Vor 500 Jahren – in der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1520 – flüchtete Hernán Cortés mit seinen Truppen aus der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlán. 600 Spanier und mehrere Tausend Tlaxcalteken, die die Nachhut bildeten, wurden in der Noche Triste (dt.: traurige Nacht) von den Mexica, wie sich die Azteken selbst nannten, getötet. Nur 400 Spanier, alle verwundet, entkamen mit knapper Not nach Tlaxcala, der Heimat ihrer wichtigsten Verbündeten.1 In Kenntnis des weiteren Verlaufs der Ereignisse wissen wir, dass diese dramatische militärische Niederlage der spanischen Eroberer den Untergang des Aztekenreiches nicht abwenden konnte. 13 Monate später musste Cuauhtemoc, der letzte aztekische Regent, nach verzweifeltem Widerstand vor der Übermacht der feindlichen Belagerer kapitulieren. In einer Inschrift in Mexiko-Stadt, die an diese epochale Zäsur erinnert, heißt es rückblickend:
„Am 13. August 1521 fiel Tlatelolco, heldenhaft verteidigt von Cuauhtemoc, vor der Übermacht des Cortés. Es war weder ein Triumph noch eine Niederlage. Es war die schmerzvolle Geburt des Volkes der Mestizos, das heute Mexiko ist.“ (zitiert in: Carrasco, S. 157).
Diese salomonisch formulierte Bewertung unterschlägt jedoch, dass Mexiko auch heute noch weitaus mehr ist als ein „Volk der Mestizos“. Das Land, das sich nicht zuletzt als Erbe vorkolonialer Hochkulturen versteht, besitzt nach wie vor eine tief verwurzelte indigene Prägung. Für die indigenen Völker Mexikos, zu denen sich zwischen 14 und 20 Millionen Menschen zählen, ist die Frage nach Triumph oder Niederlage nicht nur von grundsätzlicher Bedeutung, auch die Antwort darauf fällt anders aus als die der mestizischen Mehrheit der Bevölkerung. Für die Azteken, Maya, Zapoteken und die anderen ursprünglichen Völker war der vermeintliche Neuanfang eine Katastrophe, die in eine 500jährige Epoche der Unterdrückung, Demütigung, Ausrottung – aber auch des Widerstandes – mündete. Aus dieser Perspektive wirft die Noche Triste Fragen auf, die im folgenden diskutiert werden sollen.
Tenochtitlán – Ort einer schicksalhaften Entscheidung
Tenochtitlán, die Hauptstadt des Aztekenreiches, zählte 1519 mit seinen 100.000 bis 200.000 Einwohnern (neuere Schätzungen gehen von ca. 60.000 aus) zu den größten und prächtigsten Städten der damaligen Welt. Nur in Paris, Konstantinopel und Beijing sollen mehr Menschen gewohnt haben. Die 1325 gegründete Stadt lag – ebenso wie die Nachbarstadt Tlatelolco – im See von Texcoco. Zusammen erstreckten sie sich über ein Territorium von ca. 13 km² und waren über fünf strahlenförmig angelegte Dammstraßen mit dem Festland verbunden. Der Templo Mayor bildete das Zentrum der Stadt. Als Ausgangspunkt der vier Himmelsrichtungen und als Schnittpunkt von Himmel, Unterwelt und Erde stellte er das Allerheiligste dar. Dieser Status symbolisierte zugleich den aztekischen Herrschaftsanspruch. Das Zentrum von Tenochtitlán mit dem Tempel- und Palastbezirk Tlalxico war von vier Quadranten umgeben: Im Norden befand sich Cuepopan (auch Mictlampa genannt), das die Unterwelt repräsentierte. Im Osten lag Tlalocan (bzw. Teopan), der Ort der Morgendämmerung. Im Süden erstreckte sich Moyotlan (bzw. Huitzlampa) und im Westen wurde der Ring durch Atzacualco (das Haus der Reiher) bzw. Cihuatlampa (die Region der Frau) geschlossen. Jeder der vier Stadtteile verfügte über einen eigenen Tempelbezirk, einen Markt sowie Verwaltungsgebäude. Die gesamte Stadt war von einem Netzwerk aus Kanälen und Straßen durchzogen. Die zahlreichen Dämme dienten sowohl dem Hochwasserschutz als auch der Verteidigung. Um letzteres zu gewährleisten, waren die Dämme, auf deren Kronen Straßen entlang führten, nicht durchgängig angelegt. Brücken, die jederzeit hochgezogen oder blockiert werden konnten, verbanden die einzelnen Teilstücke miteinander.
