Mittwoch, 11.Mai 1994. Irgendwo im Lacandona-Urwald
Frage: Es ist viel über die Zapatistas gesagt und geschrieben worden, aber es ist konkret wenig über Ihre Ideologie bekannt. Viele versuchen, Ihren Kampf für sich zu vereinnahmen. Die Maoisten sagen, dass Sie Maoisten sind; die Trotzkisten sagen, dass Sie Trotzkisten sind, und die Liste ließe sich weiterführen….
Marcos: Die Anarchisten sagen, dass wir Anarchisten sind…
F: Nein, das haben wir nie genau sagen können [lacht]. Wir brauchen Beweise. Jedenfalls haben Sie darauf beharrt, dass Sie Zapatistas sind. Heute noch erinnern wir uns an die Worte eines EZLN-Majors, der bekräftigte: „Wir sind keine Marxisten, wir sind auch keine Guerrillas. Wir sind Zapatistas, und wir sind eine Armee. “ Antiautoritarismus wird spürbar in jedem Ihrer Worte und in jeder Aktion, in der Art und Weise, wie Sie organisiert sind, in der Struktur der Geheimen Komitees, in der kollektiven Mitbestimmung (innerhalb des EZLN). In Mexiko sind die einzigen Vorläufer für Ihre Aktionen und Ihr Auftreten genau jene, auf deren Namen Sie sich ständig berufen: Zapata und Magón/1/. Hat der Magonismus Ihre Ideologie beeinflusst?
M: Ist das eine Frage?
F: [lacht]. Nein, eine Darlegung.
M: Ich dachte, eine Rede.
F: Nein, nein, eine Darlegung.
M: Gut, dann werde ich es erklären. Als der EZLN entstand, hatte er als Bezugspunkte die politisch-militärische Organisation der Guerrillabewegung in Lateinamerika während der sechziger und siebziger Jahre: Das bedeutet, politisch-militärische Strukturen mit dem zentralen Ziel, ein Regime zu stürzen und das einfache Volk als Machthaber einzusetzen. Als die erste Gruppe des EZLN hier ankam, in den Urwäldern von Chiapas, waren es sehr wenige, und sie hatten die politisch-militärische Organisationsstruktur, von der ich gesprochen habe. Sie begannen sich an die Verhältnisse hier anzupassen, nach Strategien des Überlebens zu suchen – das heißt, sie machten sich mit dem Territorium vertraut, sie versuchten, ein Überleben hier zu ermöglichen. Aber vor allem begann sich in jedem dieser Kämpfer, die physische und ideologische Kraft zu entwickeln, die für den Guerrillaprozess nötig ist. Ich meine damit, dass die Berge als Kaderschule dienten, so unveränderlich und beständig, wie sie waren, Tag und Nacht. Aber die Dinge nahmen Form an. In dieser Zeit gab es keine Kameras, es gab keine Recorder, es gab keine Presse, und es gab auch keine militärischen Aktionen. Das einzige, was dich dazu bewegt, in den Bergen zu bleiben und durchzuhalten, ist Hoffnung, denn es gibt keine Bezahlung. Ich rede nicht von Geld, natürlich gab es nie irgendetwas dergleichen, sondern von einer Art moralischer Vergütung, von etwas, das einem irgendwie die Versicherung geben könnte, dass es das alles wert ist.
Vor zehn Jahren klammerten wir uns an die Hoffnung, dass alles, was wir unter vielen Schmerzen und mit vielen Problemen -lernten, irgendwann zu Ergebnissen führen würde. In dieser Zeit gab es einen doppelten Lernprozess: den Lernprozess, den die mestizos durchmachten (die Leute in diesem Gebiet nennen jeden, der in der Stadt wohnt, „mestizo“), und den Prozess der indígenas. Der Prozess der indígenas bedeutete, dass die Leute Grundlegendes lernen mussten – Spanisch zu sprechen, die Geschichte Mexikos, lesen und schreiben, Grundbegriffe der Mathematik, Geographie, Biologie, Chemie – also alles, was wir mestizos zu den Grundlagen unserer Kultur rechnen. Und wir unsererseits mussten nicht nur die Weltsicht der indígenas dieses Gebiets verstehen lernen, sondern auch eine Reihe körperlicher Fähigkeiten erwerben, die den indígenas zwar nicht angeboren sind, aber die sie schon als Kinder lernen: mit einer Machete umzugehen, große Lasten über weite Entfernungen zu tragen, den Nahrungsverbrauch auf das notwendige Minimum einzuschränken – in diesem Fall, Mais und Zucker.
