„Viva México, hijos de la Chingada“ [*]
Dieser häufig gebrauchte Satz drückt wie kaum ein anderer das Verhältnis von nationaler Identitätssuche und Geschlechterverhältnis aus. Bis heute ist dieses Verhältnis in Mexiko von den Beziehungen zwischen den Geschlechtern zur Zeit der Conquista geprägt: der Beziehung des weißen Eroberers zur indianischen Frau. Seit der mexikanischen Revolution suchen die Mexikaner ihre Identität als Nation. Eine Fülle von Literatur ist erschienen, in der Mythen entwickelt werden, die die Nation einigen und sie unterscheiden sollen von jeder anderen. (Ramírez, Paz Béjar, Diaz Guerrero) Die Studien über „lo mexicano“ („das Mexikanische“), versuchen die Nation zu legitimieren (Bartra 1987), eine Einheit zu schaffen in einem Staat, in dem die unterschiedlichsten Gesellschaften nebeneinander leben. Und in diesem Diskurs spielt die Geschichte der Malinche immer wieder eine bedeutende Rolle. (Phillips 1983, Soto 1986).
Malinche, die Geliebte von Hernan Cortez, dem Eroberer Mexikos, verlor früh ihren Vater, und ihre Mutter heiratete einen anderen Mann. Malinche wurde zu einem anderen Volk gebracht, das sie wiederum weitergab. Von dort aus wurde sie Hernan Cortez übergeben, der 4-5 Jahre lang mit ihr zusammenlebte und sie anschließend mit einem seiner wichtigsten Führer verheiratete.
Malinche gilt bis heute als die Betrügerin, die Verräterin, die sich an die Eroberer verkauft hat, und ihre Beziehung zu dem weißen Mann ist Modell für die traumatische psychodynamische Entwicklung im Geschlechterverhältnis der Mestizen.
500 Jahre Kolonisierung sind 500 Jahre Prägung von Charakterstrukturen: in Mexiko auf der Basis der Eroberung der großen Reiche der Azteken (Mexica) und der Maya sowie vieler weiterer indianischer Ethnien. Die Gesellschaften Mesoamerikas wurden mit den gänzlich anderen Vorstellungen von Gesellschaft, Moral, Glauben und dem Verhältnis der Geschlechter konfrontiert – eine Konfrontation, in der die Spanier zur dominanten Kultur wurden und die alte Kultur der „neuen“ Welt plündernd und mordend eroberten. Aus der Vermischung der mesoamerikanischen Kultur und dem europäischen Einfluß entstand „Mexiko“ – das Land der Mestizen, der Mischlinge zwischen „Indigenas“ und Weißen.
Der Kulturraum Mesoamerikas hatte weitgehend eine ähnliche Struktur. Die kulturellen und historischen Traditionen glichen sich in nomadischen Gesellschaften und Hochkulturen. Religion, Gesellschaftsorganisation, Agrar- und Handelsökonomie der verschiedenen Gesellschaften glichen sich und wurden in ähnlicher Weise von der kolonialen Gesellschaft getroffen, verändert und zum Teil vernichtet.
Nun haben in Mexiko andererseits bis heute große Bevölkerungsgruppen ihre indianische Kultur, Ökonomie und Religion erhalten. 500 Jahre nach dem Beginn der Kolonisierung hat sich Nahuatl als größte indianische Sprachgemeinschaft erhalten, gefolgt von Maya und Zapoteco.
Vor allem im Süden des Landes, in den Bundesstaaten Chiapas und Oaxaca, leben indianische Gesellschaften, die ihre Traditionen in und gegen die mexikanische Mestizengesellschaft pflegen – eine Gesellschaft, die sich erst mit der Eroberung gebildet hat. Mexiko ist zum Land der Mexikaner, der Kinder der Conquista, der Erben der Kolonisierung geworden.