Gemeinsam mit den Stadtstaaten Texcoco und Tlacopan, die beide auf dem Festland lagen, bildete Tenochtitlán einen Dreibund, der das Aztekenreich regierte, wobei der Tlatoani (dt.: Sprecher bzw. Herrscher) von Tenochtitlán im Laufe der Zeit seine Führungsposition durchsetzen konnte. Ein Lied, das kurz vor der Invasion der Spanier entstanden war, zeugt vom unerschütterlichen Glauben der Azteken an den Fortbestand ihrer Stadt und ihrer Welt.
Stolz auf sich selbst
Ist die Stadt Mexico-Tenochtitlán.
Hier fürchtet niemand einen Tod im Krieg.
Dies ist unser Ruhm.
Dies ist dein Gebot,
O Spender des Lebens!
Bedenket dies, o ihr Fürsten,
Vergesset es nicht.
Wer kann Tenochtitlán erobern?
Wer kann das Fundament des Himmels erschüttern?
(zitiert in: Carrasco, S. 144)
Als Cortés am 8. November 1519 zum ersten Mal mit Moctezuma II., der seit 1502 als Tlatoani von Mexiko das Aztekenreich regierte, am südlichen Rand von Tenochtitlán zusammentraf, kannte seine Bewunderung für die Schönheit und Ausstrahlung der Stadt keine Grenzen. Bernal Díaz del Castillo, einer der spanischen Soldaten in der Gefolgschaft von Cortés, beschreibt in seinem 1568 abgeschlossenen Werk über die „Wahrhafte Geschichte der Entdeckung und Eroberung von Mexiko“ die Hauptstadt der Azteken mit bewundernden Worten:
Was wir da sahen – die vielen Städte und Dörfer, einige mitten im See errichtet, andere groß auch sie, auf trockenem Lande, und dann noch die schnurgerade und ebene Dammstraße, die nach Mexiko hineinführte –, konnten wir kaum glauben und meinten, das gleiche ja den Zauberschlössern, von denen die Amadis-Geschichte erzählt, so mächtig ragten die hohen Türme und Pyramiden – alles Mauerwerk – aus dem Wasser. Einige unserer Soldaten fragten, ob sie die ganzen Dinge, die wir gewahrten, nicht nur träumten … Und welch ein Erscheinungsbild boten erst die Paläste, in die sie uns einquartierten! Wie geräumig und wohlgebaut waren sie, geziert von schön behauenem Stein und aromatischen Hölzern, namentlich dem der Zeder; weitläufige Zimmer und Höfe, herrlich anzuschauen, vor den Fenstern Sonnendächer aus Baumwolle.“ (zitiert in: Carrasco, S. 9)
Auf Einladung des Aztekenherrschers bezogen die Spanier in Tenochtitlán Quartier. Moctezumas Gastfreundschaft vergalten sie aber schon wenige Tage später mit dessen Festsetzung. Anfang Mai 1520 erhielt Cortés dann die wenig erfreuliche Nachricht, dass sein Widersacher Diego Velázquez, der spanische Gouverneur von Kuba, 19 Schiffe mit 1.400 Mann und zwanzig Kanonen nach Mexiko gesandt hatte (Carrasco, S. 151). Die Truppe stand unter dem Befehl von Pánfilo de Narváez und hatte den Auftrag, Cortés festzunehmen. Dieser entschloss sich daraufhin zu einer riskanten Aktion. In der Absicht, seinen Rivalen auszuschalten, brach er am 10. Mai mit 80 Begleitern Richtung Küste auf und ließ die übrigen Soldaten unter der Führung von Pedro de Alvarado in Tenochtitlán zurück. Mit List und Geschick gelang es Cortés, Narváez zu besiegen und seine Streitmacht mit dessen Truppen zu verstärken. Kurz nach diesem Triumph erreichte ihn die Nachricht, dass sich in der Zwischenzeit in Tenochtitlán die Mexica gegen die Spanier erhoben hatten. Anlass war ein blutiges Massaker gewesen, das Alvarado und dessen Leute unter den friedlichen Teilnehmern eines religiösen Festes angerichtet hatten.