In diesem Zusammenspiel, diesem Austausch, diesem Geben und Nehmen, gingen schließlich wir und sie verändert in die Berge. Was ich meine, ist, dass für die indígenas die Berge etwas Heiliges sind, etwas Besonderes, etwas Magisches, und letztlich etwas Schreckliches. Nein, die indígenas gehen normalerweise nicht in die Berge. Tatsächlich fürchteten viele von ihnen, als wir die Berge betraten, dass ihnen etwas geschehen würde, bevor sie selbst etwas tun konnten. Die Berge sind der Ort der Toten, der Götter, guter und böser Götter, und aus diesem Grund gab es niemanden, nicht einmal unter ihnen, der schon in den Bergen gelebt hatte. Die indígenas waren es gewohnt, ‚in ihren Dörfern zu leben, jagen zu gehen, Land zu suchen, das sie bearbeiten konnten. Wir sollten über diese „romantische Vision“ des Guerrillakriegs reden, mit ihren Verweisen auf grandiose militärische Aktionen: die Machtergreifung und der Triumph, all die Dinge, die auf die siegreichen Guerrillakriege jener Zeit anspielen, die kubanische und die nikaraguanische Revolution. Eine solche Umgebung bringt dich auf den Boden der Tatsachen zurück und lässt dich begreifen, dass alle Revolutionen einen Preis haben, und dass nur eine Revolution machen kann, wer bereit ist, diesen Preis zu zahlen. Damals musste man verrückt oder dumm sein, um eine Revolution machen zu wollen. Ich glaube, dass wir sowohl verrückt als auch dumm wären. Es gab absolut keinen Hinweis darauf, dass das Unternehmen eine Zukunft haben würde oder dass es überhaupt eine Chance hatte. Tatsache war, dass wir versucht hatten, etwas zu verändern -nicht unbedingt in einem revolutionären Sinn – durch verschiedene Methoden und an verschiedenen Orten. Aber alle unsere Kämpfe, unsere Kämpfe in der Universität, die Kämpfe der campesinos, der Arbeiter, kollidierten mit dem Staat, mit der Macht. Es ist besser, von Macht zu sprechen, denn es gibt Stellen, wo die Machtausübung durch den Staat nicht genau als solche definierbar ist, und es ist daher sinnvoller, von Macht zu sprechen – in diesem Fall, die Macht einer herrschenden Klasse, die sich auf andere Bereiche ausdehnt – die Kultur zum Beispiel. Dann kommt man zu dem Schluss, intuitiv oder auf wissenschaftlichem Weg, dass man einen anderen Weg gehen muss, den Weg des bewaffneten Kampfes.
Wir haben uns dann mit der allgemein verbreiteten Auffassung auseinandergesetzt, dass eine bewaffnete Revolution in jedem anderen Land, aber nicht in Mexiko möglich sei. Mexiko betrachtete man als das Land der Solidarität, aber niemals als das Land der Revolution. Als wir eine Revolution vorschlugen, wurden wir innerhalb der Linken als Ketzer angesehen. Die Linken sagten, dass die Rolle Mexikos nicht sei, eine Revolution zu machen, dass wir zu nahe an den USA seien, dass das Regime in Mexiko dem europäischen Modell ähnele und dass deshalb eine „revolutionäre“ Veränderung nur durch Wahlen, durch friedliche Methoden, oder, in den radikalsten Szenarien, durch Methoden des Aufstandes möglich sei. Das bedeutete, dass die unbewaffneten Massen in weiten Teilen mobilisiert würden und dann die Wirtschaft lahmlegten und eine Krise des Staatsapparats herbeiführten, der dann wiederum zusammenbrechen würde, so dass eine neue Regierung die Macht übernehmen könne. Als wir einen Guerrillakrieg vorschlugen, einen bewaffneten Kampf, brachen wir mit dieser Tradition, einer zu diesem Zeitpunkt noch sehr starken Tradition. Angesichts dessen, was in Nikaragua geschah, und was in El Salvador begann, nun ja… Ähnliche Dinge waren immer dort geschehen, aber nun wurden sie langsam intensiver. Der Kampf in Guatemala flammte ein zweites Mal auf, ein drittes, ein viertes Mal. Ich weiß nicht. Schließlich sagte jemand, „Und warum nicht hier in Mexiko?“ Sofort war da eine Art Zögern zu spüren, so als ob man sagen wolle, „Nicht hier; unsere Rolle hier ist es, den Völkern zu helfen, die sich befreien wollen, und erst später kann Mexiko vielleicht an eine Revolution denken.“ Die Tatsache, dass wir mit dieser Vorstellung gebrochen haben, bringt es mit sich, dass wir auch mit anderen theoretischen Schemata brachen.
