Das Parteiensystem des Landes ist stark zersplittert, rechtslastig, gegenüber anderen Machtfaktoren wie Armee und Unternehmerverband CACIF wenig durchsetzungsfähig und in der Erfüllung seiner Funktionen (Legitimierung des Systems, politische Willensbildung, Interessenvermittlung) defizitär. In ihm spiegeln sich viele Pathologien der Politik und Gesellschaft: Korruption, schrankenloser Opportunismus, irrationaler Antikommunismus, Gewaltbereitschaft sowie Mangel an Gesellschaftsprojekten. Ein Blick auf seine Geschichte wie nach vorn zeigt aber auch jene längst verloren geglaubten Ansätze einer „neuen“ Politik, die nicht allein auf die Macht und die Mächtigen fixiert ist.
Die ersten Parteien, die das Attribut „modern“ verdienten, waren die Parteien der Revolutionszeit (1944-54). Vor 50 Jahren gingen aus der FUPA, der anti-diktatorischen Einheitsfront gegen General Ubico, RN und FPL als Parteien der revolutionär gesinnten Intellektuellen hervor. Daraus entstanden dann die führenden Parteien der Arbenz-Regierung, der PAR (1947) und der PRG (1952). Die zunächst im Schöße des PAR wirkenden Kommunisten gründeten 1949 eine eigene Partei, die sich 1952 in PGT umbenannte.
In der zweiten Etappe, der Ära der Konterrevolution (1954-63) betraten als erste die DCG (1955), der MDN (1955) und der PR (1957) die politische Bühne. Der MLN, der sich 1960 vom MDN abgespalten hatte, ersetzte diesen als Flaggschiff des Antikommunismus, während die Christdemokraten mehr die Mitte und der PR das, was links noch erlaubt war, repräsentierten.
Die repressiven Counterinsurgency-Diktaturen (1963-82) wurden nur für kurze Zeit (1966-70) durch eine Zivilregierung des Präsidenten J. C. Mendéz Montenegro (PR) unter der Fuchtel der Generäle unterbrochen. Ihr folgten mehrere fassadendemokratische Militäregierungen (Arana Osorio 1970-74, Laugerud García 1974-78, Lucas Garcia 1978-82). In dieser Periode gesellten sich v.a. Rechtsparteien dem politischen System hinzu. Die bedeutendste war der extrem rechte PID, 1966 als politischer Arm der Armeeführung gegründet. In den 70er Jahren ergänzten FUN und CAN das Rechtsspektrum. Auf dem linken Rand konsolidierte sich der FUR (1958 vom PR abgespalten, 1979 als Partei registriert), gefolgt vom PSD, der diesem Weg (1972 Trennung vom PR, 1985 Einschreibung) nach links ebenfalls gegangen war. Die Ermordung der Führer beider Linksgruppierungen, M. Colom Argueta (FUR) und A. Fuentes Mohr (PSD) im Jahr 1979 signalierte unübersehbar, dass vor dem Hintergrund wachsender Repression selbst Linksliberalen kein politischer Spielraum mehr
zugestanden wurde. Auch der PDC wurde mehrfach um seinen Wahlsieg (so 1974 mit Rios Montt als Kandidat) geprellt und musste seine Aktivitäten mit dem Tod zahlreicher Partei-Aktivisten bezahlen. Als politische Feigenblätter der Generalspräsidenten der 70er Jahre dienten Koalitionen zwischen rechten Parteien verschiedener Couleur, deren zentrale Achse der PID war (1970-78 mit MLN; 1978-82 mit PR). Der PID besaß aber nie jene Stellung als unangefochtene „offizielle Partei“ des Regimes, wie es im Nachbarland El Salvador (PCN) der Fall war. Parteien hatten in Guatemala eine viel geringere Bedeutung für die Machtausübung der Militärs.
