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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Emanzipation – Traum oder Wirklichkeit?

Peter Gärtner | | Artikel drucken
Lesedauer: 10 Minuten

In Lateinamerika jähren sich 2003 historische Ereignisse, die in dieser oder jener Weise das Thema „Emanzipation“ berühren und die bis heute im kollektiven Gedächtnis der Völker der Region nachwirken. In der Retrospektive stoßen wir zunächst auf das Datum des 11. September 1973. Vor dreißig Jahren stürzte die chilenische Armee die verfassungsmäßige Regierung des Sozialisten Salvador Allende und errichtete für 17 Jahre eine blutige Diktatur, die mehr als 3.000 Todesopfer forderte. Die historische Bedeutung des Militärputsches liegt darin, daß er eine Periode der Massenmobilisierungen und offenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Lateinamerika beendete. Zuvor hatten bereits die Streitkräfte in Brasilien, Bolivien und Uruguay geputscht. Die Besonderheit des Militärputsches in Chile liegt darin begründet, daß mit bewaffneter Gewalt der friedliche Aufbruch der Volksmassen zu einer neuen Gesellschaft verhindert wurde. Gerade heute, wo seitens der Linken über Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus grundsätzlich neu nachgedacht werden muß, bieten die Lektionen aus drei Jahren Unidad Popular und 17 Jahren Diktatur reichlich Stoff zum Nachdenken. Chile ist in zweifacher Hinsicht ein Modellfall: zum einen in Hinblick auf die notwendige Verbindung von Demokratie und Sozialismus, zum anderen für die gewaltsame Durchsetzung des Neoliberalismus.

1970 siegte unter dem programmatischen Namen Unidad Popular („Volkseinheit“) eine Allianz aus Sozialisten, Kommunisten und kleineren demokratischen Parteien bei den Wahlen. Obwohl der gemeinsame Präsidentschaftskandidat Allende nur 36% der Stimmen erhalten hatte, wurde er mit Unterstützung der Christdemokraten vom Parlament zum neuen Staatsoberhaupt gewählt. Die Unidad Popular hatte sich das Ziel gesetzt, im Rahmen der demokratischen Verfassung zum Sozialismus zu gelangen. Die ersten Schritte dazu waren die Nationalisierungen, die vor allem den Bergbausektor betrafen, die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeitenden und die Fortsetzung der Agrarreform. Diese Maßnahmen riefen den erbitterten Widerstand der Oligarchie und der USA hervor. Nachdem die Unidad Popular im ersten Jahr ihr Wahlprogramm fast vollständig umsetzen konnte, rückte ab Mitte 1972 die Frage in den Mittelpunkt, wie es auf dem Weg zu einer neuen Gesellschaft weitergehen sollte. Die Wirtschaft entwickelte sich zum Hauptfeld der Auseinandersetzungen. Die Rechten nutzten ihre starken Positionen im Parlament, in den Massenmedien und in der Justiz, um den Kurs der Unidad Popular zu diffamieren. De facto bestand im Lande eine Doppelherrschaft.

Wie die gesamte Gesellschaft war auch die Armee tief gespalten. Die Wirtschaft des Landes wurde durch Streiks und Boykotte von innen wie außen destabilisiert. Die Linke geriet in die Defensive. Trotzdem gelang es der Unidad Popular bei den Parlamentswahlen im März 1973 ihren Stimmenanteil auf 44% zu erhöhen. Von da an setzten die reaktionären Kräfte im Lande mit Unterstützung der USA auf die militärische Gewalt, um die Auseinandersetzungen um Chiles Zukunft für sich zu entscheiden. Nachdem der verfassungstreue Oberkommandierende der Streitkräfte, General Carlos Prats, unter dem Druck der Reaktion von seinem Posten zurücktreten mußte, und am 23. August 1973 Augusto Pinochet an seine Stelle trat, war der Weg zum Putsch frei. Für den 14. September 1973 geplant, mußte er wegen der Absicht Allendes, ein Plebiszit über seine Präsidentschaft durchführen zu lassen, kurzfristig auf den 11. September vorverlegt werden. Unter dem Kugel- und Bombenhagel der verfassungsbrüchigen Militärs wurde das chilenische Experiment blutig niedergeschlagen. Salvador Allende, für den eine Kapitulation nicht in Frage kam, nahm sich angesichts der militärischen Übermacht seiner Gegner das Leben.