Wir waren immer mit den Bergen konfrontiert. Die erste Etappe beinhaltete zwei Dinge: zu überleben und mit unserer politischen Arbeit zu beginnen. In dieser politischen Anfangsarbeit begannen sich Beziehungen zwischen den Vorschlägen der Guerrillagruppe, der ersten Gruppe des EZLN, und den Dorfgemeinschaften zu entwickeln. Beide Seiten hatten unterschiedliche Erwartungen an die Bewegung. Auf der einen Seite waren jene, die hofften, dass bewaffnete Aktionen eine Revolution und einen Machtwechsel herbeiführen würden, in diesem Fall den Sturz der Regierungspartei und die Machtergreifung einer anderen Partei, aber dass es am Ende das Volk sein würde, das die Macht übernähme. Auf der anderen Seite gab es die unmittelbareren Erwartungen der indigenen Bevölkerung hier. Für sie stellte sich die Notwendigkeit eines bewaffneten Kampfes eher als eine Form der Verteidigung gegen Gruppen sehr gewalttätiger, aggressiver und mächtiger Rancher dar. Außerdem wirkten die Berge wie eine Art Mauer, eine Mauer, die den Urwald von der Stadt trennte, und die die Indígenas von der politischen Macht trennte.
Es war diese Mauer, die es dem EZLN gestattete, so unglaublich zu wachsen, ohne dass jemand davon Kenntnis erhielt. Die indígenas erkannten die Notwendigkeit, sich verteidigen zu lernen. Sie hatten Waffen, aber sie benutzten sie nur zum Jagen, oder um ihre Häuser gegen Tiere oder Diebe zu verteidigen. Dann fanden wir einander, und wir begannen in zwei verschiedenen Sprachen zu sprechen, aber in diesem gemeinsamen Punkt des bewaffneten Kampfes entwickelte sich eine Beziehung. Sie brauchten militärische Unterweisung, und wir brauchten die Unterstützung einer sozialen Basis. Und deshalb versuchten wir sie von der Notwendigkeit eines umfassenderen politischen Projekts zu überzeugen. Das geschah erst, als Elemente der Dorfgemeinschaft in die Armee eintraten. In diesem Augenblick begann der Unterschied zwischen den kämpfenden Truppen und den Ziviltruppe zu verschwinden bis zu dem Zustand, den Sie jetzt vor sich haben, da ganze Dorfgemeinschaften Zapatisten sind und es keine Grenze mehr gibt, die die Zivilisten von den Zapatisten trennt.
