Beschreibungen von und Berichte aus Patagonien und Feuerland gibt es zahlreiche. Von Fahrten zu Wasser, zu Lande oder sogar in der Luft zeugen Aufzeichnungen der europäischen Entdecker seit dem frühen sechzehnten Jahrhundert bis hin zu denen der Abenteurer unserer Tage. Magellan (1480- 1521) entdeckt im Jahre 1519 die Südspitze Amerikas auf seiner ersten Weltumsegelung und gibt Patagonien und Feuerland (Tierra del Fuego) ihre Namen. Auf seine Darstellung folgen die vieler Seefahrer, die den nicht ungefährlichen Seeweg um die Südspitze Amerikas in den Pazifik wählen, um so beispielsweise zu den Gewürzinseln und später – in den Zeiten des Goldrausches – nach Kalifornien zu gelangen. Bei diesen Reisen spielt ein berühmt-berüchtigter Felsen, an dem die Wellen des atlantischen und des pazifischen Ozeans unaufhörlich aufeinandertreffen und sich brechen, eine ganz besondere Rolle: Kap Hoorn, im Jahre 1616 von den niederländischen Seefahrern Scheuten und Le Maire entdeckt und nach ihrem Heimathafen benannt.
Die unzähligen Unglücksfälle, die sich vor diesem „Kap der Stürme“ über die Jahrhunderte hin ereignet haben, verleihen ihm den Ruf des größten Schiffsfriedhofs der Welt. Aus der Fülle der Kap-Hoorn-Literatur ragt der Roman White Jacket (Weißjacke) des Amerikaners Herman Melville heraus, der damit in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dem Kap ein literarisches Denkmal setzt.
Anfang unseres Jahrhunderts erobern die Flieger das relativ unbekannte und endlos weite Land am Fuße Südamerikas. Der Franzose Antoine de Saint-Exupéry ist einige Jahre als Betriebsdirektor der „Companie Generale Aeropostale Argentina“ und als Flieger in Argentinien tätig. Er vermittelt uns in seinen Werken Vol de nuit (Nachtflug) und Terre des hommes (Wind, Sand und Sterne) literarische Luftaufnahmen von Patagonien.
1975 wandert der Engländer Bruce Chatwin hier fast ein halbes Jahr lang und sammelt Material für sein erfolgreiches Reisebuch In Patagonia (In Patagonien). Aber keinem dieser reisenden Autoren ist es gelungen, das Wesenhafte und das Eigentliche dieser Landschaften und ihrer Bewohner so überzeugend und lebendig einzufangen und darzustellen wie dem Chilenen Francisco Coloane (* 1910). Im Gegensatz zu den europäischen und nordamerikanischen Autoren, die in diesen Regionen nur vorübergehend – über längere oder kürzere Zeiträume – weilen durften oder wollten, hat Coloane am äußersten Ende Südamerikas entscheidende Teile seiner Jugend- und frühen Mannesjahre verbracht. Die für Außenstehende abenteuerlich und wild romantisch anmutende Welt der Seeleute, Robbenjäger, Walfänger und Schafhirten war für ihn der gewöhnliche Rahmen, in dem er sich tagaus, tagein zu bewegen hatte.
Seinen ersten literarischen Erfolg feiert Francisco Coloane 1941 mit dem Jugendbuch El último grumete de la Baquedano (Der letzte Schiffsjunge der Baquedano), für das er den Kinderbuchpreis des Verlagshauses Zig-Zag erhält. Noch im gleichen Jahr veröffentlicht er den ebenfalls preisgekrönten ersten Erzählband seiner „geografischen Trilogie“ Cabo de Hornos. 1945 folgt Golfo de Penas und 1956, bereits auf dem Höhepunkt seines Erfolges, der dritte Band Tierra del Fuego (Feuerland), für den er wieder einen Preis erhält. In diesen Erzählungen führt Coloane seine Leser in die Welt des Abenteuers, der selbst gewählten oder zwangsweise erfahrenen Einsamkeit, des Kampfes zwischen Mensch und Natur am südlichsten Ende von Amerika. Die Kulisse dazu bilden das stürmische Meer, die endlosen Ebenen Patagoniens und die erdrückende, einsame Weite Feuerlands. Seine Protagonisten sind Seeleute, Schiffbrüchige, Fischer, Robbenjäger, Walfanger, Goldwäscher, entlaufene Sträflinge, die Ureinwohner Feuerlands und ihre grausamen Schlächter, die aus reiner Geldgier verbunden mit grenzenloser Überheblichkeit Völkermord begehen.
