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Unser Süden

Francisco Coloane | | Artikel drucken
Lesedauer: 7 Minuten

Der Süden von Chile verdankt seine Entstehung dem Eindringen des Pazifischen Ozeans in das Längstal und dessen Absenkung. Auf der Meeresoberfläche blieben Inseln zurück, die zwischen den vielen Buchten, Kanälen und Fahrrinnen wie schwimmende Gärten wirken, in die – tausendjährigen Fingern gleich – die Überreste der Gletscher hineingreifen.

Weiter südlich jedoch konnten sich die Gletscher an ihren Plätzen behaupten. So auch der San Rafael, wo wir miterleben durften, wie sich von seinen hohen Wänden Eisbrocken lösten, die von der Meeresströmung beim Archipel Las Guaitecas auf die offene See hinausgetragen wurden. Noch südlicher ist es dann kein im Meer versunkenes Tal mehr, sondern die eigentliche Andenkordillere, die, an ihrer westlichen Wand von anderen Fjorden und Gletschern zerfressen, vorrückt.

Zwischen der Halbinsel Taitao und dem Messier-Kanal hält der Golfo de Penas seinen stürmischen Einzug. An den Gestaden dieser Halbinsel ging dereinst Charles Darwin auf seiner Weltreise an Land und tat die große Ergriffenheit kund, die er beim Anblick jener aus dem Meer ragenden steilen Felsen empfand, die die Erde in ihrem Herzen birgt. Welche frühzeitlichen Stürme diese an die ozeanische Oberfläche treten ließen, vermögen wir nicht zu sagen. Hinlänglich bekannt sind uns dafür aber die Stürme des Meerbusens, in dessen Abgrund Schiffe immer wieder spurlos verloren gehen. Erst unlängst traf es den Metallfrachter „Santa Fe“ mit zehntausend Tonnen Eisen Ladung und einunddreißig Mann an Bord. Einige Jahre zuvor verschwand der mit Weizen beladene, unter argentinischer Flagge fahrende Frachter „San Martin“ auf seinem Kurs nach Norden. Schwer zu sagen, ob der Golfo de Penas sie bugüber versenkte oder seitlich umkippen ließ, beides klassische Arten, ein Schiff im Sturm zum Kentern zu bringen. Ganz sicher aber ist auch nicht das kleinste Stückchen von ihnen jemals wieder aufgetaucht.

Ich habe diesen Golf viele Male durchschifft, ja ihm sogar eine der Wirklichkeit abgelauschte Erzählung gewidmet. Mein beeindruckendstes Erlebnis aber verdanke ich einer Fahrt an Bord der „Araucano“, des Mutterschiffes der nationalen U-Boot-Flotte. Ich zählte zu den wenigen, die sich während dieser Seereise auf den Füßen zu halten vermochten. Wahre Wasserberge widersetzten sich der „Araucano“, die wie ein großer Fisch dahinglitt und die Wellen durchpflügte. Durch ihr Schlingern verselbstständigten sich in den Salons und Speisesälen Stühle und Tische und verletzten sogar einige Passagiere. Ich bestieg die so genannte Kanzel, die letzte Kommandobrücke unter freiem Himmel, wo sich mir ein erhabenes Schauspiel mitten im Sturm bot: das Schiff rutschte wie ein Stück Treibholz über die Abhänge der Wasserberge, versenkte seinen Bug in der Tiefe und tauchte auf der mit Schaumfetzen gekrönten nächsten Woge wieder auf. „Halte durch, Alter“, hörte ich plötzlich einen Matrosen sagen, als ob er dem Schiff, das dem Sturm den ganzen Tag über getrotzt hatte, gut zureden wollte.

Hinter dem Golfo de Penas öffnen sich die ruhigen Wasser des westlichen Patagoniens mit dem Messier-Kanal, ein imposanter Wasserweg zwischen den hohen Wänden der Kordilleren. Die Schiffsreise bis zur Magellanstraße erstreckt sich über mehrere Tage und führt vorbei an Orten, die so beredte Namen tragen wie El Paso del Abismo. Die Passage macht ihrem Namen alle Ehre, denn der Durchlass ist so eng, dass die Gipfel der Anden sich hier zu berühren und die Sonne auszusperren scheinen. Diese Strecke schneidet mitten durch das Herz der Andenkordillere, lässt das Wasser des Stillen Ozeans einströmen und macht auf diese Weise Bahn für die Schiffsrouten am äußersten Ende der Welt. Zwei Giganten – die Anden und der Pazifik – scheinen sich hier ein Stelldichein gegeben zu haben, um in einem kosmischen Kinderspiel ihre Kräfte zu messen.

Seinen Höhepunkt findet das Labyrinth der patagonischen Kanäle in El Paso del Kirk, einem engen Wasserweg, der sich nur bei Gezeitenstillstand durchfahren lässt, da der Gezeitenstrom durch die enge Öffnung derart beschleunigt wird, dass selbst starke Schiffsmotoren dieser Kraft nicht gewachsen sind. Ein Schleppschiff gibt Signal, wenn die Enge gefahrlos passiert werden kann. Vermutlich ist eine große Schlucht in der Tiefe für eine solche Wut der Gezeiten verantwortlich. Die Wassermassen des Pazifiks reichen in diesem Abschnitt fast bis an die patagonische Pampa, laufen allerdings in dem Seno de Ultima Esperanza aus, dem sich der Lago Toro anschließt und der einer zweiten Magellanstraße gleicht, außer dass er nicht in den Atlantik mündet.

