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Politik und Kultur in Lateinamerika

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Befreiungstheologie

Luise Anna Reinisch | | Artikel drucken
Lesedauer: 4 Minuten

Die Theologie der Befreiung: Begriff, Inhalt und Verbreitung

Befreiungstheologie (Foto: Quetzal-Redaktion, mcm)Der Begriff „Theologie der Befreiung“ ist auf das 1971 veröffentlichte Grundlagenwerk des Peruaners Gustavo Gutiérrez zurückzuführen, in dem er eine biblische Analyse der Armut vornimmt. Seit Ende der 1960er Jahren spielt sie eine wichtige Rolle in vielen lateinamerikanischen Ländern: Im Zusammenhang mit den seit 1965 in Chile, Argentinien und Nicaragua versuchten Umsturzversuchen gegen die von den USA installierten Regime bildeten sich innerhalb der linken Volksbewegung kirchliche Basisgemeinden und intellektuelle Zentren, die eine aus dem Volk kommende und für die Armen optierende Theologie und Kirche verwirklichen wollten.

Bei den Bischofskonferenzen der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín (1968) und Puebla (1979) wurde diese Option auch dogmatisch manifestiert. In den 1970er und 1980er Jahren wurden die befreiende Pastoralpraxis und die prophetische Predigt von den rechtskonservativen Regierungen als so bedrohlich empfunden, dass in den Bürgerkriegen in Guatemala, El Salvador und Nicaragua Katecheten, Intellektuelle und sogar Bischöfe ermordet wurden. Anfeindungen gab es nicht nur von örtlichen Militärregierungen, sondern auch seitens der Amtskirche und der klassischen europäischen Theologie.

In den 1990er Jahren wurden Fragen wie die kapitalistische Weltwirtschaft und Klimakrise sowie Homosexualität und HIV-Infektion in die schon bestehende Theologie aufgenommen und Themen wie die Christologie aus befreiungstheologischer Sicht weiter systematisiert. Für einen Teil der lateinamerikanischen Bevölkerung ist die befreiende Pastoralpraxis bis heute wichtig, findet aber in der Opus-Dei-Strömung wie auch in den evangelikalen Kirchen ihre Widersacher.

Die Theologie der Befreiung verhält sich zur politischen Situation eines Landes nicht neutral, sondern optiert bis zur letzten Konsequenz für die Armen und Opfer, um diese aus ihrer Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien. Die Armen sind dabei nicht das Objekt theologischer Überlegungen, sondern das Subjekt kirchlichen Handelns. Die Theologie der Befreiung versteht sich als historische und kontextuelle Theologie, so dass es ihr gelingt, eine Alternative zur europäischen Theologie, die für die lateinamerikanischen Völker eine imperialistische ist, zu entwickeln. Sie hat ihre Priorität in der Praxis auf der Grundlage der volkstümlichen Lektüre der Bibel. Der methodische Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln dient als Grundlage der Orthopraxie. Sie setzt das Reich Gottes als Prinzip, das Menschen gemeinsam leben können, und beleuchtet davon ausgehend wirtschaftliche, politische und historische Strukturen, wie den Kapitalismus, und bedenkt Alternativen. Als Gegensatz und Feindbild sieht die Theologie der Befreiung nicht die Atheisten, sondern Christen, die unter dem Deckmantel der Religion Geld und Macht zu ihren Götzen machen. Sie betont, dass es in der christlichen Erlösungsbotschaft nicht primär um die Vergebung individueller Sünden geht, sondern vielmehr um die Befreiung von strukturell verankerten Sünden wie Unterdrückung und Straflosigkeit. Deswegen liegt ihr Fokus nicht auf der moralischen Bewertung individueller Sünden (wie etwa Ehebruch, Diebstahl, Prostitution). Stattdessen hinterfragt sie die politischen und wirtschaftlichen Strukturen, die dahinter stehen und den Menschen zu seinen Taten veranlassen. Von dieser strukturellen Sünde gilt es die lateinamerikanischen Völker zu befreien und dazu ist auch eine eingehende gesellschaftswissenschaftliche Analyse notwendig. Ihre Gesellschaftskritik basiert auf der Dependenztheorie, die betont, dass die Armut in Lateinamerika nicht durch innere Faktoren, sondern durch politökonomische Abhängigkeit von Europa und den USA verursacht ist. Wie sich in der Vielfalt und der Komplexität der hier beschriebenen Themenfelder zeigt, versteht sich die Theologie der Befreiung nicht als eine Subtheologie unter vielen, sondern als in sich vollständige Alternative zur klassischen Theologie.

Wichtige befreiungstheologische Bewegungen finden sich in Peru um Gustavo Gutiérrez, in Brasilien um Leonardo Boff und Pedro Casaldáliga, in El Salvador um Jon Sobrino, Ignacio Ellacuría und Oscar Romero, in Costa Rica um Franz Hinkelammert, Elsa Tamez und Hugo Assmann, in Chiapas (Mexiko) um Samuel Ruiz und in Nicaragua um Ernesto Cardenal.

Die Befreiungstheologie wurde inzwischen in afrikanischen und asiatischen Ländern angewandt und kontextualisiert. Wie unter anderem die Arbeit der Ökumenischen Assoziation Theologinnen und Theologen der dritten Welt (ASETT) zeigt, arbeiten die Befreiungstheologen aller drei Kontinente eng zusammen.

Auch in Deutschland wurde die Befreiungstheologie rezipiert und angewandt. So entstand ein zum Teil lebendiger Dialog zwischen deutschen Theologen (vor allem Dorothee Sölle, Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann) und lateinamerikanischen Befreiungstheologen.

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Bildquelle: Quetzal-Redaktion, mcm