Zwar waren noch Tage danach kaum offizielle Resultate verfügbar, aber die Umfragen de boca da urna („an der Wahlurne“) gaben alle den Favoriten als klaren Sieger, der mit einigen Punkten mehr als alle Rivalen zusammen die absolute Mehrheit erreicht habe. Die Umfragen der letzten Wochen ließen auch kaum mehr Zweifel zu: nachdem viele Monate lang der Linkskandidat Luiz Inácio da Silva, genannt „Lula“, haushoher Favorit für die Präsidentschaft gewesen war, ist der frühere Wirtschaftsminister Fernando Henrique Cardoso seit Mitte des Jahres sehr klar in Führung gegangen und hat nun am Montag tatsächlich, mit über der Hälfte der gültigen Stimmen, bereits im ersten Wahlgang den Sieg davongetragen. Eindeutig ausschlaggebend für diesen radikalen Umschwung in der Wählergunst war der „Real-Plan“, der seit Juli – aber für wie lange? –die chronische Inflation auf ein für brasilianische Verhältnisse sehr niedriges Niveau von jetzt zuletzt, im September, 1% monatlich hinuntergedrückt und damit der Bevölkerung Hoffnung auf eine Stabilisierung und dann auch eine lange überfällige Wiederankurbelung der Wirtschaft gegeben hat.
Wie die Sache nun weitergehen wird, ist jedoch alles andere als klar. Cardoso, früher linksgerichteter Soziologe und prestigereicher Mitbegründer der „Dependenztheorie“, die einst, vor rund 25 Jahren, die Abhängigkeitsmechanismen als grundlegenden Faktor der Unterentwicklung Lateinamerikas kritisiert, hat sich zu einem „pragmatischen“ Politiker gemausert und sich nicht gescheut, mit den konservativsten Kräften des Landes zu paktieren, um zum Präsidenten gewählt zu werden. Zwar lehnte er ab, den ultraliberalen Kurs mitzumachen, der z.B. in Argentinien seit einigen Jahren Furore macht und heftigen internationalen Beifall erntet; aber die Parallelen zwischen dem „Real-Plan“ und seinem argentinischen Gegenstück, wie die Parität der nationalen Währung mit dem US-Dollar, sind unübersehbar, und schon ist auch Brasilien zu einem Land mit unerhört hohem Preisniveau geworden.
Von „Lula“, der 1989 nur knapp gegen den damaligen Kandidaten des Establishments, Fernando Collor de Mello, unterlegen war, kommen jetzt versöhnliche Töne, und auch in umgekehrter Richtung klingt es nun ganz ähnlich. Sicher ist Cardoso nicht wie Collor ein gewissenloser und korrupter Abenteurer, und er wird daher auch kaum wie dieser mit Schimpf und Schande davongejagt werden. Die Hauptfrage ist nun, mit welchen Allianzen Cardoso das riesige Land, das in puncto Bevölkerung und Fläche an fünfter und mit seinem Nationalprodukt an zehnter oder elfter Stelle weltweit steht, aus seiner schweren strukturellen Krise herausführen will, in die es die Fallen der Weltwirtschaft, verfehlte Entwicklungsstrategien, Improvisation, Korruption und Collors Größenwahn gestürzt haben.
Cardoso – Fernando Henrique oder „FHC“ genannt – ist mit seiner kleinen Sozialdemokratischen Partei PSDB und seinen konservativen Alliierten weit von einer absoluten Mehrheit im neuen Kongress von 513 Abgeordneten und 81 Senatoren entfernt. Auch wenn ihm sein gleichzeitiger Sieg mit absoluter Mehrheit als Präsidentschaftskandidat einen breiten Spielraum gibt und er sich bereits als Spezialist geschickter Verhandlungen ausgezeichnet hat, wird der Kampf um die Posten und die kommende Politik wohl arge Schlachten vor und hinter den Kulissen erfordern. Schon verlangen die konservativen PFL und andere Kräfte eine stärke Beteiligung an seinem Team, aber es ist schwer zu sehen, wie diese die von Fernando Henrique angekündigten Reformen im Agrarbereich und im Sozialen überhaupt mittragen werden.
