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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Alle Latinos sind gleich, aber manche sind gleicher

René Ceballos | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

Es ist schon merkwürdig, wer im Ausland lebt, wird stets mit den bereits bestehenden Klischees identifiziert. Damit meine ich die Anwandlung, anderenorts zu meinen, etwas anderes für das Land der zufälligen Geburt zu empfinden als zu Hause. Dieses Phänomen ist durchaus verbreitet in der sogenannten „colonia latina“ eines x-beliebigen Landes. Die Entfernung zwischen den Individuen und ihrer Heimat produziert scheinbar ein Einigkeitsgefühl. Dieses fadenscheinige Gefühl der Zusammengehörigkeit ist vorübergehend, denn mit der Rückkehr in die Heimat wird es als überflüssig abgelegt. Der berühmte Ruf des Mutterlandes, der uns einlädt mit den „Unsrigen“ zu verweilen, wird reduziert oder übersetzt auf das bloße zufällige historische Moment der gemeinsamen Sprache; der bequeme Weg der einfachen Kommunikation. Dies kann man nicht negieren. Das heißt aber nicht, daß immer einer den anderen versteht. Ohne Zweifel, die verbale Irreführung zwischen uns vergrößert sich von Nation zu Nation, sogar innerhalb ein und desselben Landes. „Na, Bruder, wie geht’s?“; diesen Gruß hören wir häufig von denen, die sich selbst Latinos nennen. Wenn ich es höre, liegt mir die Frage auf der Zunge: „Wie heißt Deine Mutter, sind wir gar Verwandte und ich ging durch das Leben die ganze Zeit, ohne es gewußt zu haben?“; oder im schlimmsten Fall: „Was denn … haben wir dieselbe Mutter?“ Dieser Gruß beinhaltet viele Werte und dies wiederum setzt eine Palette von Merkmalen voraus, welche man gemeinsam zu besitzen glaubt. Ich bin damit einverstanden, daß durch die Sprache eine Transmission von Kulturwerten erfolgt. Sie ist die Eroberung der Ratio, aber auch ein Mittel des Betrugs. Dieser Gruß ist nichts anderes als eine verbale Äußerung scheinheiliger mißverstandener Solidarität, Produkt des Auslandaufenthaltes und mehr der Wunsch nach Identifikation mit etwas …, mit irgendetwas. Der Wunsch der Identität war schon vorhanden, bevor man losfuhr, wird aber erst in der Ferne spürbar. … Gleichzeitig frage ich mich, ob diese Leute sich auch früher so scheißfreundlich benommen haben. Die Antwort ist im allgemeinen Nein, weil das nicht nötig war. Es handelt sich vielleicht nur um einen menschlichen Wesenszug. Warum bezeichne ich dieses Benehmen als falsche Solidarität? In Wirklichkeit handelt es sich um eine fiktive Solidarität und ich nenne sie irreal, weil sie zwischen den lateinamerikanischen Ländern nicht existiert. Besser gesagt, es ist eine Antwort auf ein erhofftes Einigkeitsgefühl, welches nie erreicht worden ist und dessen Erfüllung mir unmöglich erscheint, ja praktisch utopisch. Es wird einfach die Realität in Lateinamerika vergessen.

Auf die Frage: „Bist Du Latino?“, gebe ich die Antwort: „Nein, ich bin Mexikaner und wenn Du willst, bin ich auch Lateinamerikaner; aber Latino niemals“. Andere wundern sich: „Was … Latino und Du tanzst keine Salsa!“

Ähnlich wie mit der Sprache, identifizieren sich die Leute mit der Musik, mit der sie geboren wurden und aufgewachsen sind. Ich habe keine Zuneigung zu dieser Musik, sie sagt mir nichts, denn sie war in meinem Milieu nicht üblich. Durch meinen musikalischen Geschmack wirke ich oft auf die Latinos als befremdend; einige würden sogar meinen, ich bin ein „Verräter“. Nur deshalb, weil ich keinen Bezug zu den Liedtexten finde, fühlen sich manche beleidigt, sogar angegriffen. Das ist nicht meine Absicht, wie auch nicht die, ihnen zu erklären, warum mir dieses oder jenes Lied nicht gefällt. Die musikalische Varietät zu der man in Mexiko-City Zugang hat, kommt einem manchmal unendlich vor.

Die Möglichkeiten, sich für die eine oder andere Strömung zu entscheiden, sind sehr breit. Das heißt, man kann wählen, ohne sich unbedingt dafür zu entscheiden, was man im Ausland als typisches Merkmal der Lateinamerikaner annimmt: „musica tropical“ und „mariachis“. Ab und zu hört man sie doch, aber mit einer anderen Einstellung; vielleicht, um sich darüber „lustig“ zu machen. Lustig über sich selbst, weil man betrunken ist und nur in einem solchen Zustand diese Musik verstehen oder ertragen kann.