Zwischen acht- und zehntausend Menschen, darunter die Spitze der mexikanischen Aristokratie, waren von den Spaniern und ihren Verbündeten aus Tlaxcala auf bestialische Weise getötet worden (Thomas, S. 534). Als sich daraufhin die Einwohner Tenochtitláns militärisch zu wehren begannen, mussten sich die Spanier, deren Zahl nur knapp über hundert lag, in ihr Quartier im Palast des Axayácatl zurückziehen, wo sie Moctezuma und zahlreiche Fürsten seines Hofes als Geisel gefangen hielten. Trotz des Einsatzes von Geschützen und Armbrüsten gelang es Alvarado und seinen Männern nicht, die Belagerung der atzekischen Krieger zu durchbrechen.
Moctezuma – Ohnmacht, Verrat oder Arroganz der Macht?
In diesem ersten Entscheidungskampf zwischen Mexica und Spaniern erwies sich Moctezuma als Zünglein an der Waage – zum Unglück seiner Landsleute und zu Gunsten der zahlenmäßig unterlegenen Eroberer. Am 24. Juni war Cortés mit seinen Truppen zu den Belagerten gestoßen, wodurch die Gefahr einer unmittelbaren Niederlage vorerst abgewendet schien. Mit dem Aufstand und der fortgesetzten Belagerung hatte sich die Situation für die Spanier jedoch grundlegend verändert. Moctezuma, immer noch oberster Herrscher des Aztekenreiches, sollte deshalb seine Untertanen auffordern, die Kampfhandlungen gegen die Belagerten einzustellen. Als dieser am 27. Juni dem Druck der Spanier nachgab und auf das Dach seines Palastes trat, wurde er jedoch von Schmährufen und Steinwürfen der Belagerer empfangen. Die dabei erlittenen Wunden führten zu seinem Tod, wobei bis heute unklar ist, ob er noch am selben Tag oder erst am 30. Juni seinen schweren Verletzungen erlegen war. Es gibt auch die Vermutung, dass Cortés ihn hat töten lassen.
Auf jeden Fall stand Cortés mit dem unrühmlichen Ende des neunten Tlatoani der Mexica vor einem Scherbenhaufen. Sein Plan, mit Moctezuma als Trumpf die Herrschaft über das Aztekenreich zu übernehmen, war schmählich gescheitert.
