Plano Piloto – so wird von der Bevölkerung Brasilias der Stadtteil, welcher von Lúcio Costa geplant wurde, genannt – dt.: Leitplan. Auf unsere Verhältnisse übertragen hieße dies, Wolfsburg den Namen „Flächennut-zungsplan“ zu verleihen.
Brasilia, die Hauptstadt Brasiliens seit 1960 ist eine Stadt mit der Einladung zu einer emotionalen Stellungnahme. Als Europäer, vielleicht besonders als Europäer, verlangt diese in Beton gegossene Retorte eine große Anstrengung; wenn die Formen der Gebäude und die Architektur der Stadt durch das Auge aufgenommen – dann dem Verstand und dem Gefühl getrennt zugeführt werden und dabei ein erstes Unbehagen hervorrufen, weil Verstand und Gefühl nicht zu einem Ergebnis der gemeinsamen Betrachtung gelangen. Ein Streit ohne Sieger ist das vorläufige Ergebnis. Dieses sich nicht einigen können, lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass es nicht gelingt, bekannte Bewertungsmaßstäbe und Kriterien auf diese Stadt anzuwenden. Aber der Reihe nach…
Der Traum eines jeden Architekten oder Stadtplaners dürfte es wohl sein, auf freier Fläche, ohne Begrenzung von anderen Gebäuden und alten Stadtstrukturen zu planen und zu bauen. Für Lúcio Costa und Oskar Niemeyer ging dieser Traum Ende der fünfziger Jahre in Erfüllung. Beim Preisausschreiben für den Entwurf eines Flächennutzungsplan gewann Lúcio Costa den ersten Preis – und somit die Möglichkeit eine Stadt komplett neu zu entwerfen.
Die Entscheidung, die Hauptstadt von Rio de Janeiro in das Landesinnere zu verlegen, ist kein aktueller Gedanke gewesen; Bestrebungen dieser Art sind seit 1789 in verschiedenen Abständen immer wieder thematisiert worden.
Die Idee einer neuen Hauptstadt formte sich also nicht erst im Zuge der Realisierung Brasilias, sondern war als konkreter Diskussionsstoff schon viel älter. Warum man sich in Brasilien in verschiedenen Epochen dem Gedanken einer neuen Hauptstadt widmete, lag zum einen in der Größe des Landes und zum anderen in der Kolonisationspolitik der Portugiesen. Die Kolonisationspolitik der Portugiesen war nicht die einer weitreichenden Inbesitznahme des Landes, sondern eine reine Küstenkolonisation. Somit war das Interior des Landes für viele Jahrzehnte eine große Unbekannte. Daraus entwickelte sich der Wunsch der Interiorisierung des Landes auf der einen Seite und des Verlassens der kolonialen Prunkhauptstadt auf der anderen Seite.
Im Zuge des ersten großen Unabhängigkeitsdranges, welcher von der Region Minas ausging, von der Inconfidentes Mineiros, dessen Führer José Joaquim da Silva Xavier (Tiradentes vom Volk genannt) war, kam auch der Ruf nach einer Hauptstadt im Interior des Landes auf. Der Hauptgedanke zu dieser Zeit war jedoch nicht die Integration des Hinterlandes in den nationalen Lebensprozess – dies war erst in späteren, neuen Anläufen einer Hauptstadtverlegung der Leitgedanke – sondern eher eine machtpolitische Frage: es sollte die Macht der portugiesischen Herrschaft gebrochen werden, diese Herrschaft versinnbildlichte sich in der Hauptstadt Rio de Janeiro. Mit dem Kampf gegen die Macht am Meer verband man gleichzeitig eine Verlegung – keine Neugründung – der Hauptstadt ins Innere Brasiliens.