Brasilien ist selbst im lateinamerikanischen Vergleich ein Land mit abgrundtiefen sozialen Kontrasten, hat jedoch ein Potential von Naturschätzen, Industriekapazitäten und auch Technologie, das es durchhaus für eine bedeutende Rolle in der Weltgemeinschaft des 21. Jahrhunderts prädestiniert. Sollte es Cardoso ernst meinen mit einer pragmatischen und fortschrittlichen Politik zur Überbrückung dieser sozialen Abgründe – was jedoch eine deutliche Distanzierung von seinen konservativen Partnern und eine Annäherung an Lula und seine „Arbeiter-Partei“ erfordern würde -, so könnte er sicher als ein großer Reformer-Präsident, vielleicht analog zum einstigen Brasilia-Erbauer Juscelino Kubitschek, in die Geschichte eingehen. Aber dafür müsste er wohl ein bisschen auf seine früheren Überlegungen zurückgreifen, da z.B. ohne eine Neuverhandlung der riesigen Außenschuld eine Entwicklung wie jene, die einst zwischen 1945 und 1980 die Industrieproduktion auf das Siebzehnfache anstiegen ließ, kaum denkbar ist.
Die Erklärungen des gewählten Staatschefs lassen das hoffen. Weder die brasilianischen Unternehmer, die ihn zusammen mit dem übrigen Establishment und den übermäßig einflussreichen Massenmedien ins Präsidentenamt gebracht haben, noch Lulas Gewerkschaften werden außerdem eine ultraliberale Politik zulassen. Lula hat nur etwa ein Viertel der Stimmen erhalten, könnte aber leicht gegebenenfalls seine Gunst bei den gefoppten Wählern wieder verdoppeln. Eine sehr gefährliche Gratwanderung beginnt…
Dabei stellen sich mehrere Fragen. Die erste und vielleicht grundlegende ist die, ob ein – sicher weltweit nur selten in solchen Positionen zu findender – brillanter Intellektueller auch der geeignete Mann für die komplizierte politische Führung des Riesen Südamerikas mit seinen explosiven Problemen sein kann, oder ob hier der relativ frischgebackene politische „Macher“ vor allem Krisenmanager, Taktierer und Feuerwehrmann sein wird.
Die zweite Frage betrifft den Real-Plan, der bereits deutlich Schwächezeichen aufweist. Allein in den Tagen um die Wahl ist der Preis des Nahrungsmittels feijão – jene schwarzen oder braunen Bohnen, die für die meisten Brasilianer die Grundlage jeder größeren Mahlzeit (sofern verfügbar) bilden – um fast 40% gestiegen. Ende 1986 war es unmittelbar nach den wichtigen Kongresswahlen mit dem Cruzado-Plan der Preisstabilität vorbei, nachdem diese künstlich bis zum „Tag X“ aufrechterhalten worden war. Es ist schwer zu sagen, ob die Unternehmer jetzt nicht, nach der Erleichterung über den Sieg von FHC, ihre Disziplin der letzten Monate brechen werden, denn die Inflation ist ja im Grunde nichts anderes ein bisher unaufhaltsamer, ständiger und brutaler Kampf um die Verteilung des Nationaleinkommens. Dazu kommt, dass der Real-Plan die Preise auf einem im internationalen Vergleich extrem hohen Niveau stabilisiert hat, fast wie in Argentinien, wo das Leben teurer ist als in Europa, aber mit noch viel geringeren Löhnen. Schon hat Wirtschaftsminister Ciro Gomes die Importe drastisch liberalisiert, was aber kaum die Lösung für die bisher weltweit sehr konkurrenzstarke brasilianische Wirtschaft sein kann.
Und die dritte Frage ist die nach dem tatsächlichen politischen Projekt, der wirtschaftlichen Strategie und ihren sozialen Folgen. Genau einen Monat vor den Wahlen musste Wirtschaftsminister Rubens Ricúpero gehen, nachdem er allzu laut „aus der Schule geplaudert“ hatte, unabsichtlich vor einer eingeschalteten Fernsehkamera: Regierung und Massenmedien manipulierten effizient für Cardoso, die Schwachstellen des Real-Plans würden „skrupellos“ vertuscht und nach den Wahlen gäbe es Hiebe für streikende Arbeiter. War dieses Konzentrat von Zynismus eher ein bisschen Angeberei oder doch die unaussprechbare Wahrheit? Die nächsten Monate werden dafür vielleicht bereits recht aufschlussreich sein …