Wie aber konnte es überhaupt so weit kommen? Um die tragische Gestalt der Aztekenherrschers und seine Beziehung zu Cortés ranken sich zahlreiche Legenden und Spekulationen. Warum hat sich Moctezuma ohne sichtbare Gegenwehr solange in sein Schicksal gefügt? In welchen Situationen hätte er es noch wenden können? Bis zuletzt hatte er es trotz geheimer Kommunikationskanäle vermieden, die Mexica zum Aufstand gegen die Spanier aufzurufen. Mehr noch: Als es schließlich doch in Tenochtitlán zur spontanen Erhebung gekommen war, blieb diese ohne klare Führung, wofür Moctezuma mit seinem Zaudern und seiner Willfährigkeit gegenüber Cortés die Hauptschuld trägt. Am Ende seiner bis 1519 glanzvoll verlaufenen Herrschaft war er nicht nicht mehr als eine Marionette in den Händen der Spanier. Ob es die Arroganz der Macht, eine Mischung aus Furcht und Bewunderung gegenüber Cortés oder gar feiger Verrat an seinem eigenen Volk war, der Moctezumas verhängnisvollem Schicksal den Weg bereitet hat, ist in Nachhinein nicht die entscheidende Frage.2 Wichtiger ist die Feststellung, dass die tragische Gestalt Moctezumas II. zum Sinnbild einer willfährig ertragenen Unterwerfung eines mächtigen Reiches unter die Herrschaft beutegieriger Eroberer und damit zum Mentekel des Untergangs einer ganzen Zivilisation geworden ist.
La Noche Triste (I) – Moment der Entscheidung?
Die zweite wichtiges Feststellung besteht darin, dass Moctezumas Tod eine neue Phase des Kampfes der Mexica gegen die Spanier eröffnete, in dem Cortés seine schwerste Niederlage erlitt und der Erfolg seines gesamten Vorhabens auf des Messers Schneide stand. Den entscheidenden Wendepunkt bildeten die dramatischen Ereignisse in der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1520, als die Spanier und ihre Verbündeten – zusammen immerhin fast dreitausend Kämpfer – versuchten, aus Tenochtitlán auszubrechen. Es war der Mut der Verzweiflung, der sie zwang, alles auf eine Karte zu setzen: Zum einen stand Moctezuma als Schutzschild und Feigenblatt nicht mehr zur Verfügung. Zweitens verfügten die Mexica nunmehr über eine entschlossene und erfahrene Führung mit Cuitláhuac, einem Bruder Moctezumas und dessen Nachfolger im Amt des Tlahtoani, an der Spitze. Drittens litten die Belagerten unter dem zunehmenden Lebensmittel- und Wassermangel, wodurch viertens ihre Unzufriedenheit gegenüber Cortés gefährlich angewachsen war. Bertold Riese (Das Reich der Azteken, S. 277-278) beschreibt die Flucht der Spanier aus Tenochtitlán, die als „Noche Triste“ in die Geschichte eingegangen ist, mit folgenden Worten:
„Der Ausbruchsversuch gelingt zwar und führt die Spanier auf dem kürzesten Weg über eine Dammstraße zum westlich benachbarten Festland. Auf dieser Dammstraße, wo man nicht ausweichen kann und immer wieder den Übergang über Kanäle erkämpfen muss, und wo man von den beiderseits des Dammes verlaufenden Schifffahrtskanälen Angriffen ausgesetzt ist, erleiden sie hohe Verluste. Der verzweifelte Kampf kostet sie ihre gesamte Beute und viele Pferde und Mannschaften. … Als die Spanier das westliche Seeufer schließlich erreicht haben, ist der gefährlichste Teil ihrer Flucht geschafft, was sie selbst aber gar nicht wissen können, denn die indianische Kriegsführung ist ihnen noch zu fremd. Die Azteken haben in den Kämpfen an der Dammstraße soviel Beute an Soldaten und Pferden gemacht und haben soviel getötete Gegner zur Verfügung, dass sie von der weiteren Verfolgung ihrer Feinde ablassen und sich den Vorbereitungen für die Opferung ihrer Gefangenen zuwenden. Das schafft den Spaniern auf ihrem Rückzug die dringend benötigte Entlastung.“
Diese Schilderung konfrontiert uns mit der Frage, was geschehen wäre, wenn die Azteken die Spanier weiter verfolgt und bekämpft hätten? Hätte eine solche Entscheidung dann das Ende für Cortés und seine Männer bedeutet? Wir wissen es nicht. Die nachfolgenden Ereignisse zeigen jedoch, auf welch schmalem Grat die damaligen Akteure die endgültige Entscheidung ihres unerbittlichen Kampfes auf Leben und Tod ausgefochten haben.