Schmidbauer verwendet den Begriff „Innere Kolonisierung“ zur Charakterisierung der Transformation gesellschaftlicher Zwänge in innerpsychische Konstellationen. In den Industriegesellschaften wurde durch die „Innere Kolonisierung“ die Angst vor Nähe, die „Zähmung“ von Gefühlen und die immer weiter sich verbreitende Beziehungslosigkeit entwickelt. Erst hierdurch wurde, so würde ich behaupten, die individuelle Leistungsorientierung möglich. Schmidbauer verwendet den Begriff „Innere Kolonisierung“ für die westlichen Gesellschaften Europas. Übertragen auf Mexiko heißt „Innere Kolonisierung“ die psychische Verinnerlichung der Unterwerfungserfahrung. Diese Unterwerfungserfahrung wird – so die These – von Indios und Mestizen unterschiedlich verarbeitet und psychisch gestaltet. „El Mexicano“ umschließt nicht die indianische psychosoziale Entwicklung und ist erst recht nicht im Geschlechterverhältnis identisch. Allerdings scheint der Mythos alle Mexikaner zu umschließen, auch die indianische Bevölkerung, die sich jedoch grundlegend vom mestizischen Mexikaner unterscheidet – sie sind keine „hijos de la chingada“.
Die indigene Gesellschaft kann die eigene Tradition auch in Abgrenzung zur weißen Erobererkultur würdig behaupten, denn die Wurzeln der ethnischen Identifizierung können von Generation zu Generation weitergegeben werden, ohne daß innerfamiliäre oder gar innerpsychische Ambivalenzen und Brüche entstehen wie in den nach okzidentalem Muster ausgerichteten Mestizenfamilien.
Die Mestizengesellschaft Mexikos bezieht Identifizierungsmuster aus beiden Traditionen: der indigenen Gesellschaft und der weißen Erobererkultur. An dieser Stelle stellt sich die Frage: Wer ist ein Indios? Indios sind Menschen, die in ihrer Gesellschaft eigene Umgangsweisen mit der Natur und Kultur entwickeln und beibehalten. Die Definition des Indios ist keine Rassenfrage und auch keine Frage von Zuschreibungen durch die Spanier, die unter diesen Begriff alles menschliche Leben in Lateinamerika subsummierten. „Indios“ gab es nicht bei ihrer Ankunft – sie haben die Bevölkerung Amerikas so benannt, da sie glaubten, Indien erreicht zu haben. Der „Indio“ ist eine Fiktion, die bis heute überlebt.
Psychodynamik: Die Entstehung des Mexikaners
Der Name „Mexico“ stammt von den „mexica“, wie sich die Azteken selbst nannten. Überall im Lande gibt es Hinweise auf die Vergangenheit der Hochkulturen vor der Conquista. Doch als Staat bezieht Mexiko heute wenig Identität aus seinen Wurzeln vor der Eroberung oder gar aus den verschiedenen indianischen Völkern, die bis heute die großen Traditionen wahren. Im Gegenteil: Die als „Indios“ zusammengefaßten Völker sind in der Regel verarmt und ausgeblutet. Genau darum heben sich die Zapoteken des Ishmus deutlich von ihnen ab.
Die heutigen Mexikaner sind zu 80% Mestizen, indianisch-spanische Mischlinge. Der erste Mexikaner war der Sohn von Cortez und Malinche, der Frau, die Cortez half, die Azteken zu besiegen, die seine Geliebte wurde und deren Sohn ein tragisches Schicksal im Kampf um sein Erbe erlitt. Wegen seiner indianischen Mutter wurde er nicht als rechtmäßiger Sohn von Cortez anerkannt.
Diese Geschichte ist bis heute hochaktuell. Symbolisch wiederholt sich millionenfach das Schicksal eines Kindes aus einer Opfer-Täter-Verbindung: die Geburt des Mexikaners. Die Gedenktafel auf dem „Platz der drei Kulturen“ in Tlatelolco/Mexico D.F. erinnert an die letzte Schlacht der ‚mexica‘ gegen die Eroberer: „Es war weder ein Sieg noch eine Niederlage, sondern die schmerzhafte Geburt des Mestizenvolkes, das heißt der Mexikaner von heute.“ Paz meint, daß diese schmerzhafte Geburt im Bewußtsein vieler Mexikaner bis heute als Schändung der indianischen Mutter empfunden wird, und sie sich selbst als Söhne des weißen Vergewaltigers und der indianischen vergewaltigten Mutter verstehen. Diese Selbstdefinition ist -wohl weil sie die tiefsten Verletzungen eigener Identität berührt – mit Schimpf und Schande belegt. „La Chingada“ (die „Vergewaltigte“) und „hijo de la chingada“ („Sohn der Vergewaltigten“) sind die übelsten Schimpfworte Mexikos. Dennoch sind sie sehr gebräuchlich und haben auch eine andere Variante: „chinga“ = toll, „chingón“ = super“ sind die höchsten Ausdrücke des Lobs. Alltäglich liegt so die vergewaltigte Mutter dem Mestizen auf der Zunge – die, wenn auch unbewußte Erinnerung an die erste Vergewaltigung der indigenen Frau.