100 Jahre später gab es, rückblickend betrachtet, ein äußerst wichtiges Datum auf dem Weg zu einer neuen Hauptstadt im Inneren Brasiliens: die Ausrufung der Republik am 15.11.1889. Die provisorische Regierung erließ das Dekret Nr. l, in dem Rio de Janeiro als die vorübergehende Hauptstadt festgelegt wurde. Während der Diskussion in der Verfassungsgebenden Versammlung wurde die Notwendigkeit einer Hauptstadtverlegung mit der schlechten Lage in Rio de Janeiro begründet: die Hektik der Großstadt sowie der politische Druck von Seiten der Wirtschaft und von Seiten des Proletariats seien einer unabhängigen Regierung nicht förderlich. Auch glaubte man, eine zentral gelegene Hauptstadt würde für den Zusammenhalt der einzelnen Bundesstaaten vorteilhaft sein. Kurze Zeit später, 1893, wurde eine Kommission unter Leitung des Naturwissenschaftlers Luiz Cruls gebildet, um das zentrale Hochland – wo auch heute der Distrito Federal und Brasilia liegt – zu erkunden. Der entstandene Bericht gilt bis heute als grundlegende geologische Studie der Region. Danach ruhte aus verschiedenen Gründen (wirtschaftliche Schwierigkeiten, politische Instabilität etc.) das Projekt „Hauptstadt“. Erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts unter den Präsidenten Vargas, Café Filho und dann vor allem unter Kubitschek wurde die neue Hauptstadt wieder aktuell. Kubitschek, Enkel tschechischer Einwanderer, war einer der erfolgreichsten Präsidenten Brasiliens; während seiner Präsidentschaft erfuhr Brasilien – zumindest quantitativ – einen enormen Industrialisierungsschub. Sein Wahlspruch lautete: In fünf Jahren Regierung 50 Jahre Entwicklung. So fiel also auch die Realisierung Brasilias in eine Zeit des allgemeinen Aufschwungs und Optimismus.
Architektur
Es erscheint in der Betrachtung von Brasilia angebracht, hier eine nähere Bestimmung von Architektur zu erbringen, sowie eine Unterscheidung zwischen Architektur und Bauen vorzunehmen: das Bauen besitzt eine schlichte funktionale Orientierung, welcher die Ästhetik nicht inne wohnen muss, wobei die Architektur mit der Ästhetik eine tiefe Verbindung eingeht. Architektur ist die Gabe, Stätten für einen menschlichen Zweck zu schaffen (Spiro Kostof, amerikanischer Architektursoziologe), woraus sich die Leistung der Architektur ergibt: einen Ort zu markieren, ihn zu differenzieren, zu unterteilen, ihn einzuteilen – was bedeutet, ihm, dem Ort, eine eigene, unverwechselbare Ordnung aufzuerlegen. Dies geschieht durch die Prinzipien „Begrenzung“ und „Betonung“ (Kostof). Auch ist Architektur immer ein sozialer Akt; Architektur ist somit die Quintessenz, der Ausfluss einer gesellschaftlichen Situation.
Der Konnex zwischen Architektur und Politik
Ist Architektur politisch? Diese Frage soll eindeutig mit ja beantwortet werden; nicht zuletzt, aus der Etymologie des Wortes Politik: Politik stammt aus dem Griechischen und es werden damit zwei Worte übersetzt – politika und politike – sie sind Substantivierungen des Adjektivs politikos, welches wiederum von polites – dem Wort für Bürger – stammt. Bürger war aber nur, wer in der Polis, also in der Stadt gelebt hat, wo Politik betrieben wurde. So kann die grundlegende Beziehung zwischen Architektur und Politik aus der Etymologie von Politik aufgezeigt werden.
Architektur ist also grundlegend mit Politik verbunden, aber weiterhin kann Architektur -nach dem Archäologen Wolfgang Sonne- auf verschiedenen Ebenen Aussagen über ihre Entstehungszeit machen, über politische, wirtschaftliche, soziale Verhältnisse. Ein Gebäude kann eine konkrete politische Funktion erfüllen, kann aber auch ein politischer Bedeutungsträger sein, selbst wenn das Gebäude primär einen anderen inhaltlichen Zweck verfolgt. Architektur – auch einzelne architektonische Formen – können somit bedeutungstragendes Medium sein.
Festgehalten werden kann: Architektur geschieht im öffentlichen Raum; der öffentliche Raum ist politisch – Architektur ist politisch.
Costas Brasilia
Aus der Vogelperspektive betrachtet gleicht Brasilia vom Grundriss her einem Flugzeug oder einem Käfer. Lúcio Costa – der Stadtplaner- hatte jedoch andere Intentionen bei der Formung des Stadtplans: durch die Setzung eines einfachen Kreuzes, was als Inbesitznahme des Landes zu sehen ist, erfolgte die erste Markierung der zukünftigen Stadt Brasilia. Durch die Anpassung des Kreuzes an die topographischen Gegebenheiten, wie die Wasserläufe, kam es zur Krümmung einer der Achsen. Normalerweise wächst eine Stadt, im Fluss der Zeit, im Laufe der Geschichte – so, wie ein Pflanze gedeiht. Brasilia musste aber in einer extrem kurzen Zeit entstehen, es sollte eine Tat vollbracht werden und für die brasilianische Regierung war es notwendig, die Inbesitznahme des Geländes zu dokumentieren. So kam das Kreuz auf ein leeres Blatt Papier des Lúcio Costa.