Dann, als dies zu geschehen begann, wurde klar, dass es auch galt, zwei verschiedene Wege der Entscheidungsfindung miteinander zu vereinbaren. Auf der einen Seite gab es den ursprünglichen Vorschlag des EZLN: ein vollständig undemokratischer und autoritärer Vorschlag, so undemokratisch und autoritär, wie eine Armee nur sein kann, denn eine Armee ist das Autoritärste, was es auf dieser Welt gibt und auch das Absurdeste, denn ein einziger kann über Leben und Tod seiner Untergebenen entscheiden. Auf der anderen Seite war da die Tradition der indígenas, die vor der Conquista eine Lebensweise darstellte und die nach der Conquista für sie die einzige Art zu überleben war. In anderen Worten, die Dorfgemeinschaften, isoliert, in die Ecke gedrängt, sahen sich gezwungen, sich gemeinsam zu verteidigen, gemeinsam zu leben und sich gemeinsam zu regieren. Weil das innere Leben der Dorfgemeinschaften völlig getrennt war von den nationalen und lokalen politischen Kräften, war das Wesentliche die Arbeit, die die Gemeinschaften leisteten, und deshalb entstand eine kollektive Regierung. Nein, sie war immer schon da: eine Form, gemeinsam Entscheidungen über das zu treffen, was die gesamte Gemeinschaft angeht. Solche Entscheidungen betrafen zum Beispiel die gemeinsam zu leistende Arbeit, rechtliche Probleme innerhalb der Gemeinschaft – denn es ist nicht möglich, sich an die Rechtsinstanzen des Staates zu wenden. Was ich sagen möchte, ist, dass die Isolation der indigenen Dorfgemeinschaften die Entwicklung eines anderen „Staats“typs mit sich brachte, eines Staates, der sich um das Überleben des Kollektivs kümmerte, eines demokratischen Kollektivs mit zwei Eigenschaften: die Führung ist kollektiv, und sie ist absetzbar. Die Gemeinschaft kann dich jederzeit absetzen, wenn du einen Posten innehast. Es gibt keine festgesetzte Amtszeit. In dem Moment, da die Gemeinschaft feststellt, dass du deine Pflichten nicht mehr erfüllst, dass du Probleme hast, rufen sie dich vor die Gemeinschaft und sagen dir, was du falsch gemacht hast. Du kannst dich verteidigen, und dann entscheidet die Gemeinschaft, die Mehrheit, was mit dir geschehen soll. Am Ende wirst du deinen Posten verlassen müssen, und jemand anderes wird deine Aufgaben übernehmen.
Das ist eine Form der Organisation.[…] Auf der anderen Seite haben wir die autoritäre Form der Armee, einer politisch-militärischen Organisation, aber vor allem einer militärischen Organisation. Zwischen diesen beiden Formen der Entscheidungsfindung begann sich eine Konfrontation abzuzeichnen, bis Leute aus den Dorfgemeinschaften begannen, des EZLN beizutreten, und die in den Gemeinschaften übliche Form der Entscheidungsfindung Vorrang gewann.[…] Irgendwann kam der Moment, da der EZLN die Gemeinschaften konsultieren musste, um Entscheidungen zu treffen. Am Anfang fragten wir nur, ob das, was wir zu tun vorhatten, die compañeros in Schwierigkeiten bringen würde. Und später, als wir den Urwald verließen und in die Berge gingen, beteiligten wir uns auch an den Versammlungen und Diskussionen in den Gemeinschaften. Es kommt ein Moment, da man ohne das Einverständnis der Leute, mit denen man arbeitet, nichts mehr tun kann, war etwas, das beide Seiten verstanden: sie verstanden, dass wir nichts tun würden, ohne sie zu befragen, und wir verstanden, dass wir sie verlieren würden, wenn wir irgendetwas unternähmen, ohne sie zu fragen. Und der wachsende Strom von Männern und Frauen, die die Gemeinschaften verließen, um in die Berge zu gehen, ließ uns erkennen, dass wir kein feste Grenze zwischen kämpfenden Kräften und Zivilkräften ziehen konnten. Sogar geographisch löste sich diese Grenze auf. Es gab militärische Einheiten, die nicht in den Bergen lebten, sondern in den Dorfgemeinschaften, und die sich an den dort anfallenden Arbeiten beteiligten. Sie bildeten Leute militärisch aus, aber sie nahmen auch an der Dorfarbeit teil. Wenn wir heute darüber nachdenken, ist es nicht eine Frage des „wir“ und „sie“ – jetzt sind „wir“ die ganze Gemeinschaft. Es war notwendig, diese kollektive Autorität neben der Absurdität einer vertikalen, autoritären Struktur einzuführen. Dann war es möglich, den Prozess der Entscheidungsfindung zu teilen. Ich meine damit, dass strategische Entscheidungen, wichtige Entscheidungen demokratisch getroffen werden müssen, von unten, nicht von oben. […] Selbst die Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees können nicht jede Entscheidung treffen.[…]
F: Glauben Sie, dass der Magonismo die Zapatista-Bewegung beeinflusst hat? Schauen wir uns die Geschichte der Mexikanischen Revolution an, in der Magón, der auch von indígenas abstammte, dessen Eltern Indígenas aus Oaxaca waren, eine ähnliche Vision hatte. Er berücksichtigte die Bedürfnisse der Indigenen Bevölkerung und beschränkte sich nicht darauf zu sagen „Diese armen Indianer!“, sondern nahm sich auch der Frage an, wie man eine Armee mit einer Indigenen Basis schaffen konnte, einer Armee mit kollektiver Beteiligung in den Kommandostrukturen. Also, glauben Sie, dass der Magonismo die ideologische Formierung des EZLN beeinflusst hat?