Mexikaner haben heute zwei kulturelle Identitäten – eine, die sich aus der hochbewerteten, machtvollen spanischen Erobererkultur speist und die sich in der europäischen und US-amerikanischen fortgesetzt hat, und die verachtete und entwertete, aber gesuchte und zum Teil verklärte über die Mutter vermittelte indianische Kultur.
Ramirez beschreibt dieses Verhältnis als Ursache für die unaufhörliche Identitätssuche des Mexikaners. Es handelt sich hier um ein Thema, das die nachrevolutionäre mexikanische Literatur durchzieht. Er beschreibt diese Mischung als unbewältigtes Trauma der mexikanischen Geschichte.
Dieses Trauma hat mit der Eroberung begonnen und sich bis heute psychogenetisch in die Persönlichkeit des Mexikaners und der Mexikanerin eingegraben.
Täglich wiederholt sich die Geschichte der Eroberung im Geschlechterverhältnis, in der Verantwortungslosigkeit mexikanischer Männer für ihre Kinder, in der Aufspaltung und unterschiedlichen Bewertung der Hautfarbe (je heller desto schöner, mächtiger), in der Alleinverantwortlichkeit und Resignation mexikanischer Frauen.
Für den Mann ist das Trauma ein doppeltes: großgezogen von der Mutter und auf der Suche nach einer männlichen Identität (30 % aller mexikanischen Familien sind vaterlos) findet er keine männlichen Vorbilder in seiner Kinder-Welt. Sucht er die Attribute der Männlichkeit außerhalb, findet er das Vorbild des Eroberers, den mit männlich definierten Symbolen ausgestatteten kleinen und großen Helden, der, um seine Männlichkeit zu finden, die eigene Mutter, ihre Liebe und Zuneigung verachtet. Er muß sie verachten, um bei der Gestaltung der „Macho“-Identität erfolgreich sein zu können.
Hierin unterscheidet sich die Entwicklung einer mexikanischen Männlichkeit nicht grundsätzlich von der psychogenetischen Entwicklung des Mannes in der modernen Kleinfamilie Europas und des internationalen Bürgertums. Auch hier ist die Abwesenheit einer lebendigen, positiv zu besetzenden männlichen Identifikationsfigur die zentrale Bedingung für die psychische Verinnerlichung des hierarchischen Geschlechterverhältnisses.
In Mexiko ist dieser Prozeß jedoch darüber hinaus gekoppelt an das Rassenverhältnis. Im „Trauma des ersten Mexikaners“ hat sich das Geschlechterverhältnis mit dem Rassenverhältnis historisch kombiniert. Martin und Maria, die Kinder der Malinche, geben das historische Beispiel: während Martin, der Sohn von Cortez, noch geachtet aufwächst und nach Spanien fährt, wird Maria, die Tochter von Juan Jaramillo, von ihrem Vater ausgesprochen schlecht behandelt.
Diese Kombination von Rassismus und Sexismus ist der Hauptgrund für den spezifischen Machismo des Mexikaners: Männlichkeit, Stärke, Präsenz, das Spiel der Eroberung mit der Frau auf der Straße – die Belästigungen, Pfiffe, Zurufe, Blicke gegenüber den Frauen, deren sozialer Rahmen Undefiniert ist.
