Bolivien zu besuchen. In den kommenden Jahren würde ich beide Frauen bei ihrem Kampf für die Koka-Pflanze als Journalist und Filmemacher mit der Kamera begleiten, auf den „verbotenen Wegen der Koka-Farmer“.
Gewalt, Elend und Armut in San Gabán
„Nach gewaltsamen Zusammenstössen zwischen mehreren hundert Koka-Bauern und der Polizei mit mindestens zwei Toten hat die peruanische Regierung im Südosten des Landes den Ausnahmezustand verhängt. Für 30 Tage sollten die Sicherheitskräfte die Kontrolle über die Region San Gabán und Antauta in der Provinz Carabaya übernehmen…“
Das war die Meldung, die uns damals inmitten der Proteste in La Paz erreichte und Elsa Malpartida, die Führerin der peruanischen Kokabauerngewerkschaft entschied spontan sofort in die Region, die an Bolivien grenzt, zu reisen. Ich nahm meine Kamera und machte mich mit der steckbrieflich gesuchten Koka-Aktivistin auf den Weg in eine der Hochburgen des peruanischen Koka-Anbaus. Ich sprach mit den verletzten Bauern in den Krankenhäusern, traf die Hinterbliebenen der Getöteten und besuchte das Wasserwerk, das von den Koka-Bauern besetzt worden war, bevor die Sicherheitskräfte einschritten. Ich war der einzige Journalist vor Ort, abgesehen von ein paar Lokalreportern. Die Großen Medien aus Lima zogen es vor, die Meldungen des Innenministeriums ungeprüft zu veröffentlichen. Für sie stand fest, die Opfer waren „Narco-Terroristen“, eine Art Kreuzung aus Terroristen des Leuchtenden Pfades und Drogenbossen. Das einzige Bild, das sich mir in San Gaban zeigte war Elend und extreme Armut. Menschen, die der Natur täglich die Nahrung abringen und die Koka anbauen, weil es das einzige verfügbare Tauschmittel ist. Es waren aber auch nicht die indigenen Gemeinschaften, die hier ihre alten Traditionen lebten, sondern vor allem Armutsflüchtlinge, die in den Städten einfach verhungert wären. Einige waren gekommen, um Gold im Fluss zu schürfen, doch seitdem die Regierung die Rechte an ein Kanadisches Unternehmen verkauft hatte, war auch das strafbar. So blieb am Ende nur der Kokaanbau, egal wer kauft. Reich werden die Bauern davon nicht, selbst für Ananas oder Palmenöl würden sie mehr Geld bekommen, gäbe es nur eine vernünftige Straße, um die Früchte zu transportieren.
Es entstand eine 30 Minuten Reportage für WDR-Weltweit, die den menschlichen und sozialen Aspekt dieser Menschen in den Vordergrund stellte, die irgendwo in den entlegensten Winkeln der Ostanden ihr bescheidenes Dasein fristen. Die politische Dimension blieb ausgeklammert. Tatsächlich aber erlebte ich in Elsa eine Revolutionsführerin, die diesen verlorenen Menschen Würde und Kampfgeist zurückgab. Kritiker würden sagen, ihre Reden waren demagogisch, ihre Botschaft reiner Populismus. Peruanische Journalisten und Kenner der Hintergründe würden belegen, dass Elsa Malpartida die Vorhut des Chavismo in Peru ist etc. Wie viele Diskussionen habe ich unter Intellektuellen in Lima über den Wahnsinn dieser Kokabauernbewegung führen müssen.
Doch in all diesen Diskussionen wurde geschwiegen über die dramatische Armut, die Verzweiflung, die Perspektivlosigkeit dieser Menschen. Es gibt keine Schulen, keine Krankenversorgung, keine reguläre Arbeit. Millionen Menschen leben von dem, was der Boden hergibt. Selbstversorger. Das einzige Geld das sie erwirtschaften können bleibt der Koka-Anbau. Und Geld brauchen sie, um ihre Kinder auf die Schule zu schicken oder ihnen eine Berufsausbildung zu ermöglichen. Selbst die Antidrogenbehörde DEVIDA gibt zu: der wahre Grund für den rasanten Anstieg des Kokaanbaus ist das Fehlen des Staates in weiten Teilen des Landes: Gesundheit, Bildung aber auch rechtsstaatlichen Schutz vor der Willkür von Großgrundbesitzern und Kriminellen. Die Menschen in den Kokaanbaugebieten sind völlig auf sich selbst gestellt.