La Noche Triste (II) – Was wäre wenn?
Die Crux für die schwer angeschlagenen Spanier bestand darin, dass sie sich bis nach Tlaxcala, der Heimat ihrer wichtigsten und bislang zuverlässigsten Verbündeten durchschlagen mussten. Der ca. 200 km lange Marsch führte im Norden um den Zumpango-See, dann ging es über Otumba nach Osten und in Apan schwenkte die Kolonne schließlich nach Süden. Nach harten Kämpfen mit den Mexica überquerten sie das Gebirge und erreichten schließlich Hueyotlipan, die erste Stadt im Reich der Tlaxkalteken, wo der zermürbte, hungrige und verwundete Haufen freundlich begrüßt wurde. Von Tlaxcala aus organisierte Cortés dann die Eroberung von Tenochtitlán. Schrittweise unterwarf er jene Stadtstaaten, die mit den Mexica verbündet oder ihnen tributpflichtig waren. Dabei konnten die Spanier auf eine wachsende Zahl von indigenen Verbündeten zurückgreifen, die die sich ihren in der Hoffnung anschlossen, so die Herrschaft der Mexica abstreifen oder eigene Vorteile erlangen zu können. Es waren mehrheitlich die Krieger aus Tlaxcala, die im August 1521 zusammen mit den Spaniern und lokalen Verbündeten die Mexica schließlich besiegten und damit zugleich den Untergang der stolzen Stadt Tenochtitlán besiegelten. Die geflüchteten Einwohner durften später zurückkehren, sofern sie sich der neuen Ordnung der Spanier fügten. Aus den Überresten der alten Tempel und Paläste entstanden katholische Kirchen und andere Kolonialbauten. Drei Jahre nach dem Ende der Kämpfe zählte die Stadt wieder 30.000 Einwohner.
So unausweichlich die Niederlage der Mexica im Rückblick auch scheint, so bleibt doch die Frage, wie es den wenigen Spaniern gelingen konnte, den Ort ihres Desasters in der Noche Triste bereits ein Jahr später zu belagern und nach 80 Tagen erbitterten Kampfes zu erobern. Anhand von drei Argumenten, die sich alle auf die Zeit nach der Flucht der Spanier aus Tenochtitlán beziehen, lässt sich zeigen, dass Cortés‘ tolldreistes Unternehmen auch ganz anders hätte ausgehen können.
Zum ersten bot sich den Mexica in der Schlacht von Otumba am 14. Juli 1520 die Chance, Cortés‘ angeschlagene Truppe endgültig zu vernichten. Die Spanier entgingen nur knapp einer Niederlage. „Die mexikanische Streitmacht trat just zu einem Zeitpunkt den Rückzug an, da sie nicht mehr weit von ihrem zweiten Sieg über die Kastilier entfernt war.“ (Thomas, S. 574). Dieser Rückzug ermöglichte den Spanier den Weitermarsch nach Tlaxcala, während sie bei den Mexica eine neue Krise auslöste. Bei den Auseinandersetzungen über das weitere Vorgehen setzte sich zwar schließlich die harte Linie gegenüber den Anhängern von Moctezuma durch. Dennoch hatten die Mexica damit die beste Gelegenheit verspielt, die Spanier aus eigener Kraft zu vernichten.
Zum zweiten war unterdessen in Tlaxcala eine lange Debatte über die Frage geführt worden, wie man es in Zukunft mit den Spaniern halten sollte. Bei deren Ankunft war Tlaxcala ein kleiner föderaler Militärstaat, dessen Territorium – etwa 2.500 km² – in ca. 2.000 Metern Höhe lag und gänzlich vom Aztekenreich umschlossen war. Die Bevölkerung, zwischen 100.000 und 200.000 Menschen, lebte in Siedlungen, die größtenteils auf drei Täler verteilt waren. Trotz zahlreicher Kriege gegen Tlaxcala war es dem Dreibund nie gelungen, den kleinen Staat im Gebirge zu annektieren. Die lange Feindschaft mit den Mexica hatte den Ausschlag gegeben, dass die Tlaxcalteken ein Bündnis mit den Spaniern eingegangen waren (Rinke, S. 145-166).