Er braucht die Eroberung, um zum Macho-Mann zu werden, will seinem Geschlecht die Macht des Eroberns verleihen, er braucht die Eroberung, um sich von der geliebten Mutter zu befreien, von der Liebe zu einer entwerteten, erniedrigten Person, einer Person, die der Liebe eines werdenden Mannes nicht Wert ist, die keine Rechte hat, keine gesellschaftliche Person ist. Und in der Beziehung zu jeder Frau reproduziert sich die traumatische Ambivalenz zwischen Eroberersein und Abhängigkeit von der entwerteten, geliebten Frau. Auch in der westlichen, europäischen psychodynamischen Entfaltung männlicher Ich-Findung ist die Abtrennung des Mannes von der geliebten, doch gesellschaftlich entwerteten Mutter eine der größten Schwierigkeiten für das Gelingen der männlichen Identitätsfindung. Für jede männliche Entwicklung ist der Prozeß der Abgrenzung im Verhältnis zur Mutter zentral. Unter dem Schlagwort „Muttersöhne“ hat Pilgrim wohl den bekanntesten Beitrag zur Problematik geliefert, indem er allerdings dem beliebten Muster der Schuldzuschreibung an die „Mutter“ für die problematische Entwicklung der Söhne verfällt. (Pilgrim 1985) Daß Mütter klammern, ihre Söhne nicht freigeben, sie in Abhängigkeit halten, ist ein vielbeschriebenes Phänomen. (Oliver 1988) Dies als letztliche Ursache der psychodynamischen männlichen Entwicklung zum „macho“ zu interpretieren, wäre jedoch kurzschlüssig – denn der Zusammenhang ist nicht das individuelle Verhalten der einzelnen Mutter, sondern ihr niedriger Status, ihre gesellschaftliche und ökonomische Entwertung, die es Söhnen und Töchtern erschwert, sich mit der Mutter zu identifizieren. Diese im Prinzip in Mexiko gleich verlaufenden psychischen Entwicklungsprozesse werden hier im Kulturkreis der Mestizen allerdings noch wesentlich verschärft. Der Mestize wiederholt in seinem Prozeß der Geschlechtsidentifizierung nicht nur die Ambivalenz seiner Liebe zu einer entwerteten Frau, sondern darüber hinaus die Ambivalenz seiner Liebe zu einer indigenen Frau – einer Frau (oder auch zu einem indigenen Mann), die im Prozeß der Kolonisierung rassistisch unterworfen wurde. Indigene Väter und Mütter sind im Mexiko der Mestizen durch die Kolonisierung entwertet, haben nicht die gesellschaftliche Rangstellung der Weißen, sind auf der Seite der Verlierer und nicht der Sieger zu verorten.
Für die Persönlichkeit der männlichen Mestizen heißt dies nun, daß die Identifizierung mit Siegern und Besiegten gleichermaßen angelegt ist -der darauf folgende Spagat im Prozeß der Identitätsentwicklung ist kaum ohne innerste Zerrissenheit zu bewältigen. Eine „Lösung“ jedoch bietet sich an: In der Macho-Persönlichkeit der Männerkultur wird die Ambivalenz durch die Kultivierung von Erobererattributen und einer Erotik der Macht negiert. Die Ambivalenz wird auf der Oberfläche ausgemerzt, tritt nicht in Erscheinung und wird immer wieder abgewehrt, wenn die „Frau auf der Straße“, die eigene Geliebte, die Ehefrau und Mutter, das weibliche, indigene Erbe erniedrigt und verletzt wird.
Nur im Alkohol brechen die biografischen Ambivalenzen durch. Die mexikanische Trunksucht unterscheidet sich erheblich von der Trunksucht der Europäer. Wenn der Mexikaner zu trinken beginnt, trinkt er bis zum Umfallen: stundenlang, tagelang. Alles Elend seiner Welt bricht durch, der Alkohol erlaubt das begrenzte Vergessen seiner Geschichte.
Vor dem Hintergrund dieses Bildes einer traumatischen psychogenen Entfaltung von Geschlechtsidentität mestizischer Mexikaner erscheinen die Geschlechtsbeziehungen in der zapotekischen Gesellschaft am Isthmus von Te-huantepec außergewöhnlich und „verdreht“. Hier haben die Frauen, die Händlerinnen, ein hohes Ansehen, sie dominieren den Markt, die Familienbeziehungen, bewegen sich frei in der Öffentlichkeit, lernen von Kindesbeinen an öffentlich aufzutreten, beziehen sich selbstbewußt auf ihre zapotekische Geschichte, sprechen zapoteco und kultivieren ihre Sprache und ihre sozialen Beziehungen. Hier sind Frauen gesellschaftliche Personen, sie gestalten die sozialen Beziehungen durch ihre Ökonomie der Wechselbeziehungen, sind Mittelpunkt der Feste, die während des ganzen Jahres auf der Straße stattfinden, sind auffällige, würdevolle Personen und werden selbstverständlich geachtet und ernst genommen. Wegen dieses Erscheinungsbildes wurde die Zapotekengesellschaft am Isthmus von Tehuantepec von verschiedenen Autoren als Matriarchat bezeichnet.
