Was verstehen Sie unter Globalisierung?
Das ist die 50.000-Dollar-Frage. Man kann darunter sehr viel verstehen. Eigentlich ist Globalisierung die Verringerung von Distanzen durch eine enorme Beschleunigung aller Aktivitäten und eine Expansion der Reichweiten im weitesten Sinne. Letztlich ist Globalisierung die Kompression von Raum und Zeit, so dass Distanzen bedeutungslos werden, Standorte zusammenrücken, die bislang getrennt waren und nichts voneinander wussten, aber nun doch in Konkurrenz stehen. Möglich ist dies durch politische Akte. Diese heißen Deregulierung und Liberalisierung. Da sind alle Grenzen beseitigt worden, und technisch ist dies vor allem mit den modernen Kommunikations- und Transporttechnologien möglich. Ökonomisch ist dies eine Folge der Akkumulation des Kapitals nach dem II. Weltkrieg, immer nach so langen Expansionsschüben, die mehrere Jahrzehnte angedauert haben. Wie nach dem II. Weltkrieg strebt das Kapital über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus. Die Ökonomie ist im Gegensatz zur Politik eben grenzenlos. Und inzwischen hat das Kapital einen solchen Weltmarkt hergestellt, sowohl für die Waren als auch insbesondere für das Geldkapital, für die Finanzen, und die sind heute der treibende Motor der Globalisierung.
Nun gibt es in der Globalisierungsdebatte die Meinung, dass es eigentlich kein neues Phänomen ist, sondern dass es eine ähnliche Entwicklung schon vor 1914 gegeben hat. Was ist nun tatsächlich neu an den heutigen Prozessen?
Die These ist meines Erachtens abwegig. Sie ist von Hirst und Thompson statistisch begründet worden und sie ist dann auch vom IWF in einem der World Economy Reports (1995) aufgegriffen worden, auch mit wirtschaftshistorischem Material belegt worden, aber immer mit der Botschaft: „Seht her, liebe Leute, die Globalisierung gab es schon früher. Ihr braucht keine Angst zu haben, denn es ist eigentlich nichts Neues. Globalisierung hat es immer gegeben. Also kümmert euch nicht weiter darum. Macht weiter wie bisher.“ Das ist die Absicht, die dahinter steckt beim IWF. Aber tatsächlich ist es so, dass die internationale Verflechtung von Großbritannien so stark war vor dem I. Weltkrieg wie erst wieder in den späten 80er Jahren. Das ist zweifellos richtig. Das betraf nur Großbritannien, und nicht die Welt der Industrieländer insgesamt, nicht die Welt der Entwicklungsländer und nicht die osteuropäischen und zentraleuropäischen Länder. Die waren überhaupt nicht in diesen Globalisierungsschub vor dem I. Weltkrieg einbezogen. Und dann darf man folgendes nicht vergessen: Es war Globalisierung mit Hilfe der Direktinvestitionen und vielleicht des Welthandels und der Migration. Aber es war nicht Globalisierung der Finanzmärkte, so wie wir sie heute kennen. Das ist tatsächlich etwas völlig Neues. Und die Dynamik der Finanzmärkte ist im Prinzip das, was heute die Globalisierung kennzeichnet, und die gab es in dem Sinne, wie sie heute existieren, vor dem I. Weltkrieg nicht. Und dann muss man noch ein Weiteres sehen. Denn nach der Globalisierung vor dem I. Weltkrieg folgte der I. Weltkrieg – und nach dem I. Weltkrieg eine De-Globalisierungsphase von mehreren Jahrzehnten, wo der Weltmarkt nahezu vollständig zusammengebrochen ist. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 ist der Welthandel praktisch zum Erliegen gekommen – die Kapitalverflechtungen sind völlig zerrissen worden. Und dann kam der II. Weltkrieg. Und die Frage lautet, wenn wir da Parallelitäten herstellen wollen, zwischen der Zeit vor dem Weltkrieg und den Entwicklungen in den 90er Jahren und vielleicht auch in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts: Es gibt auch heute wieder Tendenzen, die zum Ende dieses Globalisierungsschubes führen. Da müssen wir sehr aufmerksam sein, und sehr genau aufpassen, damit so etwas Schreckliches, wie die zwei Weltkriege, eben nicht passiert.
Da würde sich meine dritte Frage anschließen. Es gibt ja die Position von Oskar Lafontaine: Globalisierung als Chance. Wie würden Sie die Gewichtung zwischen Chance und Dilemma oder Gefahr vornehmen?
