Burlington, USA, 18 Januar (IPS/IDN*) – Dass das Erdbeben in Haiti ein so schweres Ausmaß annehmen konnte, wird in den Medien auf die Armut des karibischen Inselstaats und die Unfähigkeit der Regierung von Staatspräsident René Preval zurückgeführt. Solche Erklärungen jedoch kratzen nur an der Oberfläche.
„Die Medienberichterstattung über das Erdbeben zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie die soziale und politische Geschichte Haitis von der Tragödie vollständig abtrennen“, sagte der kanadische Haiti-Aktivist Yves Engler in einem Interview. „Sie haben wiederholt festgestellt, dass die Regierung in keiner Weise auf die Krise vorbereitet war. Das stimmt. Doch das Warum sparen sie aus.“
Warum sind 60 Prozent aller Gebäude so schlecht gebaut, dass sie nach Aussagen des Bürgermeisters von Port-au-Prince schon unter normalen Umständen unsicher sind? Warum gibt es keine Baurichtlinien in einer Stadt, die auf einer tektonischen Spalte sitzt? Wie kommt es, dass sich Port-au-Prince von einer 50.000 Einwohner zählenden Kleinstadt in den 1950er Jahren zu einer Stadt mit zwei Millionen bitterarmen Menschen gewandelt hat?
Warum konnte das Desaster den Staat so völlig überwältigen?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns eine weitere Verwerfung ansehen: die imperiale US-Politik gegenüber Haiti. Washington, die Vereinten Nationen und andere politische Kräfte haben der haitianischen Elite dabei geholfen, das Land neoliberalen Wirtschaftsplänen auszuliefern, die zur Verarmung der Bevölkerung, zu Entwaldung, Zerstörung der Infrastrukturen und zu einer unfähigen Regierung führten.
Während des kalten Krieges hatten die USA die Diktaturen von Papa Doc Duvalier und Baby Doc Duvalier unterstützt, die das Land in den Jahren 1957 bis 1986 – als Gegengewicht zum kommunistischen Kuba von Fidel Castro – regierten.
Unter der Führung Washingtons öffnete Baby Doc Duvalier in den 1970er und 1980er Jahren die haitianische Wirtschaft für US-amerikanisches Kapital. Massen an US-Agrargütern gelangten auf diese Weise nach Haiti und zerstörten die lokale bäuerliche Landwirtschaft. Dies führte dazu, das hunderttausende Menschen in die bereits vor Menschen wimmelnden Slums von Port-au-Prince strömten, um dort für lächerlich niedrige Löhne in den Ausbeuterbetrieben der US-Exportzonen zu arbeiten.
In den 1980er Jahren erhoben sich die Haitianer und vertrieben die Duvaliers von der Macht. Später wählten sie den Reformer Jean-Bertrand Aristide zum Präsidenten, der eine Landreform, Hilfe für die Bauern, Wiederaufforstung, Investitionen in die Infrastrukturen für die Menschen sowie höhere Löhnen und gewerkschaftliche Rechte für die Arbeiter in den Ausbeuterbetrieben eintreten sollte.
Für Aristide nichts übrig
Die USA unterstützten daraufhin einen Putsch, der Aristide 1991 von der Macht fegte. Der gewählte Präsident wurde 1994, als Bill Clinton US-Truppen auf die Insel schickte, wieder eingesetzt – allerdings unter der Bedingung, den neoliberalen Plan der USA umzusetzen, den die Haitianer damals den ‚Todesplan‘ nannten.
Aristide widersetzte sich Teilen des US-Programms für Haiti, hielt sich aber an andere Vorgaben, die die Hoffnungen auf Reformen untergruben. Dennoch reagierten die USA zunehmend ungehalten auf die Weigerung Aristides, den USA komplett zu Diensten zu sein. Als er im letzten Jahr seiner Amtszeit dann noch Reparationszahlen in Höhe von 21 Milliarden US-Dollar verlangte, verhängten die USA ein Handelsembargo, das das Land strangulierte und die Bauern und Arbeiter noch tiefer in die Armut trieb.
2004 arbeitete Washington mit Haitis regierender Elite zusammen. Sie unterstützten Todesschwadronen, die die Regierung kippten und Aristide entführten und deportierten. Die Vereinten Nationen schickten Soldaten, die das Land besetzten. Eingesetzt wurde die Marionettenregierung von Gérard Latortue, die Washingtons neoliberale Pläne weiterführen sollte.
Latortues kurze Amtszeit war durch Korruption gekennzeichnet – er und seine Leute kassierten einen Großteil der vier Milliarden Dollar, die die USA und andere Mächte nach dem Ende des Embargos ins Land pumpten. Seine Regierung schaffte die bescheidenen Reformen Aristides wieder ab. So wurden Armut und die Zerstörung der Infrastruktur weiter beschleunigt.
Bei den Wahlen 2006 wählten die Haitianer Aristides Langzeitverbündeten René Préval zum neuen Präsidenten. Doch der eher schwache Préval hielt sich an die US-Pläne für Haiti. Ihm gelang es nicht, die wachsende soziale Krise im Land anzugehen.
USA, UN und andere imperiale Mächte hebelten die Préval-Regierung effektiv aus, indem sie ihre Hilfsgelder über lokale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ausschütteten. „Haiti hat die weltweit höchste Pro-Kopf-Zahl an NGOs“, meint dazu Yves Engler. Die Préval-Regierung wurde zum politischen Feigenblatt, hinter dem die imperialen Mächte die eigentlichen Entscheidungen trafen, die durch ausgewählte NGOs umgesetzt wurden.