Psychosoziale Bedingungen: die Entstehung der Zapotekin
Die Zapotekengesellschaft am Isthmus unterscheidet sich wesentlich von der mestizischen, aber auch von anderen indigenen Gesellschaften und Kulturen. Zwar haben auch andere Gruppen ihre Traditionen, Kultur und Ökonomie bewahrt (z.B. die drei verschiedenen Maya-Ethnien um den Lago Atitlän in Guatemala) doch ist hier die Tradition eher als Rückbesinnung auf Eigenes innerhalb einer Kultur der Unterdrückung, einer Kultur des Schweigens (Freire) zu verstehen. Diese lebt in Abgrenzung von der dominanten weißen oder Mestizengesellschaft, hat jedoch keinerlei Chance auf ökonomische, kulturelle oder gar politische Repräsentanz.
Von der Psychodynamik her betrachtet gibt es für die indigene Persönlichkeit innerhalb der eigenen Welt zwar keine kulturell angelegte Identitätsspaltung wie bei den Mestizen, doch findet die Enkulturation in einer marginalen Gesellschaft statt ohne Chance auf Mitgestaltung nationaler Entscheidungsprozesse. Dies ist in Guatemala besonders markant, da dort 80% der Bevölkerung indigen sind. D.h. der traditionelle Rückhalt, den die dort lebende indigene Gesellschaft ihren Mitgliedern vermittelt, ist zwar in sich geschlossen, doch abgetrennt von der dominanten Welt der Eroberer, unterworfen und kolonisiert. Die innere Kolonisierung indigener Personen ist nicht wie bei den Mestizen ambivalent strukturiert, sondern kulturell ungebrochen; allerdings als Kultur der Unterdrückung, in der das „Eigene“, die „Tradition“ nur als solches erscheint und Identität nach außen vermittelt, ohne einen Einfluß auf die Gestaltung der eigenen Kultur oder gar Ökonomie zu haben.
Ganz anders jedoch ist die Geschichte der Zapoteken des Istmus. Die Geschichte ihrer Kolonisierung ist für sie eine Geschichte erfolgreichen Widerstands. Diese Widerstandsfähigkeit speist sich aus der lebenszyklischen Reproduktion von Verhaltensweisen, die diese Gesellschaft immer neu gestalten. Die Individuen wachsen in einer Gesellschaft auf, in der Frauen und Männer ihren bestimmten Platz einnehmen und beide Geschlechter hoch bewertet werden. Frauen und Mütter sind starke Persönlichkeiten, die ihre Söhne und Töchter mit den Regeln dieser Gesellschaft vertraut werden lassen. Die psychodynamische Entwicklung der Mädchen und Jungen in Juchitan vollzieht sich in einer Welt, in der es keine Abwertungen eines Geschlechtes gibt, die Identitätsentwicklung vollzieht sich unter dem Einfluß dominanter Mütter und anwesender Väter. Sowohl für Männer als auch für Frauen vollzieht sich die Entwicklung von Geschlechtsidentität in einer geschlechtlich nicht-hierarchischen Gesellschaft, die die Ambivalenzen der psychodynamischen Entwicklungsgeschichte des Mestizen nicht kennt. Die Eroberung hat sich hier nicht in die Psyche fortgesetzt – ein Grund für die nach wie vor bestehende Widerspenstigkeit zapotekischer Persönlichkeiten gegenüber Fremdbestimmungen. Eine „Innere Kolonisierung“ fand hier offensichtlich nicht statt, wie auch die jüngste politische Geschichte des Ortes zeigt.