Brasilia besteht nach dem Plan Costas aus einem gleichseitigen Dreieck. Zentrale Bestandteile der Stadt – zum einen die Monumentalachse, welche sich in Ost-West-Ausrichtung befindet und zum anderen die Querachse, welche die gebogene Achse in Nord-Süd-Ausrichtung ist, sind unbestreitbar die realisierten Markierungen des ersten Kreuzes. Die gebogene Querachse ist die Hauptverkehrsader der Stadt, mit gesonderten Bahnen für den Schnellverkehr und für Spuren des Lokalverkehr. Seitlich der Querachse befinden sich ein Großteil der Wohnviertel (Superquadras). Am Ostende der Monumentalachse befindet sich der Platz der drei Gewalten, welcher wiederum die geometrische Form eines gleichseitigen Dreiecks besitzt; da Parlament, Regierung und der Oberste Gerichtshof voneinander unabhängig sind, haben sie hier ihren Platz gefunden. Die Basis bilden das Regierungsgebäude und der Gerichtshof, die Spitze bildet das Parlament. Das Außen- und Justizministerium liegen ihrer Wichtigkeit entsprechend in der Nähe der zuvor genannten Gebäude.
Die geometrische Form des gleichseitigen Dreiecks symbolisiert für Costa die Demokratie. Für ihn war es wichtig, mit Brasilia etwas Monumentales zu schaffen, ein Zeichen zu setzen. Brasilia sollte ein Symbol sein, eine repräsentative Stadt, die signifikante Formen aufweist, unverwechselbar ist und Würde ausstrahlt – dabei waren klar zu erkennende Formen wichtig. Eine dieser klaren Form war das genannte gleichseitige Dreieck, welches sich in Brasilia zweimal findet, zum einen in der Makrofläche der Stadt und zum anderen als Platz der drei Gewalten.
Am Westende der Monumentalachse – ein zweiter exponierter Ort der Stadt – entstand der Bahnhof sowie der Busbahnhof (Ferroviária / Rodoviária) für den überregionalen Verkehr. Als Besucher der Stadt mag man nach der Ankunft überrascht sein, wenn man aus dem Bahnhof heraustritt – man blickt in ein leeres Feld. In der Nähe des Bahnhofs befindet sich kein weiteres Gebäude. Gewöhnungsbedürftig ist die Art der Integration eines zentralen Gebäudes mit dieser Basisfunktion. Fußgänger sind hier nicht vorgesehen, der Weg bis in die Innenstadt oder in die Wohnviertel wäre zu Fuß nicht ohne große Anstrengung zu bewältigen. Autos sind dagegen ausreichend gewürdigt worden, mit zahlreichen und breiten Straßen. (Aber wer verreist auch schon ohne Gepäck und geht damit zu Fuß zur Busstation?) Lúcio Costa: „Die Trennung zwischen Wagen und Fußgängerverkehr soll jedoch nicht zu systematischen und unnatürlichen Extremen fuhren, denn man darf nicht vergessen, dass heutzutage das Automobil nicht mehr der erbitterte Feind des Menschen ist, sondern gezähmt und sozusagen zum Familienmitglied wurde. Nur als Bestandteil der anonymen Verkehrsmasse enthumanisiert es sich und nimmt dem Fußgänger gegenüber eine feindliche und drohende Haltung ein…“
Niemeyers Gebäude
Nach der Ansicht Niemeyers, welcher sich als Kommunist bezeichnet, aber ohne Probleme Projekte für Kapitalisten, Reaktionäre und Militärs entwarf und realisierte, ist Brasilia keine demokratische Stadt. In Formen sieht er keine Demokratie, keinen Faschismus; seine Gebäude, die Formen von Gebäuden sind für ihn nur Ästhetik, keine Funktion. „Ich glaube nicht an eine demokratische Architektur; ich will Räume schaffen.“2 Dabei wurde Beton zu seinem Baumaterial, weil nur aus Beton jene großen Bögen und abstrakten geometrischen Formen herzustellen sind, wie er sie für notwendig hält. Politik erwächst für Niemeyer der Architektur nur durch die Nutzung von bestimmten Personen. Seine Rednertribüne in Brasilia, so meint Niemeyer, kann von Präsidenten verschiedenster Couleur genutzt werden (diese Tribüne wurde übrigens bis heute von noch keinem Präsidenten genutzt). Der Architekt, der, obwohl er gegen das Militärregime war, seinen Feinden einen Palast der Armee errichtete und der, obwohl er nicht an Gott glaubte und bekennender Kommunist war, eine Kathedrale entwerfen konnte, hatte auch keine Schwierigkeiten mit der Gestaltung der Regierungsgebäude für ein politisches System, das er trotz demokratischer Grundlagen für ungerecht hielt. Für ihn gibt es keine demokratische Architektur. Er meint, dass die Paläste in Brasilia sowohl von faschistischen als auch von progressiven Präsidenten genutzt werden könnten.
