Am 12. November 1995 wurde in Guatemala gleich mehrfach abgestimmt. Die Ergebnisse liegen nun auf dem Tisch. Am 7. Januar 1996 wird es eine Stichwahl der beiden erstplatzierten Bewerber für das Präsidentenamt – A. Arzú vom PAN (36%) und A. Portillo von der FRG (22%) – geben. Bei den Wahlen zur Legislative hat die FDNG, die erst im Frühjahr gegründet worden war, mit 11% einen Achtungserfolg landen können. Die Nationale Allianz aus DCG, UCN und PSD hat wahrscheinlich auch nicht viel mehr Stimmen bekommen, was die einst starken Christdemokraten und die liberale UCN zu Parteien unter anderen degradiert (siehe zu Parteien S. 11 in diesem Heft). Auf der kommunalen Ebene verdient die Wahl des Maya-Kandidaten R. Quemé Chay vom „Comité Civico Xelajú“ zum Bürgermeister von Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt des Landes, Beachtung. Diese Ergebnisse markieren zugleich das Spannungsfeld, in dem sich die diesjährigen Wahlen bewegt haben. Zum einen finden sich jene bestätigt, die keine großen Änderungen erwartet hatten, zum anderen kündigt sich Neues an. Nachdem im Juli eindeutig entschieden worden war, dass die Kandidatur des Ex-Putschisten Rios Montt verfassungswidrig ist und der FRG auf sein populistisches Zugpferd verzichten musste, galten Arzú und seine Partei, der PAN, als die künftigen Gewinner der Wahlen. Mit Arzú, der zu einer der reichsten Familien des Landes gehört, hat ein Vertreter der Wirtschaftsoligarchie das Rennen gemacht, der sich modern gibt. Arzú, der unter dem Motto „Gegen Diskriminierung, Privilegien und Unsicherheit“ angetreten war, konnte erwartungsgemäß in der Hauptstadt, wo er während der 80er Jahre zwei Mal zum Bürgermeister gewählt worden war, die meisten Stimmen einfahren. Obwohl er sich gegen die Etikettierung als Neo-Liberaler wehrt und die Armut über die Einhaltung der Mindestlöhne bekämpfen will, lassen Herkunft und Werdegang kaum eine Wirtschaftspolitik erwarten, die an den schreienden Gegensätzen zwischen Arm und Reich etwas ändern wird. Statt von Agrarreform spricht er lieber von Modernisierung der Agrarstruktur. Seine Angebote an die nach Land hungernden Campesinos sind:
- gute Arbeit – auf dem Land der Großagrarier,
- Sozialversicherung – in einem Land, wo Gesetze und Bestimmungen sowieso nicht eingehalten werden,
- Zugang zur Bildung – bei einer offiziellen Analphabetenrate von 56% der Erwachsenen, der zweithöchsten in Lateinamerika.
Vor allem wird er zeigen müssen, ob und wie er sich mit der Armee, dem Zentrum der politischen Macht, auseinanderzusetzen gedenkt. Seine Ankündigungen klingen moderat: der Generalstab des Präsidenten, entscheidendes Organ der Armee für die Einflussnahme auf das Staatsoberhaupt, soll nicht abgeschafft, sondern nur in seinen Zuständigkeiten beschnitten werden. Der Militärhaushalt soll nicht reduziert werden, die Armee stattdessen neue Aufgaben (Bekämpfung des Drogenhandels, Schutz der Biosphäre) erhalten. Besonders letzteres mutet an, als wollte man den Bock zum Gärtner machen, denn hohe und höchste Armeeoffiziere sind in den Diebstahl von Edelhölzern und Drogenhandel verwickelt. Auch in einem dritten Punkt von Wichtigkeit -der Diskriminierung der indigenen Bevölkerung – hält sich Arzú bedeckt. Es scheint, dass die Guatemalteken, die zur Wahl gegangen sind, sich mehrheitlich für das kleinere Übel entschieden haben, um ein größeres (Rios Montt) zu vermeiden. Ob dies aber angesichts der drängenden Probleme ausreicht, die Zukunft des Landes zum Wohle seiner Bewohner zu gestalten, kann wohl bezweifelt werden.
Wie drängend diese Probleme sind, wird an den laufenden Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Guerilla (siehe Beitrag von T. Klein in diesem Heft) deutlich. Die Überschneidung von Wahl- und Verhandlungsprozess hat ambivalente Folgen. Einerseits bringt die Neuwahl der Regierung vor Abschluss eines Friedensabkommens Unsicherheiten in den Verhandlungsprozess. Auch wenn Arzú versichert, die bisherigen Vereinbarungen einhalten und die Verhandlungen zu einem zügigen Ende bringen zu wollen, hält er sich eine Hintertür offen, indem er darauf hinweist, dass dies noch keine Vereinbarungen mit dem Staat seien. Dazu bedürfe es der Bestätigung durch das Parlament. Andererseits hat der Fortgang des Verhandlungsprozesses die Wahlen positiv beeinflusst. Es waren nicht nur die Positionen der Kandidaten zu Themen und Aussichten der Verhandlungen gefragt, was im Vergleich zu vorher zweifellos ein Fortschritt ist. Dass zu den Wahlen erstmals eine Linksfront angetreten ist und die indigene Bevölkerung als politische (!) Kraft von nationaler Dimension zu agieren beginnt, hängt maßgeblich mit den Verhandlungen zusammen. Mit Blick auf den nicht mehr fernen Abschluss des Friedensvertrages und den darin enthaltenen Reformen erhoffen sich gerade bisher marginalisierte, ausgeschlossene oder unterdrückte Sektoren wie Linke und indígenas erstmals politische Gestaltungsmöglichkeiten. Dies ist um so wichtiger, als dass die Unterzeichnung bestenfalls der Anfang der notwendigen Transformation der Gesellschaft sein kann. Es gilt schon jetzt als sicher, dass die eigentlichen politischen Auseinandersetzungen erst nach Vertragsabschluß geführt werden. Dann geht es nämlich um die Durchsetzung der Vereinbarungen. Die Reaktionen von Betonköpfen aus dem Unternehmerverband CACIF, die u.a. gegen den Chef-Unterhändler der Regierung bei den Friedensverhandlungen einen Haftbefehl beantragt haben, machen deutlich, dass dies nicht einfach werden wird. Die Realisierung der Reformen bedarf insbesondere der politischen Mobilisierung der Bevölkerung. Ohne die aktive Teilnahme der indianischen Mehrheit (1,5 Mio. von 3,7 Mio. registrierten Wählern) bleibt dies ein hehrer Wunsch. Die Gründung der Maya-Organisation Nukuj Ajpop im Juli unter Einbeziehung von 107 verschiedenen Gruppierungen und ihre Teilnahme an der Bildung der FDNG – sie stellt auch den FDNG-Kandidaten für die Vizepräsidentschaft (J. León) – sind schon erste Schritte in diese Richtung. Andererseits zeigt die nach wie vor geringe Wahlbeteiligung, dass es bis zur politischen Partizipation der Landbevölkerung noch ein weiter Weg ist. So wichtig die Keime politischer Alternativen in Gestalt linker und indigener Organisationen sind, sie allein werden keine Früchte tragen können, wenn die Verwurzelung unter den rassisch und sozial ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen nicht gelingt. In dieser Hinsicht sind die letzten Wahlen wohl ein Hoffnungsschimmer, mehr aber noch ein Hinweis auf das, was noch zu tun bleibt.