1945 veröffentlicht Coloane sein Theaterstück La Tierra del Fuego se apaga (Feuerland erlischt). Der krankhaft eifersüchtige Siedler Mac Namara tötet seine Geliebte, die Ex-Prostituierte Susana und endet im Wahnsinn. Das Stück wird im Jahre 1957 in Santiago de Chile aufgeführt, ist aber kein Erfolg. Weder das zeitgenössische chilenische Publikum noch die heimische Kritik vermögen diesem feuerländischen Othello und seiner Desdemona so recht etwas abzugewinnen. Daraufhin gibt Coloane weitere Versuche auf dem Gebiet des Dramas auf.
Parallelen zu klassischen Stoffen der Weltliteratur wie hier finden sich auch in den Erzählungen. In La voz del viento (Die Stimme des Windes) orientiert sich Coloane am Lukreziastoff. Die Bordellbesitzerin „La Cinchón Tres Vueltas“, die häufig in seinem Werk vorkommt, weckt Assoziationen an die Figur der Celestina.
Der Roman Los Conquistadores de la Antártida (Die Eroberer der Antarktis), der die Fortsetzung seines ersten Romans El Ultimo grumete de la Baquedano ist, wird im gleichen Jahr (1945) veröffentlicht. Beide Bücher sind klassische Abenteuerromane, die die Anforderungen an das Genre erfüllen. Den jugendlichen Lesern werden neue Welten eröffnet, da auch für die meisten Chilenen der äußerste Süden ein unbekannter Teil ihres Heimatlandes ist. Die Erzählhandlung ist spannend und lehrreich. Zivile Tugenden wie Mutterliebe und Respekt vor dem Alter zeichnen die mutigen jungen Helden aus.
Ausgehend von seiner eigenen Erfahrung an Bord von Walfängern und unter dem Einfluss der noch frischen Eindrücke einer Antarktisexpedition entsteht 1963 Coloanes dritter Roman El camino de la ballena (Der Weg des Wals). Das Erzählgeschehen nimmt diesmal seinen Ausgang auf Chiloé, Coloanes Geburtsinsel, die ebenso reich an Legenden wie das Feuerland und die Inselwelt südlich der Magellanstraße ist. Im darauffolgenden Jahr wird Francisco Coloane der nationale Literaturpreis seines Heimatlandes, Premio Nacional, verliehen. Nach einer längeren Schaffenspause veröffentlicht er 1980 seinen bisher letzten und besten Roman Rastros del guanaco blanco (Spuren des weißen Guanakos). Hier zeigt sich noch deutlicher als in den Erzählungen Coloanes narrative Begabung und seine Fähigkeit, ein vielschichtiges und äußerst komplexes Handlungsgefüge aufzubauen. Historisches steht neben Mythischem, Fiktives neben Realem, fremdes Textgut neben Eigenem. Noch stärker als in den Erzählungen spielen die jahrhundertealten Überlieferungen der Feuerlandindianer sowie authentische historische Ereignisse und Personen eine wesentliche Rolle. Der Roman erzählt die Geschichte der Ona-Indianer von ihren dunklen Anfängen bis hin zu ihrer grausamen Ausrottung Anfang unseres Jahrhunderts. Dieses Volk, das in absolutem Einklang mit der Natur zu leben verstand und über eine äußerst komplexe Sprache verfugte, wurde von den weißen Siedlern und ihren Helfern als primitiv eingestuft und erbarmungslos ausgemerzt. Die Rahmenhandlung des Romans erzählt die Geschichte der jungen Mestizin Georgina Sterling, die bei einer Vergewaltigung ihrer Mutter Men Nar durch mehrere weiße Siedler gezeugt wurde und als Mittlerin zwischen den beiden Kulturen steht. In der Frage, ob der Mann, den sie, später heiratet und von dem sie ein Kind erwartet, ihr leiblicher Vater ist, wird das Inzestmotiv angedeutet. In die Haupthandlung eingeflochten werden Berichte über die Entwicklung der Stadt Río Grande, die Geschichte des Anarchisten Simon Radowitzky und die eines Schiffbruchs vor Kap Hoorn sowie die Legenden der Ona-Indianer. Eingebaut sind auch der Bericht von der politischen Inhaftierung des argentinischen Schriftstellers Ricardo Rojas im Gefängnis von Ushuaia und Texte des „Diktators von Feuerland“, Julio Popper, der als Goldwäscher und Unternehmer für kurze Zeit zu Ruhm und Wohlstand kam, beide aber schnell wieder verlor.