Marcos: Ich will ehrlich sein. Wenn wir über den Magonismo reden, muss ich an die orthodoxen Linken denken, die engstirnig und dumm sind. Das ist die Wahrheit. Über die Magón-Brüder spricht man nur im Kontext der Arbeiterbewegung, obwohl wir wissen, dass sie auch viele andere wichtige Projekte entwickelt haben. Aber schließlich ist das unbeabsichtigte Resultat, dass man nur so von ihnen spricht. Wir haben uns auf die Flores-Magón-Brüder bezogen, um den Arbeitern die Notwendigkeit klarzumachen, an der Revolution teilzunehmen, und um auf eine wichtige Kraft hinzuweisen, die während der Zeit vor dem Ausbruch und der Ausbreitung des bewaffneten Kampfes 1910-1921 existierte.[…] Schließlich wurde die EZLN aber ohne eine Verbindung zu den Arbeitern geboren. Vielleicht wäre ein stärkerer Einfluss von Magón nützlich gewesen. Wahrscheinlich waren die Bezüge zur Geschichte der mexikanischen Arbeiterbewegung nicht deutlich genug, um die Arbeiter wirklich in den bewaffneten Kampf einzubeziehen. Ich sage damit nicht, dass wir das auf einem theoretischen Niveau nicht berücksichtigt hätten, aber offensichtlich geschah in der Praxis nichts. Das bedeutet, dass es hier einen Irrtum gab, nicht in der Realität -ich kann nicht sagen, „die Realität ist dumm, weil sie sich meinen Gedanken nicht anpasst.“ Es bedeutet, dass wir dumm waren, weil wir die Realität nicht verstanden haben.
F: In diesem Sinn sind die Zapatista-Bewegung und die zapatistische Revolution als erste postmoderne Revolution bezeichnet worden. Analysieren wir die Tatsache, dass viele aktuelle Theorien der neuen Linken, einer antiautoritären Linken mit einer deutlichen Tendenz hin zum freiheitlichen Kommunismus, mit dem Entwurf brechen, der die Arbeiterklasse als Avantgarde der sozialen Revolution betrachtet Viele dieser neuen Theorien sehen die Arbeiterklasse sogar als eine Klasse im Niedergang, eine Klasse, die sich selbst nicht als Klasse erkennt. Ist diese Konzeption der Arbeiterklasse eine, die Sie im Zuge Ihrer Erfahrungen für sich angenommen haben?
Marcos: Nein, absolut nicht. Die Götzenbilder, gegen die wir angingen, waren andere. Die Vorstellung, dass bewaffneter Kampf überall außer in Mexiko möglich sei, war so allgegenwärtig, dass wir uns gezwungen sahen, sie zuallererst zu bekämpfen und andere Dinge zurückzustellen. Außerdem, wer konnte aus historischer oder theoretischer Sicht vor dem 31. Dezember 1993 voraussehen, dass es nicht das Proletariat sein würde, das die Revolution anführte. Wer sonst? Wer sollte es sein? Man hätte spekulieren können, dass es die Lehrer sein würden, man hätte spekulieren können, dass es die Arbeitslosen, die Studenten oder ein Teil der Mittelklasse sein würde, man hätte spekulieren können, dass es linke oder demokratische Splittergruppen innerhalb der Bundesarmee oder innerhalb des angeblich demokratischen Flügels des PRI sein würden. Man hätte vieles spekulieren können, zum Beispiel dass die USA sozialistisch werden würden und dann bei uns einmarschieren und uns ebenfalls sozialistisch machen würden (lacht). […] Es fiel niemandem ein, dass die
indígenas diese Rolle spielen würden, und dass es ihnen gelingen würde, ihren Platz innerhalb der Nation zu fordern, oder dass sie fordern würden, dass die Nation anerkennt, dass sie einen Vorschlag haben, einen Vorschlag für die Nation. Genauso gut, oder besser oder schlechter -das steht zur Diskussion- wie irgendein Vorschlag, den Intellektuelle oder politische Parteien oder soziale Gruppierungen für dieses Land haben können.[…]
F: Marcos, wenn man die Art und Weise betrachtet, wie Sie organisiert sind – jedenfalls soweit Sie uns das haben sehen lassen – ist es offensichtlich, dass wenn Sie von Demokratie sprechen, Sie Bezug nehmen auf eine direkte Demokratie, auf die Beteiligung aller, auf eine Beteiligung, bei der jeder einzelne, jede Person, die zu diesem Land gehört, jede Person, die zu dieser Zeit in Mexiko lebt, teilnehmen kann. Ist das eine korrekte Interpretation?
