Argentinien hat gewählt. Im nationalen Urnengang konnte Fernando de la Rúa, Präsidentschaftskandidat der oppositionellen Allianz, eine Mehrheit von über 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Von den Medien wurde dieses Ergebnis prompt als eine klare Absage der argentinischen Wähler an den regierenden Peronismus gewertet.
Wirklich klar war die Absage allerdings nur auf nationaler Ebene. Auf Provinzebene konnten bei den gleichzeitig stattfindenden Gouverneurswahlen einige peronistische Kandidaten beachtliche Siege erringen. Besonders zu erwähnen ist hier Carlos Ruckauf, der zum Gouverneur der Provinz Buenos Aires gewählt wurde und der als Arbeitsminister der Regierung von lsabel Perón, Innenminister der Regierung Menem und Vizepräsident der Nation während Menems zweiter Amtsperiode, auf eine beachtliche Karriere innerhalb des Peronismus zurückblicken kann.
Diese unterschiedlichen Ergebnisse auf nationaler und provinzieller Ebene machen Widersprüche deutlich, die man bei der Analyse der argentinischen Wahlergebnisse beachten muss. Es kann eben weder einfach von einer deutlichen Absage an den Peronismus als solchen noch von einem klaren Votum für de la Rúas Wahl-und Reformprogramm gesprochen werden. Auch kann das Wahlergebnis nicht hauptsächlich als eine Absage an den peronistischen Kandidaten Eduardo Duhalde betrachtet werden. Vielmehr ist, um die Wahlergebnisse zu verstehen, eine Blick auf die Amtszeit des peronistischen Präsidenten Carlos Menem nötig.
Menem hatte sich mit seiner Wirtschaftspolitik der liberalen Reformen und der sozialen Kälte sehr weit vom ökonomischen Programm des klassischen Peronismus entfernt. Hieraus erklärt sich, warum der Peronismus auf nationaler Ebene, der von den Wählern als „menemistischer“ Peronismus wahrgenommen wurde, eine Niederlage erlitt, während in den Provinzen peronistische Politiker, die den traditionellen Strömungen innerhalb der Partei zuzurechnen sind, wiedergewählt wurden. Gleichzeitig haben viele einstmals peronistische Wähler bei Menem, der in ihren Augen den ökonomischen Kern des Peronismus zerstört hatte, peronistische Regierungspraktiken und Machtmittel wie Klientelismus und Caudillismus nicht toleriert. Zusätzlich abgestoßen wurden sie, wie der größte Teil der Argentinier, von Menems extravagantem Personalismus und von der unter ihm alles beherrschenden Korruption und Misswirtschaft.
So war es vor allem die Erfahrung mit dem Peronismus-Menemismus, die dazu führte, dass die argentinischen Wähler der regierenden peronistischen Partei (Partido Justicialista) eine herbe Niederlage erteilten. Einstecken musste diese Niederlage allerdings nicht Menem selbst, der nach zwei Amtszeiten laut Verfassung nicht nochmals kandidieren durfte, sondern der peronistische Kandidat Eduardo Duhalde, der alles andere als ein politischer Verbündeter Menems ist.
Verstärkt wurde Duhaldes Niederlage schließlich auch dadurch, dass sein Wahlkampf von den nationalen Strukturen der Partido Justicialista manchmal offen sabotiert, aber immer vernachlässigt wurde. So war die Partei anfänglich vollkommen mit Versuchen beschäftigt, die argentinische Verfassung zu manipulieren, um Präsident Menem eine dritte Wiederwahl in Folge zu ermöglichen, und als sie damit scheiterte, widmete sie ihre ganze Energie der Vorbereitung von Menems Wahlkampagne 2003 (!).
Somit ist das nationale argentinische Wahlergebnis in Verbindung mit dem Ausgang der Gouverneurs wählen als eine Forderung nach der radikalen Abkehr von der Korruption und Misswirtschaft Menems, von seiner spezifischen Form des Peronismus und von den Auswüchsen seiner liberalen Wirtschaftspolitik zu werten. Diese Forderung spiegelte sich bestens in de la Rúas Wahlprogramm und seinen Prioritäten für die ersten Tage im Amt wider. Er versprach eine Reform des Gesetzes über den Staatshaushalt, eine Reform des Status der Nationalbank und ein Gesetz zur Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen.
Wichtiger als de la Rúas konkrete Programmpunkte waren für viele Argentinier aber sein Politikstil und seine Persönlichkeit. Denn mit der Absage der Argentinier an Korruption und Misswirtschaft eng verknüpft ist ihre Abkehr von der „argentinischen Tradition“ des ausgeprägten Personalismus und Klientelismus, der die Politik seit der Unabhängigkeit, sei es in Form des Caudillismus der ersten Präsidenten oder in Form des peronistischen Populismus, maßgeblich geprägt hat. Ganz im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Menem ist der neugewählte Präsident de la Rúa alles andere als eine zum Personalismus neigende oder für personalistische Praktiken auch nur geeignete charismatische Persönlichkeit. „Man sagt ich sei langweilig“, wiederholte er im Wahlkampf immer wieder; dieser Satz beschrieb nach Meinung der Mehrheit der argentinischen Wähler einen seiner größten Vorzüge.
So hat Menem also ein Charakteristikum des Peronismus, den Populismus, vollkommen diskreditiert, während er den ökonomischen Peronismus sowohl durch die liberalen Reformen als auch durch die Misswirtschaft seiner zwei Amtszeiten zerstört hat. Viel eher als von einer Absage der argentinischen Wähler an den Peronismus kann man also von Auflösungserscheinungen sprechen. Ob Argentinien mit den Wahlen ’99 den Peronismus aber tatsächlich überwunden hat, wird sich zeigen, wenn der erste Jubel über den Wahlsieg de la Rúas verklungen ist, die Umsetzung seiner Wirtschaftsreformen beginnt und die ersten, zwangsläufig großen Schwierigkeiten auftreten. Wird dann die negative Haltung gegenüber Populismus, Caudillismus und Klientelismus bestehen bleiben?