Der Erfolg der reaktionären Kräfte war darauf zurückzuführen, daß sich die Linken auf drei entscheidenden Feldern nicht durchsetzen konnten oder Fehleinschätzungen erlegen waren. Erstens offenbarten die durchgeführten Wahlen und die darauf basierende Zusammensetzung des Parlaments die bündnispolitische Achillesferse der Unidad Popular: Es war ihr nicht gelungen, die Mittelschichten für ihre Politik zu gewinnen. Statt dessen verprellten sie die Christdemokraten, die die politische Mitte repräsentierten, durch überzogene Enteignungen und verbalen Radikalismus. Zweitens mangelte es den Linken an politisch einheitlichem Auftreten. Galt die KP innerhalb der UP als reformistisch und versöhnlerisch, so war die SP in den Augen der Kommunisten linksradikal und abenteuerlich. Drittens schätzten die Linken die Situation in den Streitkräften falsch ein. Sie glaubten bis zum Schluß an die Verfassungstreue der Militärs. Obwohl es den chilenischen Linken nicht an Mut zu gesellschaftlichen Veränderungen gefehlt hat und sie diese mit ihrem Blut tapfer verteidigt haben, konnten sie nicht verhindern, daß ihr Traum in einem blutigen Alptraum erstickt wurde.

Das zweite historische Datum ist der 26. Juli 1953, der als Initialzündung und Beginn der kubanischen Revolution gilt. Vor fünfzig Jahren versuchten 163 Männer und zwei Frauen unter Führung von Fidel Castro, die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba, die zweitwichtigste Militäreinrichtung des Landes, sowie die Kaserne vom Bayamo zu stürmen. Der schlecht vorbereitete Überfall scheiterte, wobei 6l Teilnehmer fielen oder bestialisch ermordet wurden. Castro und 27 seiner Gefährten wurden zu langjährigen Freiheitsstrafen auf der Isla de Pinos verurteilt. Im Zuge einer Amnestie freigelassen, gingen die Fidelistas 1955 nach Mexiko ins Exil, um von dort die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes gegen die Batista-Diktatur vorzubereiten. Seine politisch-organisatorischen Ausdruck fand dies in der Gründung des Movimiento 26 de Julio (M-26-7). Fidel Castro und seine Anhänger, zu denen in Mexiko auch der Argentinier Ernesto Che Guevara gestoßen war, verfochten ein Programm, das auf drei Eckfeilern beruhte: Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit und Demokratie. Wie Castro in seiner Verteidigungsrede im Moncada-Prozeß, die unter dem Titel „La historia me absolverá“ („Die Geschichte wird mich freisprechen“) publiziert wurde, darlegte, traten er und seine Anhänger für die Nationalisierung ausländischer Firmen, eine Agrarreform und die Wiederherstellung der demokratischen Verfassung von 1940 ein. Am 25. November 1956 stießen 82 Mann mit der Jacht „Granma“ in See, um in Kuba den Guerilla-Krieg auszulösen. Frühzeitig entdeckt und zur Landung an unbekannter Küste gezwungen, konnten sich jedoch nur 15 Mann in die Gebirgswälder der Sierra Maestra retten. Ging es zunächst nur um das blanke Überleben, eroberten sich die „Barbudos“, wie sie wegen ihrer Barte von der Bevölkerung genannt wurden, schon bald eine befreite Zone. Die Fortschritte im bewaffneten Kampf trugen wesentlich dazu bei, daß sich die „Sierra“ an die Spitze der antidiktatorischen Bewegung setzen konnte. Nachdem Mitte 1958 eine groß angelegte Offensive der Batista-Armee gescheitert war und Fidel Castro zwei Guerilla-Kolonnen unter Führung von Camilo Cienfuegos und Ernesto Che Guevara Richtung Westen geschickt hatte, waren die Tage der Diktatur gezählt. Am 2. Januar 1959 hielt Fidel Castro einen triumphalen Einzug in Santiago. Zur gleichen Zeit wurde La Habana eingenommen. Die Guerilleros hatten gesiegt.