Marcos: Ja. Absolut Wir sind eine geheime Organisation, die die Waffen gegen die Regierung erhoben hat, und dennoch sind wir sehr darauf bedacht, diese Demokratie aufrechtzuerhalten. Damit meine ich die direkte Abstimmung, die Stimme jedes einzelnen. Ja, denn nur die Zapatistas können abstimmen. Es ist nicht diese Art von Abstimmung, wo man kommt und die Leute fragt, ‚Bist du für den Krieg, oder bist du für den Frieden?‘ ‚Also, ich bin für den Krieg/ ‚Und du?‘ ‚Frieden.‘ Und dann zählt man die Stimmen zusammen.
Nein, ich sage Ihnen, es muss das logische Ergebnis einer Diskussion der Gemeinschaft sein. Die Leute treffen sich zur Versammlung, und die Vertreter stellen, wie zum Beispiel im Fall der Konsultationen mit der Regierung, die Forderungen des EZLN und die Antwort der Regierung zur Diskussion. Sie werden erläutert. Was ist es, das wir gefordert haben, und was hat die Regierung darauf geantwortet? Und sie beginnen zu diskutieren, „dies ist gut, und jenes ist schlecht“. Danach sagt die Gemeinschaft, „Wir haben diskutiert, wir verstehen es jetzt, nun können wir abstimmen“. Dieser Prozess kann Tage dauern. […] In so einem Fall stimmt man nicht für einen Gouverneur, der sich als Hundesohn herausstellen kann, man stimmt für Leben oder Tod der Organisation. Wenn man sich im Krieg befindet, weiß man schon, das es um Leben oder Tod geht. Aber wenn man sich bei einer Entscheidung irrt, und man stimmt für den Krieg, wenn es Zeit für den Frieden ist, oder für Frieden, wenn es Zeit für den Krieg ist, verschwindet man als Organisation. Es kann sein, dass man verschwindet, weil man zerstört wird, weil man das Ansehen oder die moralische Autorität verliert, oder weil man sich selbst verrät, indem man einen Scheinfrieden unterzeichnet, den niemand will. Entscheidungen von solcher Tragweite kann man nicht einer Gruppe von Anführern überlassen, egal wie kollektiv sie sind oder wie groß die Gruppe ist. Nicht einmal die Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees können solche Dinge entscheiden. Die Komitees können sich nicht versammeln und beschließen: „Wir haben analysiert, was Camacho sagte, und wir werden mit ja oder nein entscheiden.“ Sie können das nicht tun. […]
F: Wir würden gern noch eine andere Frage stellen, die zu einem gewissen Grad schon angesprochen wurde, da im Verlauf des Interviews klar geworden ist, dass der EZLN sich nie als Avantgarde der mexikanischen revolutionären Bewegung verstanden hat. Dennoch muss ich diese Frage direkt stellen, weil andere Gruppen, speziell die Revolutionäre Geheime Arbeiterpartei-Union des Volkes (Partido Revolucionario Obrero Clandestino-Union del Pueblo, PROCUP) sich als Avantgarde des Zapatismo bezeichnet haben. PROCUP verbreitete kürzlich ein Dokument, in dem sie anklingen ließen, die EZLN sei eine ihrer „kämpfenden“ Gruppen, und alle neueren Ereignisse in Mexiko seien ein Teil des nationalen Plans der PROCUP, dessen Avantgarde sie logischerweise sind. Stimmt das? Haben Sie irgendeine Verbindung?