Wenn ich meine, ich bin Mexikaner, bedeutet das nicht, daß ich besser oder schlechter als die anderen bin. Es geht mir darum, kein Latino zu sein, kein Vetreter dieser fiktiven Identität, die ein Geschwür einer verfaulten Tradition ist. Definitiv bekenne ich mich nicht zu dieser sogenannten Latino-Brüderlichkeit oder besser gesagt, ich will mich nicht dazu bekennen. Eine monolithische, aber vielseitige Identität, welche von nutzlosen Gedanken belastet ist, die zu nichts führen, und wenn überhaupt, zu einem chronischen und weitschweifigen Verschleiß. Sie ist auch anachronistisch und überflüssig.

Sie möchte nicht akzeptieren, daß wir in einer Zeit leben, die uns dazu zwingt, eine anonyme Ziffer zu werden. Diese Leute, die Latinos, erleben eine regionale Realität, welche unter den schlimmsten Bindungen leidet: Bindungen der Vergangenheit. Sie denken, sie handeln selbständig, aber es sind andere, die für sie denken und entscheiden: eine uralte Sitte, Archetypen, die zu Mythen geworden, von Generation zu Generation überliefert werden. Es handelt sich um ein Phänomen der Imitation und Kontinuität, welches darin besteht, die von den Vorfahren durchgesetzten Schemata am Leben zu erhalten, obwohl sie heutzutage dekadent und überflüssig erscheinen.

Lateinamerikaner versus Latino, worin besteht der Unterschied? Mehr als einer stellt sich diese Frage, ich auch. Ständig. Glücklicherweise finde ich jeden Tag Bestätigung dafür, so daß ich meinen Standpunkt festigen kann. Das bedeutet nicht, daß ich mich nicht mit dem Ideal der Einheit Amerikas, durch Bolívar und andere Persönlichkeiten verbreitet, identifizieren kann. Man kann durchaus von einem Ideal überzeugt sein, ohne sich dabei in eine Reihe mit den Akteuren zu stellen. Dabei muß man sich fragen, inwieweit sie selbst das Ideal zerstören. Ich fühle mich von einem Einheitsideal angesprochen, aber nicht von einem lateinamerikanischen, das wäre ja Chauvinismus, auch nicht von einem universellen Ideal der Einheitlichkeit, welche überholt ist, sondern von einem Ideal der „Einheit“.

Hinsichtlich des Unterschieds zwischen Latinos und Lateinamerikanern glauben viele, daß es sich beim ersten Begriff um eine Abkürzung eines längeren, schwierig auszusprechenden Wortes handelt. Zunächst könnte es sich doch um eine Abkürzung handeln, jedoch ist es nicht so. Das Wort Latino hat sich in einen voll von Vorurteilen und Stereotypen belasteten Begriff gewandelt. Die meisten von diesen Stereotypen und Vorurteilen tragen wir seit langem mit uns. … Falls sie bereits identifiziert und als vorhanden akzeptiert sind, steht ein unmittelbares Problem und zwar sie zu bekämpfen, sie anzunehmen und nicht zu verdrängen, was der häufigste Fall ist. Diese Vorurteile offenbaren sich meistens als Machismo, Übermacht und Minderwertigkeitskomplex, welche in ein und derselben Person mit unterschiedlichen Abstufungen vorkommen können. Der Latino ist sich nicht dessen bewußt, daß es diese Vorurteile einschließt, sie übt und häufig bis zur Grenze des Lächerlichen treibt. Im allgemeinen akzeptiert er nicht, daß sein Verhalten mit dieser Betonung der männlichen Überlegenheit belastet ist. Das ist nicht zu negieren, aber es ist auch verständlich, daß er sie nicht erkennt, da der Latino sein ganzes Leben solch eine Färbung in seinem Benehmen unterdrückt hat. Sie liegen so tief in seiner Geschichte verwurzelt, daß er sie nicht mehr sehen kann. Andererseits gibt es manche, die so ein Verhalten stolz billigen und versuchen, es zu verbreiten: die Latinos haben warmes Blut, sind temperamentvoll, leben in den Tag hinein, genießen und riskieren ihr Leben jeden Tag und für jeden Preis. Dies entspricht genau der Antwort der Mehrheit, wenn man um die Beschreibung eines Latinos bittet. Das heißt, was man zur Antwort bekommt, ist die Deskription eines durch die Latinos selbst geübten und verkauften Stereotyps. Es scheint mir wichtig an dieser Stelle eine Erklärung zu versuchen von dem, was im Latino-Begriff versteckt und eingewickelt ist. Wie gesagt, die Latinos prahlen mit ihrer männlichen Überlegenheit bewußt oder unbewußt, wie auch immer. Die kann man besser bemerken, indem man nur auf ihrer Konversation und ihr Verhalten achtet. Dabei sollte man das Wort Macho nicht erwähnen, weil sie sich angegriffen fühlen können, oder dazu neigen es zu negieren. Ein Macho gibt damit an, so männlich zu sein, daß es dazu fähig ist, gegenüber jedem Lebewesen seine Sexualität durchzusetzen. Er grenzt in vielen Fällen sogar an die Sodomie. Andererseits wird von ihm die Existenz und Praxis der Homosexualität verabscheut. Es kommt auch vor, daß seine begrenzte Wahrnehmung der Realität ihn daran hindert, solche Tendenzen zu akzeptieren. Er hat ungern Kontakt mit Leuten, die seine sexistische Ideologie nicht teilen. Derjenige, der zugibt, nur eine Frau zu haben, wird sofort als schwach (impotent) oder als Feigling bezeichnet. Ein Macho muß immer eine führende und entscheidende Rolle in jeder Beziehung spielen, ob sexuell oder in einer anderen Art. In diesem Verhalten sehe ich ein Paradoxon. Nämlich: der Macho ist sogar fähig, eine homosexuelle Beziehung einzugehen (was er von vornherein verabscheut), unter der Bedingung, daß er die aktive und dezisive Rolle (niemals die passive) spielt. Er soll der Ausfuhrer sein. Dies dient ihm nur, um seine Männlichkeit zu beweisen, seine Fähigkeit, die anderen zu besitzen mittels seines Geschlechts, sowie sein „Durchdrungen“ und das Schwachsein der anderen. Ein anderer Widerspruch seines Betragens taucht auf, wenn er mit sich selbst oder seinem Handeln konfrontiert wird. Diese Schwäche anzuerkennen, würde bedeuten, Macht in seiner sexuellen Hegemonie zu verlieren. Ein durchaus unter den Latinos verbreitetes Symptom ist die Herrschaft über die Frauen: für sie schwache beherrschbare Wesen. Daraus kann man die Verdrängung eines Minderwertigkeitskomplexes sowie ihre Unsicherheit anderen gegenüber erkennen. In Wirklichkeit bedeutet dies, das sie die Macht, mit der sie prahlen, nicht besitzen.