Die Gebäude Brasilias sind in ihrer Konstruktion in höchstem Maße interessant, doch wirken viele dieser Gebäude wie zu groß geratene Modelle, plaziert, nicht integriert, nicht wie Häuser des täglichen Lebens. Vor allem der Monumentalachse entlang drängt sich der Gedanke an einen Park architektonischer Werke ohne Leben auf. Die Gebäude wirken durch Gestaltung mit der Form, mit dem Spiel der Form in höchst expressiver Weise. So ist das Parlament, auf dessen Dach eine Rampe und vier Brücken mit dreieckigem Grundriss führen, mit zwei Kuppel ausgestattet; beide Kuppeln – eine konkave über dem Abgeordnetenhaus und eine konvexe über dem Senat — ragen aus dem Hauptgebäude heraus und sind weiß gestrichen. Die konvexe Wölbung des Senats ist genauso wie das Hauptdach begehbar. Die Bevölkerung kann dem Parlament förmlich auf das Dach steigen- eine köstliche Kuriosität, welche in sämtlichen 40 Jahren dieser Hauptstadt kein Problem darstellte. In dem aus zwei Hälften bestehenden Hochhaus direkt hinter den Versammlungssälen haben die Abgeordneten und Senatoren ihre Büros. Ungefähr auf der Hälfte der Höhe sind beide Gebäude durch einen Übergang miteinander verbunden. Außer den Sonnenschutzvorrichtungen und einigen Formelementen (geschwungenes Vordach) besitzt dieses Gebäude keine weiteren Gestaltungselemente. Der Nationalkongress mit dem doppelten Hochhaus und den beiden Kuppeln ist nach einiger Gewöhnungszeit im Laufe der Jahre in stilisierter Form zum Symbol des Parlaments, zum Symbol der Demokratie geworden und als Zeichen selbiger anerkannt.
Als weitere architektonische Besonderheit kann die Kathedrale – an der Monumentalachse, kurz vor den Ministerien des Südflügels und schon gegenüber der Ministerien das Nordflügels gelegen – angesehen werden. Die 1970 geweihte Kathedrale ist ein ca. 4.000 Personen fassender Rundbau, dessen Betonstreben sich nach oben hin verjüngen und auf einer kurzen Strecke noch einmal weiten- dieser Rundbau kann auch als Krone interpretiert werden. Die Flächen zwischen den Betonstreben sind mit buntem Glas gefüllt, was im Inneren der Kathedrale eine imposante Wirkung erzielt, da in Brasilia fast immer die Sonne kräftig scheint. Da die Kathedrale nur durch einen unterirdischem Gang zu erreichen ist, wirkt dieses Gebäude abgeriegelt, nicht zugänglich, durch den runden Bau und die Verjüngung der Streben aber auch gleichzeitig von allen Seiten sogartig anziehend. Interessant und auch merkwürdig erscheint die fast liebevolle Planung einer Kathedrale durch einen bekennenden Kommunisten – vielleicht daher auch der abgerückte Ort der Kathedrale von der Monumentalachse.
Neben dem Justizministerium – vor dem Ministerium befindet sich eine moderne Variante von Justitia, sitzend, mit verbundenen Augen, jedoch keine Wage in der Hand haltend, sondern nur das Schwert auf dem Schoß liegend, eine Statue von dem Bildhauer Alfredo Caschiatti -befindet sich der Planaltopalast (Amtssitz des Präsidenten), welche beide noch eine eigene Architektur aufweisen. Die so genannten Standardministerien sind entlang der Monumentalachse angeordnet -pro Ministerium ein Gebäude – und sind durch ein einheitliches Schema gekennzeichnet: rechteckig, mit der schmalen Seite der Monumentalachse zugewandt, sind sie mit weißen Kacheln und goldener Schrift versehen.