Über die Geschichte der COCEI, die Bewegung der letzten 10-20 Jahre, wurde viel geschrieben – viel auch von Fremden. Trotz der Offenheit allem Fremden gegenüber bilden die Zapoteken Juchitans eine geschlossene Gesellschaft, in die nur diejenigen eingelassen werden, die sich an den Ritualen der Kultur und Ökonomie beteiligen. Ob die Fremden nun Ausländer sind oder aus anderen Teilen Mexikos kommen, spielt für die Juchitecas eine untergeordnete Rolle. Beide sind fremd, kennen sich nicht aus und die Mexikaner haben es oftmals schwerer, Juchitan zu verstehen, da dieser Ort geographisch gesehen ein Bestandteil Mexikos ist und dennoch eine völlig fremde Welt bildet. Die Eigenarten und v.a. die sprichwörtliche Stärke der zapotekischen Frau verdeutlichen jedoch schnell, daß Juchitan nicht gleichzusetzen ist mit Mexiko.
Die meisten zapotekischen Männer sprechen voller Achtung und Respekt von der sie umgebenden weiblichen Familie. Sie scheinen den Machismo, die Überbetonung und Stilisierung von Männlichkeit auf dem Rücken von Frauen oder im Männerbund nicht nötig zu haben. Hier leben starke Frauen, selbstbewußte, starke Mütter. Die Söhne lernen eine dominante Weiblichkeit kennen und lieben. Sie fürchten sich nicht vor der starken Frau, können somit auch Frauen lieben, die nicht unterworfen sind, brauchen nicht die Erotik der Abhängigkeit, sind selbstbewußt, ihres eigenen männlichen Wertes bewußt. Der Machismo als Verhaltensmuster zur Stärkung der Geschlechtsidentität ist überflüssig. Die Liebe zu einer starken Frau unterstreicht die Selbst-Erstarkung männlicher Identität, führt eben nicht zur Selbst-Verachtung wie es bei dem „normalen“ europäischen Mann der Fall ist – verstärkt noch bei dem Mestizen Mexikos, der mit dem Trauma des kombinierten Geschlechter- und Rassenverhältnisses groß geworden ist.
Identität ist nicht geschlechtsneutral
Die Arbeitsteilung in Juchitan ist strikt geschlechtsspezifisch – jedoch nicht hierarchisch. Die Arbeit der Männer ist nicht mehr wert als die der Frauen – ein für die Moderne außerordentlich seltenes Phänomen. Weder symbolisch – durch Bewertungsmaßstäbe, Wertschätzung, Respekt und Achtung werden Frauen „verkleinert „, noch real durch die Bewertung der Arbeit.
Eine Händlerin verdient oft erheblich mehr als der Produzent der Produkte – weshalb manche Autoren die Meinung äußern, die Händlerinnen von Juchitan seien so reich durch die Übervorteilung anderer Frauen aus fremden Ethnien.
Orte der Frauen und Orte der Männer sind in Juchitan getrennt. Den Markt bestimmen die Frauen, im Ayuntamiento (Stadtparlament) und der Verwaltung im ersten Stock der Markthalle haben die Männer das Sagen.
Welche der beiden zapotekisch besetzten Institutionen, Handelsökonomie oder politische Repräsentation, mehr „Macht“ hat, ist derzeit nicht auszumachen. Bedingt durch die unterschiedlichen Lebenswelten von Männern und Frauen verläuft die geschlechtliche Identifizierung bei Männern und Frauen über verschiedene Achsen, verschiedene Transmissionen, die der Art der geschlechtlichen Arbeitsteilung entsprechen.
Die Identifikation verläuft für die Frauen über ihre Tracht, über die Familienfeste und die Velas (Nachbarschaftsfeste für im Schnitt 2000 Personen), ihre Arbeit als Händlerinnen. Sie leisten die Hauptarbeit an der Vorbereitung und gestalten die Feste in ihrer Tradition. Sie achten auf die Einhaltung der Regeln ihrer Gesellschaft. Kunst, Musik, Handwerk und Poesie sind zapotekische Traditionen, die von Männern gepflegt werden und mit denen sie sich identifizieren. Zapotekische Lieder werden weitergegeben, Gedichte überliefert. Musikgruppen spielen alte und neue Lieder auf den Festen.