Komischerweise, das Macho-Merkmal beschränkt sich nicht nur auf das männliche Geschlecht, sondern schließt in vielen Fällen auch das weibliche Geschlecht ein. Diese Erscheinung möchte ich „Betonung der weiblichen Überlegenheit“ (Hembrismo) nennen. Wenn der Machismo existiert, kann man sich einfach vorstellen, daß es auch einen Hembrismo gibt. Nun ja, Hembras sind auch in Lateinamerika wie in Europa (wie die Machos) zu finden, obgleich in einer diskreten oder getarnten Form. Die Hembras sind nicht so einfach wie die Machos zu erkennen. Eine Hembra ist nicht unbedingt eine Frau, die sich gegen einen Macho empört oder gegen ihn kämpft. Hembras folgen dem Macho in seinem Spiel, sie fordern ihn sogar heraus, in einer solchen Art und Weise zu handeln. Sie sind stolz darauf, daß ihre Männer so männlich sind. Man könnte sich vorstellen, wenn die Latinos Machos sind, dann sind die Latinas Hembras. Ich denke nicht, daß das die Regel ist. Der Macho braucht immer, um sich zu behaupten, eine Hembra, ohne darauf zu achten, was für eine Nationalität sie hat. Daß es Lateinamerikanerinnen gibt, die eine solche Rolle annehmen, ist nicht zu übersehen. Vielleicht, weil sie keine andere kennen.

Zurück zum Gruß: „Brüder … „. Dabei ist es auffällig, daß ein Latino niemals eine Frau mit dieser Grußform anredet: „Schwester … „. Warum? Weil für einen Latino jede Frau potentiell ein sexuelles Objekt ist. Der Latino regiert sich, Frauen gegenüber, nach folgendem Schema: er respektiert erstens die Heilige Jungfrau Maria, zweitens seine Mutter, drittens seine Schwester(n) und am Ende seine Frau bzw. Freundin. Dieses Schema schließt die Möglichkeit der Vergewaltigung in der Ehe bzw. Partnerschaft nicht aus. Alle übrigen Frauen, das heißt alle, die im Schema nicht berücksichtigt werden, sind Huren. Deswegen kann ein Latino unmöglich eine Frau mit „Schwester, wie geht’s Dir!“ anreden, weil dies „Koketterie“ mit dem Inzest wäre. Das alles erlaubt mir zu sagen: “ Ich bin kein Latino“.

Der Versuch, uns Werte, die uns theoretisch eng verbinden, wie Ideale, Musik oder Weltanschaung, anzueignen, stürzt uns tiefer in die Zerstreuung, Apathie und Entzweiung. Wenn die unterschiedlichen Vorurteile und Stereotypen des Verhaltens bekannt sind, kann man das Sein befreien und entdecken, was es jenseits der Grenze der Provinzialität gibt.

Zuletzt möchte ich nur sagen, daß Lateinamerika nicht besser wird, solange den Lateinamerikanern ihre Komplexe und Vorurteile nicht bewußt werden, sie diese akzeptieren und etwas dagegen unternehmen. Das heißt, Lateinamerika wird besser, wenn wir Lateinamerikaner besser werden. Die Veränderung muß vom privaten Bereich in den öffentlichen gehen, vom individuellen in den gesellschaftlichen. Der Wandel soll im Bewußtsein, in Psyche und Eros stattfinden, in irgendeiner Weise, aber jetzt, man darf nicht .mehr warten, bis es noch später wird.

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