US-unterstützte UN-Besatzung
Die wirkliche Staatsmacht ist nicht die Préval-Regierung, sondern die US-gestützte UN-Besatzung. Unter brasilianischer Führung haben die UN-Truppen die Reichen geschützt und mit den rechtsgerichteten Todesschwadronen kollaboriert, die Anhänger Aristides und seine Lavalas-Partei terrorisieren, beziehungsweise beide Augen zugedrückt.
Die Besatzer haben nichts getan, um die Armut zu bekämpfen, die zerstörte Infrastruktur aufzubauen und die massive Entwaldung aufzuhalten, die bereits eine ganze Reihe von Naturkatastrophen – schwere Wirbelstürme in den Jahren 2004 und 2008 – verursacht hatte.
Dan Beeton schreibt im Bericht über die Amerikas des ‚North American Congress on Latin America‘: „Die UN-Stabilisierungsmission in Haiti (MINUSTAH), die im Juni 2004 begann, wurde von Anfang an von Skandalen im Zusammenhang mit Tötungsdelikten, Vergewaltigungen und anderen Verbrechen durch die UN-Blauhelme heimgesucht.“
Erst die Regierung George W. Bush und nun auch die Obama-Regierung nutzten den Putsch und die sozialen und ökologischen Krisen dazu, um ihre neoliberalen Wirtschaftspläne auszuweiten.
Unter Obama haben die USA Haiti 1,2 Milliarden Dollar seiner Schulden erlassen. Doch sind damit nicht alle Außenstände getilgt. Das Land zahlt bis heute hohe Beträge an die Interamerikanische Entwicklungsbank (IaDB). Der Schuldenerlass ist reine Augenwischerei und verbirgt Obamas eigentliche Haiti-Politik, die eine alte Haiti-Politik ist.
Tourismusfalle
In enger Zusammenarbeit mit dem neuen UN-Sondergesandten für Haiti, dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, treibt Obama ein Wirtschaftprogramm voran, wie es auch im Rest der Karibik bekannt ist: Tourismus, ausbeuterische Textilfertigungsbetriebe und die Einschränkung der staatlichen Wirtschaftskontrolle durch Privatisierung und Regulierung.
Clinton verfolgt den Plan, den Norden Haitis zu einem Touristendomizil zu machen – möglichst weit weg von den Armenvierteln in Port-au-Prince. Er hat die Reederei ‚Royal Caribbean Cruise Lines‘ mit Sitz in Frankfurt am Main für den Bau einer Mole an der Küste von Labadee im Wert von 55 Millionen US-Dollar gewonnen, das das Unternehmen bis 2050 angemietet hat.
Von dort aus will die haitianische Tourismusindustrie Expeditionen zu der Gebirgsfestung Zitadelle und dem Sans-Souci-Palast organisieren, die von Henri Christophe, einem der Führer des großen haitianischen Sklavenaufstands gegen die Franzosen, erbaut wurden.
Wie einem Bericht des ‚Miami Herald‘ zu entnehmen ist, soll der 40-Millionen-Dollar-Plan die malerische Stadt Milot, den Sitz der Zitadelle und der Ruine Sans Souci, in ein Touristenzentrum verwandeln, mit Kunsthandwerksmärkten, Restaurants und geteerten Straßen. Ökotourismus, archäologische Forschungswanderungen und voyeuristische Einblicke in die Voodoo-Rituale werden von Haitis angeschlagener Tourismusindustrie versprochen, während die Royal Caribbean darüber nachdenkt, das weltgrößte Kreuzschiff hierher zu bringen, um den Bedarf an Exkursionen anzukurbeln.
Daneben sehen Clintons Pläne für Haiti vor, die ausbeuterische Fertigungsindustrie auszuweiten, die ihren Vorteil aus Billigarbeitskräften der Städte ziehen. Die USA haben den Textilunternehmen bereits Steuerfreiheit bei einer Rückkehr nach Haiti zugesagt.
Dem Gründer von ‚TransAfrica‘, Randall Robinson, zufolge ist dies nicht die Art Investition, die Haiti benötigt. „Es braucht Investitionskapital, um sich unabhängig zu machen. Es braucht Investitionen, um sich selbst ernähren zu können“, sagte er gegenüber ‚Democracy Now!‘.
So wie US-Präsidenten vor ihm arbeitet auch Obama daran, der haitianischen Elite zu helfen, internationale Firmen zu unterstützen, Billigarbeitskräfte zum eigenen Vorteil zu nutzen, die Regulierungsfähigkeiten des haitianischen Staates zu schwächen, die Gesellschaft zu lenken und jeden politischen Widerstand gegen die US-Pläne zu unterdrücken.
Solche politische Maßnahmen sind direkt für die staatliches Unvermögen, schlechte Infrastruktur, armselige Häuser und bittere Armut verantwortlich, die zusammen mit Hurrikans und nun mit einem Erdbeben aus Naturkatastrophen soziale Katastrophen macht.
Mit Geld und politischem Spielraum könnten die Haitianer endlich ihre politische und wirtschaftliche Zukunft gestalten und den Traum verwirklichen, den sie bereits beim Sklavenaufstand vor 200 Jahren geträumt hatten und der sie von den Franzosen befreite. (Ende/IPS/kb/2010)
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* Der Beitrag der US-amerikanischen Autorin Ashley Smith ist im Online-Informationsdienst ‚IDN-InDepthNews‘ erschienen, einem Kooperationspartner von IPS Europa. Dies sind Auszüge aus dem Beitrag www.indepthnews.net/news/news.php?key1=2010-01-17%2003:31:25&key2=1
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von IPS Europa.
Bildquelle: United Nations Development Programme (UNDP)
1 & 5) UNDP / Mariana Nissen
2) UNDP / Marco Dormino
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