Mit dem Übergang in die Counterinsurgency-Demokratie ab 1982 gab es zahlreiche Parteineugründungen. Zu den wichtigsten zählen die UCN (1984), die einem liberalen Selbstverständnis folgt, die MAS (1987), eine eher konservative Partei, der FRG (1989) des Ex-Putschisten Rios Montt, eine rechts-extreme Partei, und schließlich der PAN (1985/86), eine sich modern gebende Rechtspartei, die ihre Anhängerschaft vor allem in der Hauptstadt hat. Obwohl der PCD den ersten Präsidenten der politischen Liberalisierung, V. Cerezo (1986-90), stellte, hat er seitdem an Bedeutung verloren, besitzt aber immer noch die meisten Mitglieder (ca. 90.000). Bei den Wahlen 1990 wurde die UCN stärkste Partei, musste im zweiten Wahlgang aber den Sieg von Serrano (MAS) akzeptieren. Nach dem Scheitern des Serranazo (siehe Chronologie) 1993 war der FRG von Rios Montt im politischen Aufwind. Mit den jüngsten Wahlen vom 12. November dieses Jahres dürfte sich der Wind zugunsten des PAN gedreht haben. Fataler Hintergrund dieses Trends ist jedoch das sprunghafte Ansteigen der Wahlenthaltung seit 1984: Bei den Parlamentswahlen 1994 enthielten sich fast 80% der Wahlberechtigten ihrer Stimme, 1995 waren es nach Schätzungen immer noch fast 60%.
Bei den letzten Wahlen konnte mit der FDNG, die erst im Frühjahr von Persönlichkeiten aus der Volks- und Bürgerbewegung gegründet worden war, erstmals seit 1954 ein linkes Wahlbündnis einen Achtungserfolg landen. Ein nicht zu übersehendes Zeichen des politischen Aufbruchs der indianischen Bevölkerungsmehrheit ist die Beteiligung von Nukuj Ajpop (dt.: Versuch zu regieren) an der FDNG. Nukuj Ajpop ist damit die erste Maya-Organisation, die sich explizit als politische Gruppierung versteht. Linksbündnis und indígena-Partei sind der Beginn einer neuen Etappe des guatemaltekischen Parteiensystems, in der vielleicht die Defizite überwunden werden können und Linke wie indígenas ihren Platz im legalen Parteiensystem finden.
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CACIF- Comité Coordinador de Asociaciones Agrícolas, Industriales, Comerciales y Financieras (Koordinierungskomittee der Agrar-, Industrie-, Handels- und Finanzverbände)
CAN – Central Auténtica Nacionalista (Authentische Nationale Zentrale)
DCG – Democracia Cristiana Guatemalteca (Christdemokratie)
FDNG – Frente Democrático Nueva Guatemala (Demokratische Front Neues Guatamala)
FPL – Frente Popular Libertador (Volksbefreierfront)
FRG – Frente Republicano Guatemalteco (Guatemaltekische Republikanische Front)
FUPA- Frente Unido de Partidos Arevalistas (Einheitsfront der Arevalistischen Parteien)
FUN – Frente de Unidad Nacional (Front der Nationalen Einheit)
FUR – Frente Unido Revolucionario (Revolutionäre Einheitsfront)
MAS – Movimiento Acción Solidaria (Solidarische Aktionsbewegung)
MDN – Movimiento Democrático Nacionalista (National-Demokratische Bewegung)
MLN – Movimiento de Liberación Nacional (Bewegung der Nationalen Befreiung)
PAN – Partido de Avanzada Nacional (Nationale Fortschrittspartei)
PAR – Partido Acción Revolucionaria (Revolutionäre Aktionspartei)
PGT – Partido Guatemalteco del Trabajo (Guatemaltekische Partei der Arbeit)
PID – Partido Institucional Democratico (Institutional-Demokratische Partei)
PR – Partido Revolucionario (Revolutionäre Partei)
PRG – Partido de la Revolución Guatemalteca (Partei der Guatemaltekischen Revolution)
PSD – Partido Socialista Democrático (Demokratische Sozialistische Partei)
RN – Renovación Nacional (Nationale Erneuerung)
UCN – Unión del Centro Nacional (Union des Nationalen Zentrums)
(Die Jahreszahlen, die im Text hinter des Parteinamen in Klammern stehen, geben das Gründungsjahr.)