Die Führungsgruppe um Fidel Castro sah sich drei Grundproblemen gegenüber, die sie zu lösen hatte. Erstens galt es, ein politisches System aufzubauen, das es ermöglichte, das Programm der Moncada zu verwirklichen. Bald schon war klar, daß die Ziele der Revolution mit einer parlamentarischen Demokratie und unter den bestehenden Wirtschaftsstrukturen nicht zu verwirklichen waren. Den Führungskräften um Fidel Castro kam es darauf an, Charisma und Massenmobilisierungen einerseits mit der notwendigen Institutionalisierung der revolutionären Machtorgane andererseits so miteinander zu verbinden, daß sie sich gegenseitig stärkten. Der historischen Legitimierung du, jh Revolution und bewaffneten Kampf gab man dem Vorzug gegenüber den tradierten Formen der parlamentarischen Demokratie, die durch die Fälschungspraktiken des alten politischen Regimes in Mißkredit geraten waren. Die kubanische Revolution suchte den Ausweg in der Entwicklung von Formen direkter Demokratie, die auf das Charisma Fidel Castros als „Comandante en Jefe“ zugeschnitten waren. In den 1960er Jahren kam es zum Zusammenschluß der revolutionären Kräfte in der neugegründeten KP, der einzigen politischen Partei des Landes. Die Institutionalisierung fand in den 1970er Jahren ihre Fortsetzung im Aufbau von Organen des „Poder Popular“ („Volksmacht“).

Zweitens sahen sich die Revolutionäre dem Problem gegenüber, wie sie das Land aus den Fängen der USA befreien konnten, ohne sich in neue Abhängigkeiten zu begeben. Seit Ende der spanischen Kolonialherrschaft 1898 befand sich Kuba in halbkolonialer Abhängigkeit des „Koloß im Norden“. Die wichtigste Errungenschaft der kubanischen Revolution bestand darin, diesem nationalen Trauma ein schnelles Ende gesetzt zu haben. Mit den Nationalisierungen zu Beginn der 1960er Jahre und der Proklamation des sozialistischen Charakters der Revolution zog sich das revolutionäre Kuba die erbitterte Feindschaft der USA zu. Dreiundvierzig Jahre Blockade sind der Preis, den das kubanische Volk für seine Unabhängigkeit zu zahlen hatte. Angesichts der erbitterten Übermacht des USA-Imperialismus blieb dem lateinamerikanischen David jedoch kein anderer Ausweg, als sich in die Arme eines zweiten Goliath – der Sowjetunion – zu flüchten. Fortan garantierte die neue Schutzmacht die Abnahme einer festen Quote kubanischen Zuckerrohrs und die Lieferung des überlebenswichtigen Erdöls. Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus zu Beginn der 1990er Jahre erlebte das kleine Land sein zweites Trauma. Plötzlich verlor es seine wichtigsten Handelspartner und seine politische Schutzmacht. Die USA und die Exilkubaner in Miami witterten Morgenluft und prophezeiten bereits das Ende der „Castro-Diktatur“. Doch die Kubaner hielten auch die „Sonderperiode“, in der die Insel auf sich selbst zurückgeworfen war, durch. Nachdem die Talsohle 1993/94 durchschritten war, zeigte sich ein Silberstreif der Hoffnung am Horizont. Heute ist klar, daß die Hoffnungen auf ein schnelles Ende der Revolution vergebens waren.