Nach Auffassung der Geologen soll die ganze Magellanstraße ein großer Gletscher gewesen sein, der das Loch zwischen Atlantik und Pazifik geschaffen habe. Gefunden hatte diese Durchfahrt im Jahre 1520 der große Seefahrer Ferdinand Magellan, dessen Statue sich auf der Plaza des schönen Städtchens Punta Arenas erhebt. Der zweite bekannte Seemann, Pedro Sarmiento de Gamboa, gründete zur Kolonisierung der Meeresenge die Siedlung Rey Don Felipe, die nach dem Hungertod all ihrer Bewohner als Puerto del Hambre in die Geschichte eingehen sollte. Sarmiento de Gamboa entdeckte auch das äußerste Ende des Südkontinents und taufte es Cabo Santa Agueda. Als nächster beführ der englische Korsar Francis Drake diese Route und gab dem Kap den bis heute auf Seekarten gängigen Namen Cabo Forward. Bleibt zu wünschen, dass die ursprüngliche Bezeichnung eines Tages wiedereingesetzt wird, was historisch gesehen nur gerecht wäre.

Im Süden der Magellanstraße liegt die 48.000 m2 große Insel Tierra del Fuego, die im Westen von zahlreichen Kanälen, Fjorden und Gletschern durchschnitten und im Osten in einer südlich nach unten verlaufenden Linie in einer Hochebene fortgesetzt wird, die eine Verlängerung der patagonischen Pampa ist. Jenseits von Kap Hoorn, bereits im offenen Meer der Drakestraße, erheben sich als letzte Klippen des zerstückelten Kontinents die Diego-Ramirez-Inseln. Auf ihrer Höhe erblickten wir eines Nachmittags in der Ferne die Antarktis. Am Horizont bot sich unseren Augen ein unvergessliches Schauspiel, als in allen Regenbogenfarben schillernde Inseln gleich einem weißen Zauberland vor uns erschienen. Zwischen den Südshetlandinseln mit ihren bizarr formierten Buchten und Kanälen setzten wir unsere Reise an Bord des Flottentransporters „Angamos“ fort bis zu der Marguerite Bay, dem Tor zur Antarktis.

Dieser weiße Kontinent ist eine Glorifizierung des Eises, des Schnees und des Sturms. Von dort marschierten wir zwei Monate lang zwischen Seerobben, Walen, Pinguinen und den Metamorphosen der Eisberge, die sich mal als schwimmende Schwäne, mal als flatternde Segelschiffe zeigten und Heerscharen von Krebsfressern, Mähnenrobben, Seeleoparden und Walrössern Heimstatt boten.

Dies ist grob skizziert unser Süden. Von Chiloe bis Kap Hoorn war er über tausend Jahre von den Huilliches, den Chonos, den Alakalufs, den Onas und den Yaghan-Indianern bevölkert. Mit der Ausrottung der Ureinwohner gingen auch nahezu ihr gesamtes Brauchtum und ihre Mythen verloren. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, an dieser Stelle das Heldenlied der Alakalufs und der Yaghans anzustimmen, die diesen unwirtlichsten Ort unseres Planeten zu bewohnen hatten. Wie vermochten sie zwischen diesen Felsen, wo nicht einmal eine Frucht gedeiht, sich fortzupflanzen und zu überleben? Ihre Körper in Nutria- und Robbenfelle gehüllt, ernährten sie sich von Fischen und Muscheln und schafften es, sich über viele Jahrhunderte hin zu behaupten – bis zur Ankunft des weißen Mannes, der ihr Dasein mit seinen Feuerwaffen, seinem Schnaps und seinen Infektionskrankheiten kurzerhand und unwiederbringlich auslöschte. Ich nenne es ein Heldenleben, denn nach den Alakaluf hat kein menschliches Wesen mehr in diesen Gegenden existieren können. Einzig in dem Buch „Die Nomaden des Meeres“ des französischen Ethnologen Joseph Emperaire leben sie noch fort. Ihre Gottheit war der böse Unterwassergeist Ayayema, der ihre Kanus umschlagen ließ, was einer Identifizierung von Gott mit der erbarmungslosen Natur gleichkommt. Stirbt ein Alakaluf, – so Emperaire – wird sein in ein großes Robbenfell eingenähter Leichnam mit zwei großen Steinen auf der Brust beschwert in sein Kanu gelegt und dem Meer übergeben, wo der stürmische Geist von Ayayema ihn ins Unbekannte treibt. Schöne Bestattung, diese, wo der Körper dem blinden Zufall des Windes und den Strömungen des Südens überlassen wird und die an jenen tiefsinnigen Gedanken Goethes erinnert:

„Seele des Menschen, Wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, Wie gleichst du dem Wind!“

Die Yaghan-Indianer von Kap Hoorn nannten ihren Gott „Wollapatuch“, was „der große Mörder“ bedeutete, eine weitere Weise den Schöpfer mit den grausamen Stürmen des berühmten Kaps gleichzusetzen, wo, wie es heißt, der Teufel mit Ketten angebunden ist, die er in stürmischen Nächten hinter sich herschleppt und klirren lässt, in unserem dramatischen und phantastischen Süden.

(Oktober 1967)

Aus dem Span.: Gabriele Eschweiler

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