Marcos: Die Linke ist sehr engstirnig. Die traditionelle Linke ist sehr engstirnig. Sie sagen: „Also, diese Leute beziehen sich auf keine der bekannten Ideologien, also werden sie wohl keine haben. Wir werden ihnen eine borgen.“ (lacht) Oder sie sagen: „Sie sind gute Leute, aber sie wissen nicht, was sie wollen. Ich werden ihnen sagen, was sie wollen.“ Oder: „Sie sind gute Leute, aber sie brauchen einen Anführer. Ich werde ihr Anführer sein.“ Das sind die Tatsachen nicht nur im Fall von PROCUP, sondern auch mit Trotzkisten und Maoisten, die sagen: „Was die EZLN braucht, ist….MICH!“ (lacht). Ja, letzten Endes „meine Führung“. Was das Pentagon verärgert, ist, dass wenn man „Zapatista“ in den Computer hämmert, der Computer nicht „Moskau“ oder „Havanna“ zurückgibt, oder „Libyen“, „Tripolis“, „Bosnien“ oder irgendeine politische Gruppe. Und die Linken, die an dieselbe Art des Denkens gewöhnt sind, sagen: „Also, die passen nirgends hinein.“ Es kommt ihnen nicht in den Sinn, dass da etwas Neues sein könnte, dass man die Theorien neu formulieren muss. Und sie sagen: „Also, diese armen Leute wissen nicht, was sie wollen, wir müssen ihnen helfen.“ Und weiter, wir sprechen über eine bewaffnete Kraft im Kriegszustand, die nicht immer alle Deklarationen oder die Zeitungen erhält. Meist erfahren wir schließlich nach einer Woche oder auch zwei, was geschrieben worden ist. Es ist also von vornherein klar, dass wir nicht in der Lage sein werden, irgendetwas zu dementieren. Wir können es nicht stoppen. Wir haben Vertrauen in die Leute, in die Gemeinschaft, darin, dass wir uns über unsere Positionen im klaren sind, und dass die Leute nur schwer werden glauben können, wir seien der bewaffnete Arm der PROCUP oder irgendeiner anderen Organisation.[…]
Jetzt erinnere ich mich an etwas – wir haben gerade eine feministische Zeitschrift erhalten, die behauptet, wir seien sexistisch, weil wir uns für den Krieg entschieden haben, und der Krieg sei sexistisch. Deshalb sei das, was die EZLN braucht, ein feministischer Ansatz. Der Artikel war brillant geschrieben – er hat mich zu Tränen gerührt. Ich weiß nicht mehr, wie der Titel war – er war von „reinen“ Feministinnen geschrieben. So etwas habe ich noch nie gesehen.
F: Aus Mexiko?
Marcos: Nein, …die Einleitung hieß „Nur für Zapatista-Frauen“. Und ich gehorchte nicht und las ihn trotzdem, aber ich werde ihn an die compañeras weitergeben.
F: Also, eine der Fragen, die uns besonders interessieren -vor allem unsere compañeras – sind die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern innerhalb dem EZLN. Sie haben es uns erleichtert, uns mit einigen compañeras zu unterhalten, und wir haben gesehen – so weit, wie Sie es uns haben sehen lassen (lacht) – dass Gleichberechtigung existiert. Das kann man deutlich sehen. Die Frauen sagen es selbst: „Mein Partner“, – oder im Fall der Verheirateten – „mein Mann wäscht seine Sachen selbst, er macht seine Arbeit, er erledigt seinen Teil“. Und wenn man sie fragt, ob sie schon Kinder hat, sagt sie. „Ja, ich habe meins schon, meine M-16.“ […]. Die unverheirateten compañeras, die wir befragten, erzählten uns auch, dass sie die gleiche Arbeit wie die Männer machen, dass sie nicht nur als Krankenschwestern oder in der Küche arbeiten, weil sie Frauen sind. Vielleicht könnten Sie als Sprecher des EZLN uns etwas über die Politik des EZLN bezüglich der Geschlechterverhältnisse sagen?