Das berührt das dritte Problem der kubanischen Revolution: die Suche nach effektiven Wirtschaftsformen. In den 1960er Jahren, dem „roten Jahrzehnt“, wurde auf wirtschaftlichem Gebiet viel experimentiert, ohne daß sich eine wirklich sozialistische Ökonomie herausbilden konnte. Leitbild war der „neue Mensch“. Der Umbau der Wirtschaft ging ideologisch hemdsärmelig vonstatten. Das voluntaristische Vorpreschen und Herumexperimentieren forderte seinen Preis. Die „permanente Revolution“ auf ökonomischem Gebiet überforderte die Kräfte der Inselrepublik. Sie fiel auf ihre Zuckermonokultur zurück und begab sich in die Arme des „großen Bruders“ Sowjetunion. Die realsozialistische Wirtschaftsgemeinschaft gewährte zwar hohe Subsidien – ca. zwei Milliarden Dollar und 13 Millionen Tonnen Erdöl im Jahr -, beschnitt aber dafür den ökonomischen und politischen Handlungsspielraum Kubas. Dem „roten Jahrzehnt“ folgte das „graue“ der 1970er Jahre. Parallel zur Institutionalisierung der Revolution vollzog sich die Übernahme sowjetischer Vorgaben in der Ökonomie. Die Krise konnte so zwar gestoppt werden und bescheidener Wohlstand hielt Einzug. Die Grundprobleme der kubanischen Wirtschaft – niedrige Arbeitsproduktivität und Abhängigkeit von der Sowjetunion – bestanden jedoch fort. Mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus in Europa erlebte das Land seine schwerste Krise. Die Wirtschaft stand nahezu still. Die Regierung reagierte mit einem Notstandsprogramm und leitete Reformen ein, die zu einer langsamen Wiederbelebung führten. Der Tourismus und die Überweisungen der Exilkubaner aus Miami wurden zur Haupteinnahmequelle für Devisen. Aber auch dies hatte seinen Preis: Neben dem kubanischen Peso wurde der US-Dollar zur legalen Zweitwährung. Trotz der offiziell propagierten sozialen Gleichheit führte die Einführung des Dollars zur Spaltung der Bevölkerung in jene, die welche besitzen, und jene, die keine besitzen. Die Zukunft der kubanischen Revolution hängt nicht zuletzt davon ab, wie die daraus erwachsenden sozialen Spannungen bewältigt werden können.

Das Schicksal der kubanischen Revolution verweist auf eine drittes historisches Datum: den 28. Januar 1853 – einhundertfünfzigster Geburtstag von Jose Marti, des geistigen Führers der Unabhängigkeitsbewegung Kubas und geistigen Wegbereiters der Revolution unter Fidel Castro. Frühzeitig erkannte er die Gefahr, die von den USA ausging. Er warnte seine Landsleute, daß der übermächtige Nachbar im Norden die Nachfolge der spanischen Kolonialmacht anzutreten und die Früchte des Unabhängigkeitskampfes selbst zu ernten beabsichtigte. Als Gegenentwurf zum Imperialismus der USA konzipierte er „Nuestra America“ („Unser Amerika“) – die solidarische Gemeinschaft der lateinamerikanischen Völker. Er forderte die Gleichstellung der verschiedenen Rassen, ihre Synthese in einem „mestizischen Kontinent“. Die Gegenwart zeigt, daß Martis Projekt in vielem Utopie war. Vor dem Hintergrund des Erbes von Marti wird zugleich deutlich, wie hoch die beiden Versuche zu schätzen sind, sich von der Vormachtstellung der USA zu emanzipieren. Während Chile zeigt, daß auch und gerade der demokratische Weg zum Sozialismus mit der erbitterten Feindschaft Washingtons zu rechnen hat, belegt das Beispiel Kubas, daß auch ein kleines Land der Übermacht des Koloß im Norden standhalten kann. Die Emanzipation ist aber erst dann vollendet, wenn das kubanische Volk die Vorzüge der Demokratie selbst genießen kann.

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