„Lager der Landlosen – bitte langsam fahren“ steht auf dem Hinweisschild für Autofahrer. Notdürftig gebaute Barackenlager säumen den Straßenrand in der Region Pontal do Paranapanema, rund 800 Kilometer westlich von Säo Paulo. Auf der anderen Straßenseite liegt die fazenda [1] Santa Rita, ein etwa 1.400 Hektar großes, brachliegendes Grundstück, welches von schwerbewaffneten pistoleiros bewacht wird. An die 1.600 Familien fordern die Enteignung und Neuverteilung der Ländereien der fazenda [2]. Diese Familien haben sich der Bewegung der Landarbeiter ohne Land (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, MST) angeschlossen und kämpfen um ihre bloße Existenz. Seit November 1995 haben sie sich hier in ihren Behausungen aus Holz, Blech und Plastik niedergelassen.[3] Der Streit um den Boden ist in Brasilien nichts Neues. Die bisher isoliert gebliebenen Kämpfe der Kleinbauern und Landarbeiter beginnen mit wachsendem Einfluß des MST zu schwinden. Durch den MST wird den Kämpfen erstmals der Charakter eines zusammenhängenden Projektes verliehen, das für einen glaubwürdigen politischen Wandel eintritt. Dank der kompetenten Führungskräfte des MST und durch den Einsatz moderner Kommunikationsmittel ist es gelungen breite Schichten des Mittelstandes, vor allem in den Städten, für die Anliegen der Landlosen zu gewinnen. Brasilien gehört weltweit zu den Ländern mit der ungerechtesten Besitzstruktur, obwohl die ungleiche Landverteilung regelmäßig angeprangert wird. Laut Angaben der Weltbank befinden sich 43 % des fruchtbaren Bodens in den Händen von nur 0,83 % Großgrundbesitzern, während 23 Millionen Landarbeiter und Kleinbauern unterhalb der Armutsgrenze leben. Diese Tatsache ist nicht nur Thema der sozialen Gerechtigkeit, sondern sie tangiert die Frage nach den Grenzen und Auswüchsen des exportorientierten Landwirtschaftsmodells. Mit einer Anbaufläche, die der Größe Indiens entspricht, ist Brasilien einer der weltweit wichtigsten Lebensmittelproduzenten und -exporteure: Die Ernte des Jahres 1996 hätte ausgereicht, um 300 Millionen Menschen zu ernähren. Trotzdem haben 32 Millionen Brasilianer nicht genug zu essen und die Regierung mußte 1996 mehr als 3 Milliarden Dollar für den Import von Nahrungsmitteln ausgeben. Schon seit Jahrzehnten wird die Forderung nach einer Agrarreform laut, um den sozialen Spannungen im ländlichen Raum an Kraft zu nehmen und die wirtschaftliche Situation der Landbevölkerung zu verbessern. Nach dem Militärputsch 1964 wurde die in den 50er Jahren im Nordosten Brasiliens gegründeten „Ligas Camponesas“ liquidiert. Die „Ligas Camponesas“ hatten sich als Interessenvertretung der weitgehend rechtlosen Landarbeiter und Kleinpächter formiert. Sie forderte eine Bodennutzungsreform, die Anerkennung von Gewerkschaften und die Anwendung des geltenden Arbeitsrechtes für Landarbeiter und Tagelöhner. Auch die katholische Kirche zeigte seit 1975 Engagement. Es wurde die Pastoralkommission für die Bodenfrage (CPT) eingerichtet, die den Kampf der Bauern unterstützt. 1985 kam es dann zur Gründung der Bewegung der Landarbeiter ohne Land (MST). Zwölf Jahre später ist der MST in 21 von 27 brasilianischen Bundesstaaten vertreten, wobei jeder Bundesstaat eine Person in die kollektive nationale Leitung entsendet. Im Jahr 1996 wurden 176 Besetzungen von „fazendas“ registriert; 45.218 Familien haben sich auf wiederangeeignetem Land niedergelassen. Der MST wird von der brasilianischen Bauernschaft als Sprachrohr für die Agrarreform anerkannt. Nach den Worten des Ökonomen Celso Furtado ist er „eine beeindruckende Organisation, die über enorme Druckmittel und eine fähige Leitung verfügt.“ In diesem Jahr sind, verteilt auf 244 Ansiedlungen, rund 50.000 Familien im MST organisiert. Das Vorgehen des MST ist darauf ausgerichtet die Massenarbeitslosigkeit in Brasilien, durch den Wiederaufbau der landwirtschaftlichen Subsistenzwirtschaft, etwas einzudämmen. Die Regierung ist bereit, die Agrarreform durchzuführen, als Beweis für ihre Entschlossenheit wurde ein Ministerium eingerichtet, mit dem Hinweis, daß im letzten Jahr 60.000 Familien Land zugewiesen worden war. Im Senat wurde im Dezember 1996 über ein Gesetz abgestimmt, das drastische Steuererhöhungen auf nicht produktiv genutzte landwirtschaftliche Fläche vorsieht. Auch wenn Präsident Cardoso gewillt ist, die Konflikte zu lösen, bleibt fraglich, wie groß sein Handlungsspielraum im Senat ist, in dem die „Ruralisten“, die Grundbesitzerlobby, allein ein Drittel Sitze einnehmen. Doch mit einer Agrarreform würde das System der Großgrundbesitzer untergraben werden, welches auf der Macht einer Elite beruht, die im Bankwesen, in Industrie und Handel investiert und alle Ebenen des Staatsapparats kontrolliert. Die so sehnsüchtig erwartete Agrarreform soll nicht nur die Probleme der landlosen Bauern lösen, sondern auch andere Probleme mit bewältigen helfen. Sie hat jedoch nur eine Chance, wenn sie auf nationaler Ebene in ein neues Wirtschaftsprojekt, in ein neues Entwicklungsmodell eingebettet ist. Die Kräfte der Landlosen allein reichen nicht aus, um diese Forderungen durchzusetzen. Sie sind darauf angewiesen, daß andere ihr Mobilisierungspotential aufgreifen. So gesehen, ist die Landreform ein Kampf aller Bürger.
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[1] Landwirtschaftlicher Großgrundbesitz; die Eigentümer werden „fazendeiros“ genannt.
[2] Die Verfassung Brasiliens erlaubt die Enteignung von brachliegenden landwirtschaftlichen Flächen.
[3] Philippe Revelli: „Die unerschütterlichen Gegner einer Agrarreform in Brasilien“ in: Le Monde diplomatique Nr. 5329 vom 12.09.1997, S. 6-7.
[4] Hartmut Sangmeister: „Handbuch der Dritten Welt“ Band 2, Südamerika (Dieter Nohlen, Franz Nuscheier: Hrsg.), Dietz Verlag Bonn 1995, S.241.
[5] Revelli, vgl. Anm. 3