Von einem längeren Aufenthalt in Indien berichtet Coloane in den 1983 veröffentlichten Crónicas de la India (Berichte aus Indien).
Lange bevor Coloane durch seine Romane und Erzählungen bekannt wurde, hatte er sich schon als Reporter einen Namen gemacht. Davon zeugt der 1995 publizierte Band Velero Anclado (Segelschiff vor Anker), der neben Reiseberichten und frühen journalistischen Arbeiten auch Essays über Pablo Neruda und Yerko Moretic enthält.
Im gleichen Jahr erscheint ein weiterer Erzählband unter dem Titel Golfo de Penas. Dieser ist keine Wiederauflage des Bandes von 1945, sondern beinhaltet neben drei bekannten weitere fünfzehn bis dato in Buchform unveröffentlichte Erzählungen.
Coloanes Werk ist in viele Sprachen übersetzt. Verschiedene seiner Erzählungen und Romane sind auf die Leinwand gebracht. Die bisher beste filmische Umsetzung, die auch die uneingeschränkte Zustimmung des Autors fand, ist die seines ersten Romans El último grumete de la Baquedano (Regie: Jorge López). Zur Zeit wird in Punta Arenas Tierra del Fuego nach dem Drehbuch von Coloanes Landsmann und Bewunderer Luis Sepúlveda verfilmt. Regie führt der Chilene Miguel Littin.
Coloanes unumstrittenes Verdienst ist es – und darüber sind sich seine Kritiker trotz aller sonstigen Divergenzen ausnahmslos einig -, Patagonien und Feuerland für die Literatur entdeckt und als literarische Landschaften erschlossen zu haben. Mit seinen fesselnden Erzählungen und Romanen spricht er ein breites Publikum an, was die hohen Auflagen und die vielen verliehenen Preise belegen. Dass es sich bei Coloanes Erzählwerk um weitaus mehr als eine folkloristische Topografie handelt, ist eine Tatsache, die von vielen Kritikern übersehen wird, die Coloanes Literatur häufig nur als Vehikel für ihre eigenen Abenteuerträume benutzen und die Texte in Verkennung ihrer Aktualität und Radikalität nur allzu gern dem eigenen Fernweh opfern.
Aus der Binnensicht des Chilenen oder Argentiniers bedeutet ein Aufenthalt in Patagonien oder auf den verlassenen Inseln des Feuerlandes kein Abenteuer, sondern wird eher als eine Form der Verbannung empfunden. Die Zeit, in der politisch unerwünschte Personen dorthin deportiert worden sind, ist vielen Südamerikanern noch deutlich in Erinnerung.
Die Welt am Ende der Welt hat in Francisco Coloane ihren eigenen Chronisten; Patagonien und Feuerland sind hier Lebensräume, es wird nichts verklärt, nichts romantisiert, nichts beschönigt. Coloane spricht mit Nachdruck, zeigt Engagement, plädiert entschieden für die Erhaltung dieses Lebensbereichs, tritt für die Rechte der Schwachen ein und klagt die weißen Siedler des Genozids an den Feuerlandindianern an. Aus seinen Worten spricht eine tiefempfundene Liebe zu dem rauen Land am Fuße seines Heimatlandes und allem, was darin lebt. Vielleicht kann man auch so Pablo Nerudas Wort von Coloane als dem Inventor de Chile (Erfinder Chiles) sehen und verstehen.