Marcos: Sehen Sie, es gibt viele Probleme. Ich rede von den compañeras… vor allem in der Zivilbevölkerung, die Zivilisten haben viele Bräuche ihrer Vorfahren beibehalten, die sogar in einer vorrevolutionären Situation keinen Platz haben. Zum Beispiel glauben viele noch, dass der Mann das Recht haben soll, die Frau zu wählen, die er heiraten möchte, dass aber die Frau diese freie Wahl nicht haben soll. Der Unterschied, auch der physische Unterschied, zwischen den Frauen unter den Zivilisten und den Frauen in der kämpfenden Truppe ist sehr deutlich. Zu einer Zeit, in der viele der kämpfenden Frauen, wie Sie sagen, eine M-16 haben, haben viele Frauen in der Zivilbevölkerung schon vier oder fünf Kinder, werden von ihren Männern geschlagen; sie können weder lesen noch schreiben, sie haben keine Möglichkeit, sich als Menschen zu entwickeln. Was die compañeras sagen, ist, dass die Gleichberechtigung nicht per Dekret erreicht werden kann, sondern dass sie erkämpft werden muss. Sie sagen: „Ob es euch gefällt oder nicht, aber wir werden dies oder jenes ändern.“ Mit Macht. Das ist der Grund, warum in unserer Liste von Forderungen an die Regierung keine Rede ist von Gleichberechtigung der Frauen. Die compañeras sagen: „Wir werden die Regierung nicht bitten, uns Freiheit zu geben, und wir werden auch nicht euch dumme Männer fragen. Wir werden uns unsere Freiheit sichern, unsere Anerkennung und unsere Würde als Frauen und als Menschen. “ Ich rede von den compañeras… Sie kritisieren uns auch, uns Männer, wegen unserer sexistischen und autoritären Verhaltensweisen. Zum Beispiel haben sich im Verhältnis der Kämpfer untereinander viele Dinge verändert, Dinge, die in der Zivilbevölkerung unverändert blieben. Zum Beispiel darf bei den Zivilisten eine Frau, wenn sie geheiratet hat, nicht mehr tanzen. Sie ist verheiratet, und der Tanzplatz ist ein Ort, wo sich Unverheiratete treffen, die einen Partner für die Ehe suchen. Wenn sie verheiratet ist, darf sie nicht zum Tanz gehen, da sie nun jemandes „Eigentum“ ist. Unter den Zivilisten ist das noch so. Unter den Kämpfenden nicht, sie gehen tanzen, auch wenn sie verheiratet sind, und es ist ganz normal, dass sich die Frau ihren Tanzpartner selbst aussucht. Sie tanzen, nur um zu tanzen, um sich zu amüsieren, ohne irgendeinen anderen Grund, wie etwa, um mit jemandem zu schlafen oder eine Beziehung anzufangen.
Die Politik der EZLN bezüglich der Geschlechterverhältnisse, unter den kämpfenden Truppen… Es gibt keine spezielle Politik, es gibt nur Kämpfende. Es gibt männliche und weibliche Soldaten, aber am Ende sind alle Soldaten. Wenn jemand eine Führungsposition oder eine höhere Stellung einnehmen will, betrachten wir nur seine Fähigkeiten; das Geschlecht spielt dabei keine Rolle. Oft werden in unserem täglichen Leben als Kämpfende oder auch in Beziehungen zwischen Paaren sexistische Verhaltensweisen reproduziert, und deshalb entscheiden unsere Gesetze zumeist zugunsten der Frauen. Es kommt sehr häufig vor, dass Paare sich prügeln, wenn sie sich streiten. Lassen Sie mich den Unterschied zwischen den Frauen in der kämpfenden Truppe und den Frauen in der Zivilbevölkerung so ausdrücken: die kämpfenden Frauen schlagen zurück (lacht).
* Übersetzung aus dem Englischen: Gabi Pisarz
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[1] Die Brüder Flores Magón waren bekannte Führer des im September 1905 gegründeten Partido Liberal Mexicano [PLM], die aus dem nordamerikanischen Exil heraus gegen die Diaz-Diktatur kämpfte. Ricardo Flores Magón gilt zugleich als der bekannteste mexikanische Anarchist. 1914 wurde er in den USA verhaftet und starb 1922 in Fort Leavenworth/ Kansas unter tragischen Umständen. Sein Bruder Jesus war unter Madero und Huerta Minister.
Interviewer: Pablo Salazar Devereaux [Haitianisches Informationsbüro] Ana Laura Hernández [Amor y Rabia/Mexiko], Eugenio Aguilera [Nightcrawlers Anarchist Black Cross], Gustavo Rodríguez [Amor y Rabia/Mexiko]