Ein Kurzportrait über Puerto Rico zu schreiben, ist keine einfache Sache. Die Unklarheiten beginnen bereits mit der Beantwortung der Frage, ob die karibische Insel als lateinamerikanisches Land anzusehen ist. Als „Assoziierter Freistaat“ (span.: Estado Libre Asociado; engl.: Commonwealth) ist Puerto Rico ein „nichtinkorporiertes Außengebiet“ der USA. Konkret bedeutet dies, dass der US-Präsident das Staatsoberhaupt ist und die USA für jede Art von Außenbeziehungen, die Währung, das Militär, das Kommunikations- und Postwesen verantwortlich sind, während Puerto Rico seine inneren Angelegenheiten – oder besser gesagt, was davon noch übrig ist – selbst regeln darf. Puerto Rico unterscheidet sich damit zugleich in wichtigen Punkten von einem Staat der USA. Es hat nicht dieselben Steuervollmachten und die Einwohner der Insel dürfen nicht an den US-Präsidentschaftswahlen teilnehmen. Regiert wird Puerto Rico von einem Gouverneur und beim US-Kongreß wird es durch einen „resident commissioner“ ohne Stimmrecht vertreten. Welche kuriosen Blüten der Sonderstatus Puerto Ricos treiben kann, zeigt der Fall von Juan Mari Brás, der am 25. Oktober 2006 als erste Person ein Zertifikat für die puertoricanische Staatsbürgerschaft von State Department der Insel ausgestellt bekam. Puerto Rico – ein Staat mit nur einem Staatsbürger? Und bis 2006 sogar ohne einen solchen?
Will man die Zugehörigkeit Puerto Ricos zu Lateinamerika klären, bedarf es zweier zusätzlicher Kriterien: zum einen der Geschichte und zum anderen des nicht ganz unwichtigen Aspekts, wie denn die Puertoricaner selbst ihre Identität definieren.
In vielerlei Hinsicht kann Puerto Rico bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als die „kleinere Schwester“ Kubas angesehen werden. Dies bezieht sich nicht nur auf Territorium (mit 8.950 km² weniger als ein Zehntel Kubas) und Bevölkerung (mit ca. 4 Mio. knapp ein Drittel Kubas) sowie auf geographische, natürliche und klimatische Gemeinsamkeiten, sondern vor allem auf die Geschichte beider Inseln. Beide waren nach ihrer Entdeckung durch Kolumbus (Kuba 1492; Puerto Rico 1493) bis 1898 Kolonien Spaniens. In beiden Fällen begann der Unabhängigkeitskampf 1868, der gegen Ende der Kolonialherrschaft von Spanien durch eine weitgehende Autonomie vergeblich zu entschärfen versucht wurde; und beide Länder wurden im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 von US-Truppen okkupiert. Zwar erhielt Kuba im Unterschied zu Puerto Rico 1902 seine formelle Eigenstaatlichkeit, verblieb aber bis zur Revolution von 1959 unter der Kontrolle Washingtons. Auch die Flaggen beider Länder ähneln sich: Die Aufteilung in ein Dreieck mit weißem Stern und daran ansetzenden Längsstreifen ist identisch, nur die Farben sind vertauscht – bei Kuba mit rotem Dreieck und (weiß-)blauen Streifen, bei Puerto Rico genau umgekehrt.
Was die Identität der Puertoricaner angeht, verstehen sie sich mehrheitlich auch als solche (Selbstbezeichnung: Boricua). Nur 10% der Einwohner Puerto Ricos bevorzugen die Identität als US-Bürger und Spanisch wird immerhin von 93% der Bevölkerung als Erstsprache gesprochen.
Bei den politischen Konsequenzen aus klarer Identität und unklarem Status, die damit in einem spannungsgeladenen Wechselverhältnis stehen, wird das Ganze jedoch kompliziert. Drei verschiedene Parteien konkurrieren um die Gunst der Wähler, wobei jede einen anderen Status für Puerto Rico anstrebt: Der Partido Popular Democratico (PPD bzw. „los populares“), gegründet 1938 und symbolisiert durch die Farbe rot, tritt für die Beibehaltung des Status quo ein, während der seit 1967 bestehende Partido Nuevo Progresista (PNP bzw. „los penepes“;) unter blauen Fahnen für einen künftigen US-Staat Puerto Rico wirbt. Für die Unabhängigkeit der Insel von den USA kämpft der Partido Independentista Puertorriqueño (PIP bzw. „los pipiolos“, gegründet 1947), dessen Parteifarbe grün ist. Bisher konnten die Anhänger des Status quo bei Abstimmungen über den Status der Insel immer die Mehrheit erringen, auch wenn ihnen der PNP mit seiner Forderung, Puerto Rico zum 51. Staat der USA zu erklären, dicht auf den Fersen war. Für die Unabhängigkeit Puerto Ricos stimmte lediglich eine kleine Minderheit.
Im lateinamerikanischen Kontext ist die Stellung Puerto Ricos ebenfalls von Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen gekennzeichnet. Das Land gilt zwar als das wirtschaftsstärkste Lateinamerikas, verdankt diese Position aber in erster Linien den hohen Subventionen aus den USA. Für diese ist die Insel vor allem unter militärischen und geopolitischen Gesichtspunkten unverzichtbar. Nach dem Abzug der USA aus der Panamakanal-Zone beherbergt die Insel zahlreiche, für Lateinamerika relevante Kommandostrukturen des US-Militärs und weist die höchste Konzentration an militärischen Kräften in ganz Lateinamerika auf.
An den Olympischen Spielen nimmt Puerto Rico mit einer eigenen Mannschaft teil. Alle sechs olympischen Medaillengewinner, auf die das lateinamerikanische Land verweisen kann, waren Boxer. Bei den Sommerspielen in Athen 2004 gelang in der Basketball-Vorrunde sogar ein als sensationell gefeierter Sieg über die Nationalmannschaft der USA. Zu den Kuriositäten – diesmal in Sachen weiblicher Schönheit – zählt auch, dass die meisten Miss Universe – nämlich fünf – aus Puerto Rico kommen, das auch in dieser viel beachteten Rubrik mit einer eigenen „Mannschaft“ antreten darf.
Auf einem Solidaritätskongreß im November 2006, auf dem über 200 Delegierte aus ganz Lateinamerika vertreten waren, wurde von den USA die Unabhängigkeit Puerto Ricos eingefordert. Nach den Worten des gastgebenden Präsidenten von Panama, Martín Torrijos, ist Puerto Rico „die einzige lateinamerikanische Nation unter Kolonialherrschaft“, weshalb die Beseitigung dieser Anomalie eine „prinzipielle Angelegenheit von kontinentaler Priorität“ sei.