Brasilias Architektur lebt – wie bereits erwähnt – durch fast überdimensionierte Formen, zum einen durch geschwungene Bögen (Kathedrale), wesentlich dabei sind die Rundungen, sowie durch grobe Ecken (Museum am Platz der drei Gewalten) und Säulen (Planaltopalast). In Bezug auf die zahlreichen Rundungen in den Gebäuden wurde Niemeyer einmal gefragt, ob die immer wieder auftretenden geschwungenen Formen seiner Architektur eine weibliche Architektur wäre und Niemeyer antwortete: keine weibliche Architektur, aber die eines Architekten der die Frauen liebt.
Würdigung
Auf das eingangs vorgestellte Verständnis von Architektur soll nun noch einmal zurückgegriffen werden: einem Ort eine unverwechselbare Ordnung durch Differenzierung sowie Unterteilung, durch Begrenzung und Betonung aufzuerlegen – in diesem Sinne, mit dem Flächennutzungsplan des Lúcio Costa auf der einen Seite und den Gebäuden des Oscar Niemeyer auf der anderen Seite, ist Brasilia gelungen. Beides ist eine Besonderheit in der Stadtplanungsgeschichte, beides ist eine bis dahin noch nie dagewesene Betonung und Begrenzung für eine Stadt, die Konstruktion und die Architektur Brasilias kann als innovativ angesehen werden.
Ein weiteres angeführtes Kriterium – Stätten für einen menschlichen Zweck zu schaffen – ist in der Bewertung etwas schwieriger. Durch die Fragmentierung einzelner Funktionsbereiche (Hotelsektor, Wohnsektor, Einkaufssektor, Regierungssektor, Erholungssektor etc.), durch zahlreiche Fehlplanungen im Verkehrssektor (zu geringe Berücksichtigung von Fußgängern), durch eine überproportionale Verliebtheit in architektonische Formelemente und das Vergessen von funktionalen Aspekten (zu kleine Säle für Abgeordnete, zu kleine Ministerien, schwierige Erweiterbarkeit von Gebäuden, Nichtmiteinplanung von Klimaanlagen etc.) machen es schwer, die Architektur Brasilias als höchst menschenfreundlich einzustufen.
Auch dem erwähnten Konnex zwischen Politik und Architektur muss eine zweiteilige Bewertung widerfahren: Costa integrierte eine klare politische Intention in den Flächennutzungsplan Brasilias, wohingegen Niemeyer, der als Person politisch war, Architektur als apolitisch bezeichnete. Damit wird Brasilia zweiseitig: ein politischer Grundriss und politische Bebauung, aber eine apolitische Ausformung. Und dies ist Niemeyer klar negativ anzulasten, Gebäude der Formen wegen zu konstruieren, nicht des Inhaltes wegen.
Trotz dessen erfolgte mit der Konstruktion und der Architektur Brasilias für Brasilien auch ein Bewußtseinswandel: die Abwendung vom kolonialen Baustil, die Abwendung vom architektonischen Eklektizismus. Brasilia ist der Schritt zu einem neuen Selbstbewusstsein, zu einem neuen Stil, hin zu etwas Eigenem, etwas Brasilianischem. Die Architektur steht Pate bei der Lossagung von Europa, steht Pate bei der Etablierung der Demokratie, steht Pate bei der Entdeckung und Integration Zentralbrasiliens.
Das Ziel der Interiorisierung scheint erreicht, sämtliche Landeshauptstädte Brasiliens sind auf dem Landwege erreichbar (mit Ausnahme einer Landeshauptstadt im Nordwesten Brasiliens) und das Innere Brasiliens ist seit der Schaffung Brasilias in den Lebensprozess der Nation wesentlich integriert worden. Städte wie São Paulo oder Rio de Janeiro in ihrer Wichtigkeit bezüglich der Kultur, der Wirtschaft, der nationalen Identifikation zu übertrumpfen erscheint natürlich auch in vierzig Jahren schwer zu erreichen. Auch diese Städte entwickeln sich; aber das war wohl auch nicht die Intention der Gründer – allein schon in der Konzeption für 500.000 Menschen zu sehen.
Insofern ist Brasilia ein Glücksfall für Brasilien – auch wenn viele Brasilianer diese Stadt nie in ihrem Leben gesehen haben oder sehen werden, ist allein die Schaffung des Bewusstseins, das Hinterland als Innenland zu identifizieren, Leistung genug.
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