Die „museh“, die homosexuellen Männer Juchitans, fertigen den Schmuck für das Festzelt, viele von ihnen zeichnen die Muster für die Tracht vor und sticken, andere sind Goldschmiede und fertigen den Goldschmuck, der von den Frauen an die Töchter vererbt wird und den Familienreichtum darstellt. Die sexuelle Orientierung von Männern und Frauen ist in Juchitan erheblich offener als in anderen Städten des Isthmus und in anderen Regionen. Schwule und Lesben erleben zwar auch Diskriminierung, haben jedoch ihren Platz in der zapotekischen Gesellschaft, können ihre Liebe und sexuelle Neigung offen leben, ohne dafür ausgestoßen zu werden. Sie entwickeln ihre eigene Geschlechtsidentität, weshalb wir hier von einem „dritten Geschlecht“ sprechen können. Männer gehen händchenhaltend über die Straßen Juchitans, Lesben kleiden sich wie Männer, sind zum Teil auch stolz darauf, wie Männer auszusehen, und leben mit ihrer Freundin im Haus ihrer Eltern. Auch wenn Schwule und Lesben manchmal mit abwertenden Bemerkungen zu rechnen haben – im Alltagsleben gehören sie dazu und haben ein eigenständiges geschlechtliches Identitätsmuster ausgebildet.
Die geschlechtliche Identität der Zapoteken speist sich aus einer Kultur und Ökonomie, die einerseits geschlossen ist, ihre eigenen Gesetze nach innen hat und einhält, aber innerhalb ihrer Regeln eine Vielzahl von Lebensformen und -Vorlieben toleriert. Daß dies möglich ist, ist vermutlich der nicht-hierarchischen Beziehung zwischen den Geschlechtern zu verdanken, in der männliche Identitätsentfaltung eben nicht durch die Abwertung des weiblichen Geschlechts erfolgt. Um seine Männlichkeit zu finden, braucht der Juchiteco nicht die Abwertung des anderen Geschlechts. Die starke Mutter ist hier nicht vergleichbar mit der indianischen Mutter nach dem Malinche-Modell. Sie ist noch bewertet, mächtig, geliebt und verehrt, ohne die Ambivalenzen zu erzeugen, unter denen die Entfaltung mestizischer Geschlechtsidentität leidet. Die Psychodynamik geschlechtlicher Identitätsentwicklung bei den Juchitecos ist vermutlich die subjektive Ursache für das ausgeprägte Selbstbewußtsein dieser Zapoteken und bildet damit die innere Struktur, die diese Gesellschaft reproduziert. Die Hierarchielosigkeit auf dieser Ebene schlägt sich auch in der Respektlosigkeit modernen Hierarchien gegenüber nieder. Angstlosigkeit, Mut, Eigen-Sinn und Durchhaltevermögen sind über die Jahrhunderte hinweg immer wieder beschriebene Eigenschaften der zapotekischen Bevölkerung, die über die Mechanismen bei der Sozialisation durch eine machtvolle Mutter geprägt werden.
An der Nicht-Beachtung von Gesetzen und anderen Zwängen zeigt sich am deutlichsten die innere Freiheit der zapotekischen Gesellschaft und zapotekischen Persönlichkeiten. Kommunion ohne Weihung, auf den eigenen Namen registrierte Kinder anderer Frauen sind nur zwei kleine Beispiele dafür, daß die Gesellschaft Juchitans nach ihren eigenen Regeln lebt, daß nationale Gesetze nicht greifen, daß die Kolonisierung das Innere der Menschen nicht erreicht hat.
Vielmehr hat sich die Identitätsbildung aus den ethnischen Wurzeln zapotekischer Traditionen bewahrt – sei es die der Frauengemeinschaft oder auch die der Männergesellschaft. Beide Geschlechterwelten sind auch brüchig, und schon vielfach wurde das Ende der zapotekischen Gesellschaft vorausgesagt. Doch bislang konnten die Kolonisierungsprozesse des Inneren die innere Stärke der Frauen, Männer, Lesben und Schwulen nicht brechen. Die Identitätsbildung über starke Vorbilder schafft immer wieder neu starke juchitekische Persönlichkeiten, die die ethnische Identifizierung mit der zapotekischen Gesellschaft prägen. Mit der Suche nach nationaler Identität hat dieser Prozeß nichts zu tun.
[*] „Es lebe Mexiko, ihr Söhne der Vergewaltigten”.
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