Durch die Noche Triste war für alle drei Parteien – die Mexica, die Spanier und die Tlaxcalteken – eine grundsätzlich neue Situation entstanden, die die Tür für bislang unmöglich gehaltene Möglichkeiten öffnete. Die Mexica ergriffen die Initiative und schickten hochrangige Gesandte zu den Tlaxcalteken, die ihnen mit Verweis auf die gemeinsamen Interessen ein verlockendes Bündnisangebot machten. „Die Fremden, so warnten die Mexica, stellten eine Bedrohung für beide Völker dar, denn sie hätten Ausschreitungen begangen, die Reichtümer des Landes gestohlen, versucht, große Herrscher zu Vasallen zu erniedrigen, und Tempel entweiht. Die Mexica boten ein dauerhaftes Bündnis an, vermutlich nach dem Vorbild ihrer Allianzen mit Texcoco und Tacuba.“ (Thomas, S. 576) Ein Teil der Tlaxcalteken unter Führung vom Xicotencatl dem Jüngeren wollte auf dieses Angebot eingehen und die Spanier töten lassen. Dieser konnte sich aber nicht gegen seinen Vater und andere Adlige durchsetzen. Die pro-spanische Fraktion nutzte die Gunst der Stunde und forderten von Cortés weitreichend Gegenleistungen für die Fortsetzung der Allianz mit den Spaniern.
„Erstens sollten die Kastilier zusichern, ihnen Cholula zu übergeben. Zweitens verlangten sie die Erlaubnis, nach der Niederlage der Mexica eine Garnision in Tenochtitlan zu unterhalten, welche die Mexica für immer von Angriffen auf ihr Territorium abhalten sollte. Drittens wollten sie sich mit den Kastiliern die Kriegsbeute teilen, und viertens forderten sie die dauerhafte Befreiung von der Tributpflicht gegenüber dem Herrscher von Tenochtitlan, wer immer es sei.“(Thomas, S. 576) Cortés war mit allem einverstanden und die mexikanischen Gesandten mussten überstürzt und heimlich abreisen. Damit blieb auch diese Gelegenheit, sich der Spanier zu entledigen, ungenutzt. Später, 1529 im amtlichen Ermittlungsverfahren gegen Cortés, gaben spanische Zeugen zu Protokoll: „Hätten sich die Tlaxcalteken gegen die Spanier erhoben, dann wären sie (die Spanier) alle umgekommen, weil viele Spanier schwer verletzt waren. … kein Spanier (wäre) den Mexica entkommen, denn es gab keinen anderen Ort, an dem man uns Zuflucht gewährt hätte.“ (zitiert in: Thomas, S. 577).
Zum dritten unternahm Cuitláhuac, der Nachfolger Moctezumas, alles, um die Tarasken als Verbündete zu gewinnen. Diese hatten auf dem Gebiet der heutigen mexikanischen Bundesstaaten Michoacán und Jalisco das zweitmächtigste Reich Mesoamerikas errichtet. Mit ihren Nachbarn, dem Aztekenreich, hatten sie in der Vergangenheit manchen Krieg ausgefochten. Trotz aller Beteuerungen der mexikanischen Würdenträger, die die von den Spaniern drohenden Gefahren in den schillerndsten Farben schilderten, überwog beim Cazonci, dem Herrscher der Tarasken, das Misstrauen gegenüber den Mexica. Dabei mag der Umstand den Ausschlag gegeben haben, dass die Tarasken bis dahin mit den Spaniern keine Kontakte gehabt hatten. Letztlich wogen die Tarasken die ihnen bekannte Gefahr (Mexica) gegen die unbekannte Gefahr (Spanier) ab und entschieden sich dann in der Hoffnung, sich aus der Schlacht um Tenochtitlán heraushalten zu können, gegen ein Bündnis mit Cuitláhuac. Wie die Eroberung des Taraskenreiches durch die Spanier 1522 zeigt, besiegelten sie damit am Ende nicht nur das Schicksal von Tenochtitlán, sondern auch ihr eigenes (Thomas, S. 578/579).