Die Bilder, die Menschen, die ich in diesen Gegenden getroffen habe, haben sich in meine Erinnerung eingebrannt und ich kann – so banal und abgedroschen das klingen mag – nicht anders, als an Ernesto Guevara und seine Reise durch Lateinamerika zu denken. Viel hat sich für die Menschen nicht geändert. Die Armut und Verzweiflung ist geblieben, nur die Antworten und Lösungen sind uns abhanden gekommen.
Doch vor allem in Kolumbien, in weiten Teilen aber auch in Peru setzen die Regierungen seit Jahrzehnten auf den militärischen Kampf gegen den Kokaanbau. Die Opfer der Armut werden zu Tätern und mit Kampfhubschraubern und Spezialeinheiten bekämpft. Mit der Folge, dass sich die Gegenseite ebenfalls bewaffnet, Anschläge verübt, die Felder vermint. Die USA unterstützen den militärischen Kampf mit Milliarden US-Dollar. Kampfhubschrauber, Flugbenzin, Ausbildung der Spezialkräfte – meist in Kolumbien – wird in Peru von den USA übernommen. All das riecht noch immer nach kaltem Krieg, Contras in Mittelamerika und der panischen Angst der Amerikaner vor einem Siegeszug nationalistischer Führer, die den Menschen versprechen, endlich am Reichtum dieses Kontinents beteiligt zu werden.
Die Paradoxie des Kampfes um das Koka-Blatt
Nach San Gabán habe ich den Entschluss gefasst, einen Film über die Koka-Pflanze und den politischen Indigenismo, den Kampf der Andenbevölkerung um ihre Rechte zu machen. Ich bin dankbar, dass sich am Ende ARTE und das schwedische Fernsehen für dieses gewagte Thema haben erwärmen können, denn von Anfang an war klar, dass das Thema jeden Film sprengen würde und es war nicht abzusehen, ob dieses Experiment gelingen würde.
Reportagen und Dokumentationen haben ihre ganz eigene Logik. Die Geschichten werden über Menschen und Landschaften erzählt. Situationen, die sich in Bilder fassen lassen. Ich habe das versucht und es war ein wichtiger Versuch, ob er gelungen ist, kann nur der Zuschauer entscheiden.
Als ich das geplante Projekt in Leipzig vor einer Auswahl international führender Redakteure präsentierte, mit einem kleinen Clip und einer kurzen Beschreibung des Projektes, da war ganz wichtig, dass beide Protagonistinnen, Elsa und Diana, „Mütter“ sind. Das hat die Herzen der RedakteurInnen erweicht. In der Vorbereitung zu der Präsentation wurde mir schnell klar, dass heute niemand mehr etwas von Bolivar und der Revolution in Lateinamerika hören will. Niemand möchte belehrt werden über Postkolonialismus und der fortschreitenden Ausbeutung, über Genozid an der indigenen Bevölkerung und Klassenkampf. Die Redakteure, die auf solche Reizwörter positiv reagiert hätten sind längst in Rente und vielleicht bin ich nicht einmal berufen in solchen Kategorien zu denken oder zu schreiben, bin ich doch selber viel zu sehr Dokumentarist, der einfach mit Bildern und Tönen zeigen will, was ist.
Das Problem bei diesem Film war, dass ich um, die Geschichte aufrichtig zu erzählen einen Diskurs über Dialektik hätte führen müssen. Da in dem Film kein Platz dafür war, habe ich bis heute das Gefühl, der Film benötigt einen Beipackzettel.
Das Paradoxe an dem Film und seiner These ist, dass der Film funktioniert, weil er einen wesentlichen Aspekt ausblendet. Ich versuche diesen Gedanken hier zumindest ansatzweise zu formulieren. Der Gedanke ist immer noch nicht ganz zu Ende gedacht und bedarf sicher noch einiger Monate, vielleicht Jahre an Abstand, um zu reifen.
Das Paradox, das der Film verschweigt – eigentlich die These, zu der ich mich nach all den Jahren, die ich mich nun mit dem Koka-Blatt herumgeschlagen habe, durchgerungen habe ist:
Es geht gar nicht um das Kokablatt.
Dennoch muss man einen Film darüber machen. Warum? Weil das Koka-Blatt zum wichtigsten Symbol des indigenen Widerstands geworden ist. Und weil das Koka-Blatt für die Gegenseite zum wichtigsten Vorwand für ihr militärisches Einschreiten geworden ist.
Den zweiten Teil des Artikels können Sie hier lesen.
Koka, Terror und der Inka-Aufstand
Regie: Marcel Kolvenbach
(Deutschland, 2008, 51min)
ARTE 08. September 2009
Fotos & Bildrechte: Marcel Kolvenbach.