Na ja, es gibt ja den alten Sponti-Spruch: Du hast keine Chance, also ergreife sie. So ist das mit der Globalisierung. Man kann gar nicht anders als mitmachen. Denn man kann sich nicht aus diesem Weltgeschehen zurückziehen. Das ist, würde ich sagen, ausgeschlossen. Also muss man mitmachen. Und dann muss man selbstverständlich versuchen, auch hierund da, wo es möglich ist, die Globalisierung zu gestalten. Das ist im Prinzip auch das, was Attac vorhat. Die Kontrolle der Finanzmärkte beispielsweise durch eine Tobin-Tax oder die Kontrolle der Off-shore Finanzzentren, um deren manchmal sogar kriminelles Tun zu unterbinden, bei der Geldwäsche beispielsweise oder bei der Rückschleusung von Korruptionsgeldern aus dem Süden in den Norden usw. Auch die Direktinvestitionen müsste man kontrollieren, damit die transnationalen Konzerne auch in den Ländern investieren, wo sie Verantwortung übernehmen. Das ist in den vergangenen Jahren in vielen Fällen viel zu wenig geschehen, so dass die transnationalen Konzerne doch in manchen Ländern durch Korruption, durch ökologische Schädigungen eine eher negative als eine positive Bilanz aufweisen. Da könnte man etwas tun, da muss man etwas tun. Auch auf den Arbeitsmärkten lassen sich sehr viele Regulierungsmöglichkeiten finden, um die negativen Auswirkungen der Globalisierung entweder abzufedern oder aber auch zu unterbinden.
Das heißt also, sie treten für eine Regulierung ein. Dies bedeutet aber nun, dass die Nationalstaaten als institutionelle Form einen gewissen Bedeutungszuwachs erlangen würden.
Ja, wenn man davon ausginge, dass die Re-Regulierung auf Seiten der Nationalstaaten stattfindet. Das muss aber nicht sein.
Aber sie sind Akteure.
Ja, die Nationalstaaten sind auch Akteure, aber neben vielen anderen. Viele Dinge, die Regulierung etwa der Kapitalmärkte, der kurzfristigen Kapitalströme, lassen sich an nationalstaatlichen Grenzen erreichen, indem man Kapitalverkehrskontrollen einführt, wie das in der Finanzkrise 1997 einige asiatische Länder ja auch getan haben. Aber man muss auch sehen, dass man viele der Regeln nur noch auf globaler Ebene erlassen kann. Da braucht man auch internationale Institutionen, die überwachen, dass diese auch durchgesetzt werden. Wenn ich eine Tobin-Tax einführe, dann brauche ich so etwas wie eine internationale Institution, die über ihre Einhaltung wacht. Natürlich können das auch die Nationalstaaten tun und müssen das auch tun. Nur, wir brauchen auch internationale Institutionen. Wir brauchen das Zusammenspiel auf verschiedenen Ebenen, von verschiedenen politischen Institutionen. Also das, was immer als „global governance“ bezeichnet wird.
Wie vereinbaren sich Ihrer Meinung nach Globalisierungsprozess und der Unilateralismus der USA, der vor allem in der Bush-Regierung an den Tag gelegt wurde.
Also, die vereinbaren sich eigentlich überhaupt nicht, denn die USA benutzen die Globalisierungsprozesse zu ihrem Nutzen, unilateral, und versuchen sich aus den Verantwortlichkeiten herauszuhalten, die dann Abstriche für den American Way of Life bedeuten. Das hat Bushs Vater bereits auf der Konferenz von Rio de Janeiro von 1992 ganz deutlich gemacht: das alles zur Disposition steht, nur nicht der American Way of Life. Und so verhalten sich die USA auch heute wieder in der Globalisierungsdebatte. Das geht auf die Dauer nicht gut. Man kann nicht das Klima retten, wenn der größte Verschmutzer in der Welt, die USA nämlich, sich nicht am Kyoto-Protokoll beteiligen. Man kann nicht die Kleinkriege wirklich ausrotten, wenn die USA sich nicht an dem Protokoll zur Verhinderung der Ausfuhr von Kleinwaffen beteiligen, da mit diesen Kleinwaffen die Kleinkriege geführt werden, die so viele Opfer fordern. Man kann sich nicht über die Minen und deren Verbot einigen, wenn die USA nur halbherzig oder gar nicht mitmachen. Also, was die USA gegenwärtig tun, ist, die Globalisierung als eine Szene zu benutzen, die also ihnen (selbst) als Nation nicht schadet oder sogar nützt. Sie wollen aber keine Kompromisse oder Zugeständnisse gegenüber anderen machen. Und das ist auf die Dauer nicht durchhaltbar.