Cortés und die Spanier – eher Zuschauer als Akteure?
Bei der immer wieder gestellten Frage, wie es den Spaniern unter Cortés gelingen konnte, das damals mächtigste Reich Mesoamerikas innerhalb von zwei Jahren zu zerstören, geht es in erster Linie darum, deren realen Anteil an dieser epochalen Wende zu ermitteln. Dies gestaltet sich vor allem deshalb so schwierig, weil sich in der gängigen Geschichtsschreibung vor allem die Interpretation der Sieger durchgesetzt hat. In jüngeren Arbeiten ist diese Sicht, die den Spanier die zentrale Rolle zuweist, deutlich infrage gestellt worden. Mit Verweis auf das 2018 erschienene Buch des US-amerikanischen Autors Matthew Restall wird Cortés in einem Artikel im Dezemberheft 2019 der Zeitschrift GEO nicht nur als „Lügenbaron von Mexiko“ entlarvt, sondern auch die Bedeutung der Spanier darauf reduziert, lediglich „Zuschauer“ und „Spielball der Ereignisse“ gewesen und in einen Krieg der indigenen Völker untereinander „hinein gestolpert“ zu sein (Fred Langer: Der Lügenbaron von Mexiko). Ein differenzierteres Bild zeichnet Stefan Rinke, der die Rolle der Spanier wie folgt beschreibt:
Die Spanier hatten schnell gelernt. Sie waren als fremder, aber durchaus integrierbarer Faktor in eine Welt aus Bündnissen eingedrungen, in der Über- und Unterordnungen beständig neu ausgefochten wurden. Durch das Schmieden von Allianzen wurden sie Bestandteil dieser Welt. Totonaken und Tlaxcalteken zogen mit den Spaniern, weil diese ihnen für die Verfolgung eigener Ziele nützlich waren. … die Spanier konnten die schwelenden ethnischen Konflikte immer zu ihren Gunsten nutzen, wobei ihnen auch das Glück zur Seite stand.“ (Rinke, S. 170/171) Kontrafaktisch ließe sich daraus schlussfolgern, dass die Einheit der indigenen Völker der Schlüssel für den Sieg über die europäischen Eroberer gewesen wäre.
Zurecht wird darauf verwiesen, dass die von den Spaniern eingeschleppten Krankheiten, gegen die die Völker Alt-Amerikas aufgrund ihrer Jahrtausende währenden geographischen Isolierung von Europa keine Immunität entwickeln konnten, eine demographische Katastrophe unter der ursprünglichen Bevölkerung des amerikanischen Doppelkontinents verursacht haben. Von den 20 bis 25 Millionen Menschen, die vor der Landung der Spanier in Zentralmexiko lebten, waren achtzig Jahre später nur zwei Millionen übrig. Eine 1520 ausgebrochene Pockenepedemie hatte im Dezember den Tlatoani Cuitláhuac das Leben gekostet und im Sommer des folgenden Jahres dazu beigetragen, die Verteidigung von Tenochtitlán zu schwächen. Faktisch hatten die Pocken und andere Seuchen, die durch die Spanier verbreitet wurden, die Wirkung einer biologischen Massenvernichtungswaffe. Schon aus diesem Grund lässt sich schwer abschätzen, ob ein endgültiger militärischer Sieg über Cortés ausgereicht hätte, das Überleben des Aztekenreiches zu sichern. Hinzu kommt, dass die Spanier von Kuba aus immer wieder neue Truppen auf Festland entsenden konnten, um Cortés‘ Werk in ihrem Sinne fortzusetzen.