Aber aktuell scheint es ganz gut zu klappen.
Ich weiß nicht, ob es aktuell ganz gut klappt. Es gibt da eine ganze Reihe von politischem Widerstand innerhalb und auch außerhalb der USA, und ich bin nicht sicher, ob die USA mit dieser Linie längerfristig durchkommen werden.
Welche Rolle könnte die EU oder Europa spielen, um Druck auf die USA auszuüben?
Ja, welche Rolle könnte sie spielen? Sie brauchte eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die nicht nur Name ist, sondern auch entsprechend programmatisch und auch machtpolitisch vorgehen könnte, d.h., die Europäische Union müsste sozusagen mit einer Stimme sprechen. Das ist so gegenwärtig überhaupt nicht der Fall. Es gibt unterschiedliche Interessen, etwa in Großbritannien, die eher Atlantiker sind und eher mit den USA gehen, als dass sie sich mit den Europäern gemeinsam über eine Alternative sorgen würden. Aber auch innerhalb des kontinentalen Europas gibt es zu wenige Gemeinsamkeiten, um den USA gegenüber ein Gegengewicht darzustellen. Daran müsste noch gearbeitet werden.
Was hat sich für Sie mit dem 11. September in Bezug auf die Globalisierung geändert?
Gar nichts. Die Globalisierung hat es vorher gegeben und sie ist durch den 11. September nicht rückläufig geworden, auch nicht beschleunigt worden. Allerdings hat es dazu geführt, dass die sich schon vorher abzeichnende Militarisierung ökonomischer Beziehungen noch eine weitere Unterstützung gefunden hat. Jetzt geht es um die Kämpfe des Terrorismus und dadurch wird die ganze Welt de facto zu einem Kriegsschauplatz. Innerhalb dieses Kriegsschauplatzes wird es möglich sein, eventuell dann auch das zu tun, was für die Versorgung der Industrieländer von der NATO sowieso als Sicherheitsaufgabe definiert worden ist, nämlich dafür zu sorgen, dass die Rohstoffe, insbesondere die energetischen Rohstoffe, in die Industrieländer kommen. Das hat der 11. September noch einmal unterstützt.
Insofern könnte man sagen, er war funktional für die Entwicklung der Globalisierung. Aber dieser Zynismus ist eigentlich nicht meine Sache, weil dies nämlich bedeuten würde, dass man die vielen Opfer, die dieses Terror-Attentat gekostet hat, vergisst und ihnen nicht gerecht wird.
In Bezug auf den 11. September ist für mich eine Facette interessant, nämlich die Frage der Verwundbarkeit. Ist es nicht so, dass den USA erstmals bewusst geworden ist, vor allem auch den einfachen Leuten, dass sie eben nicht auf einer Insel der Glücklichen leben, sondern mitten drin stecken im Globalisierungsprozess.
Ja, das ist sicherlich richtig. Dieses Gefühl der Verwundbarkeit ist richtig, denn die USA waren bislang von keinem der Kriege, an denen sie beteiligt waren, direkt auf ihrem Territorium betroffen. Und das war zum ersten Mal der Fall, insofern ist es völlig richtig. Es ist natürlich möglich, dass sich dies auch in Zukunft noch in ähnlicher Weise oder noch stärker zeigen wird. Denn die Nicht-Anerkennung der territorialen Souveränität, die eigentlich etwas Neues in der Weltgeschichte ist, gibt es erst seit den 90-er Jahren, dem Beginn der modernen Globalisierung. Das zeigt sich jetzt auch in der Weise, dass auch das Territorium der mächtigsten Nation auf Erden nicht mehr als ein unverletzliches Territorium akzeptiert wird. Und die Mittel, um auf diesem Territorium dann auch tätig zu werden, sind offensichtlich vorhanden, sei es nun durch „cyber-attacks“, durch die Terrorattacke auf das World Trade Center oder durch nukleare Angriffe, die ja angeblich auch vorbereitet werden. Dazu kann ich allerdings nichts sagen, weil ich viel zu wenig Experte bin, um dazu etwas Gehaltvolles mitteilen zu können.
Das Interview wurde von Peter Gärtner am 13. 06. 2002 geführt.
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Tobin-Tax: 1972 schlug James Tobin die Besteuerung von internationalen Devisentransaktionen mit dem Ziel vor, Wechselkurse zu stabilisieren und Spekulationen zu beseitigen.
Off-shore Finanzzentren sind Märkte außerhalb Europas und Nordamerikas mit beträchtlich weniger steuergesetzlichen (Steueroasen) und/oder Anlegervorschriften, (aus: Fischer (2002): Börsenlexikon)