Bereits in Hinblick auf ihre Allianzen und die von ihnen verbreiteten Krankheiten waren die Spanier mehr als nur „Zuschauer“ oder „Spielball“. Auch die Beschreibung als Katalysator trifft nicht den Kern der Sache. Im tödlichen Ringen um die Zukunft Mesoamerikas – denn um nichts anderes ging es damals – bleiben sie am Ende die zynischen Sieger. Es ist richtig, dass die Tlaxteken und andere Verbündete die „Hauptarbeit“ bei der Zerschlagung des Aztekenreiches leisteten. Es ist jedoch falsch, im Umkehrschluss die Rolle der Spanier zu verharmlosen. Denn mit der Niederwerfung Tenochtitláns war ihnen der Enthauptungsschlag gegen das damals mächtigste Kraftzentrum des mesoamerikanischen Weltsystems gelungen. Sie – und nicht die Tlaxtalteken – errichteten eine 300jährige Kolonialherrschaft über ganz Mexiko und darüber hinaus.
Kurzfristig erwiesen sich die Ereignisse um den 30. Juni 1520 für Cortés und seine Spanier zwar durchaus als Noche Triste, langfristig gesehen jedoch weitaus mehr für die Mexica und die anderen indigenen Völker Mesoamerikas. Denn es war ihre Weltordnung, die durch die Spanier zerschlagen wurde. Die auf den Trümmern von Tenochtitlán errichtete Hauptstadt von Neu-Spanien trägt seit 1535 den Namen Ciudad de México. Heute sind sowohl die Spanier als auch Tenochtitlán längst Geschichte, aber ihr jeweiliger Anteil an dieser Geschichte ist nach wie vor hart umkämpftes Terrain.
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Literatur:
Carrasco, Davíd: Die Azteken. Stuttgart 2012
Díaz del Castillo, Bernal: Die Eroberung von Mexiko. Berlin 2017
Haberland, Wolfgang: Moctezuma II (Montezuma), in: Die Großen der Weltgeschichte, 4, Zürich 1978, S. 614-630
Langer, Fred: Der Lügenbaron von Mexiko, in: GEO, Dezember 2019, S. 116-129 (im Internet unter: https://www.geo.de/wissen/22952-rtkl-eroberung-des-aztekenreichs-hernan-cortes-gegen-montezuma-der-luegenbaron-von
Restall, Matthew: When Montezuma Met Cortés: A True History of the Meeting that Changed History. Ecco 2018
Riese, Bertold: Das Reich der Azteken. München 2011
Thomas, Hugh: Die Eroberung Mexikos. Cortés und Montezuma. Frankfurt a. M. 2000
Rinke, Stefan: Conquistadoren und Azteken. Cortés und die Eroberung Mexikos. München 2019
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1In den einzelnen Quellen werden unterschiedliche Zahlen genannt. Hugh Thomas gibt eine Spanne an, die zwischen 400 und 1170 liegt. Er selbst hält 600 getötete und verschollene Spanier für die wahrscheinlichste Zahl (Thomas, S. 558/559). Carrasco geht von 800 Spaniern und 2000 Tlaxcalteken aus, die in der Noche Triste ihr Leben verloren haben. Von ihm stammt auch die Zahl von 400 überlebenden Spaniern (Carrasco, S. 153/154).
2Wolfgang Haberland zeichnet in seinem Porträt von 1978 (Die Großen der Weltgeschichte, 4, S. 614-630) eine Bild von Moctezuma, das ihn als „tatkräftigen Militärführer und zielstrebigen Machtpolitiker“ zeigt. Matthew Restall (When Montezuma Met Cortés: A True History of the Meeting that Changed History, Ecco 2018) hebt dessen Neugier und Lernbereitschaft gegenüber den Neuankömmlingen hervor.
Bildquellen: [1,2] Quetzal-Redaktion_pabloaroca