Marktwirtschaft, doch kein Neoliberalismus
Sie haben von der Notwendigkeit einer programmatischen Erneuerung der FMLN gesprochen. Welche konzeptionellen Überlegungen würden Sie dem zugrunde legen?
Die geistige Enge und Unbeweglichkeit der Rechten gab der FMLN die Möglichkeit, daß sie inmitten einer globalen Krise der Linken ein eigenes Programm der Modernisierung des Staates und der Stärkung der Zivilgesellschaft entwickeln und damit diese Rolle den Rechten im Lande streitig machen konnte. Das erlaubte es, ein solches Programm der Friedensverhandlungen wie den Vertrag von Chapultepec zu konzipieren, was uns einen ideellen Vorteil gab, allerdings auch eine Reihe von Konsequenzen impliziert, unter denen ich eine hervorheben würde: die Gestaltung des Verhältnisses von Staat, Zivilgesellschaft und Markt.
Den Markt zu akzeptieren, ist wohl das größte Problem der radikalen Linken. Alles andere leitet sich davon ab. In der Vergangenheit besaß der Staat ein enormes Gewicht, das soweit reichte, daß er die Freiheit und den Lebensraum der Zivilgesellschaft abschaffen konnte. Zum anderen mißachtete er den Markt als einen integralen Bestandteil der Gesellschaft, der mit den Werten der Menschheit an sich zu tun hat. Dabei handelt es sich in der Diskussion unter den Linken noch nicht einmal darum, zu entscheiden, wie der Markt zu regulieren sei, sondern darum, sich zunächst erst einmal dazu zu entschließen, den Markt überhaupt anzuerkennen.
Und schon zu diesem Punkt gibt es Differenzen innerhalb der FMLN?
Die konzeptionellen Überlegungen der FMLN dazu sind erst im Entstehen begriffen. Es macht einen großen Unterschied, ob man sagt, daß in der FMLN verschiedene, fest umrissene Positionen existieren, oder ob man einräumt, daß es – was tatsächlich der Fall ist – zunächst um die Definition der Rolle der FMLN innerhalb der Transition geht. Dabei gibt es viele Zweifel, Leerräume, Probleme. Die Linke muß vor allem die Rolle des Staates definieren und entscheiden, welchen Handlungsspielraum sie ihm zumißt. Das Problem der Zivilgesellschaft dagegen ist nahezu geklärt; ihre Rolle stellt niemand mehr in Frage. Doch zu den anderen beiden Problemen (Staat und. Markt) wird es Meinungsverschiedenheiten geben, die sich später verringern oder auch verschärfen können.
Und wie stellen Sie sich eine Marktwirtschaft in El Salvador vor, die ja, wenn ich Sie richtig interpretiere, auch nicht neoliberalen Zuschnitts sein soll?
Das ist einer der wichtigsten Diskussionspunkte. Diejenigen, die dieses Problem etwas vereinfacht und ideologisch „belastet“ sehen, meinen, eine Anerkennung der Marktwirtschaft bedeute bereits die Akzeptanz des Liberalismus im weitesten Sinne. Doch der Ausgangspunkt ist ja ein anderer: Die Linke hat den Markt negiert, sie hat ihn in einer absoluten und scharfen Weise abgelehnt. Das Problem ist, daß wir noch nicht einmal in eine Diskussion über den Charakter des Marktes eintreten können, vielmehr müssen wir erst einmal eine viel primitivere Etappe absolvieren, die der Akzeptanz des Marktes. Dies betrifft im übrigen auch das Recht auf Akkumulation und die damit einhergehende Differenzierung der Gesellschaft. Es kann keinen Markt geben, solange das Recht auf Akkumulation nicht gewährleistet ist.
Und warum gibt es in der FMLN nicht nur Zustimmung, sondern auch soviel Widerspruch zu dieser Position?
Es geht dabei vor allem um eine Schlüsselfrage: Ist Markt gleichbedeutend mit Kapitalismus oder ist er einfach eine Erfindung der Menschheit, ein Mechanismus, der vor etwa achttausend Jahren entstanden ist? Das Grundproblem dabei war das der Ungleichheit. Da der Markt hauptsächlich Ungleichheit erzeugt, wurde dem die Macht des Staates entgegengesetzt. Doch das war tödlich für die Produktion, denn die Entwicklung der Produktivkräfte wurde so blockiert. Das ist das Problem der Linken. In der Debatte der Neoliberalen dagegen dominiert die Verabsolutierung des Marktes, gedacht als ein Mechanismus, der die gesamte Gesellschaft dirigiert.
Klar, unsere Schwäche innerhalb dieser Diskussion ist darauf zurückzuführen, daß wir noch über keine völlig ausgearbeitete Konzeption verfügen, wie dieses Problem zu lösen ist. Dabei sind wir dem Vorwurf ausgesetzt, wir würden eine neoliberale Politik unterstützen. Natürlich besitzt der Kapitalismus viel ausgefeiltere Konzepte (zum Beispiel der Neoliberalismus mit all seinen Programmen der Strukturanpassung etc.) als wir, die wir erst vor kurzem den Markt akzeptiert haben. Doch das ist nicht nur unser Problem. Es existiert auch in Europa und betrifft auch nicht nur die Linken (soweit diese einst staatssozialistische Optionen besaßen), sondern ebenso Projekte reformistischer Couleur, beispielsweise die Verstaatlichung der Banken und das Problem eines monströsen, paternalistischen Staates, was wiederum auch auf den Realsozialismus zutraf. Es ist also notwendig, daß viele Dinge neu definiert werden.
Welche Veränderungen sind nötig, um einen neuen, volksverbundenen Markttyp gestalten zu können?
Es geht darum, so etwas wie eine Utopie der Marktwirtschaft zu erreichen. Es ist eine Utopie, weil es fast unmöglich ist. Doch indem wir uns auf die Suche nach der Utopie begeben, werden wir vorwärtskommen. Es wäre ja genauso unmöglich, den Staat vollständig zu demokratisieren, weil der Staat als Zwangsapparat an sich negativ ist. Doch das System kann in dem Maße verbessert werden, wie der Zwangsapparat des Staates reduziert, die Zivilgesellschaft gestärkt und die Konsensfähigkeit vervollkommnet wird.
Es ist unmöglich, die Demokratisierung des Marktes anzugehen, ohne über ein Kontingent neuer Produzenten zu verfügen. Ab dem Moment, wo man den Markt anerkennt und die Rolle des Staates in der Wirtschaft reduzieren will, muß man auch einsehen, daß jegliches Eigentum, das der Werktätigen, der kleinen und mittleren Unternehmer, privat sein muß. (Eine andere Sache ist, was der Staat selbst besitzt.) Nur so kann verhindert werden, daß die Produktivkräfte zersplittern.
Es ist schwierig, diese Konzeption politisch einzuordnen. Ich würde sagen, daß dies nicht Neoliberalismus, sondern ein fortschrittlicherer Kapitalismus ist.
Der ERP bzw. Ihnen persönlich wird zuweilen eine Affinität nicht nur zum Neoliberalismus, sondern auch zum Sozialdemokratismus nachgesagt. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Sozialdemokratie beschreiben?
Dies ist eine andere große Diskussion, die unter den Linken geführt wird. Dabei wäre zunächst der historische Rahmen, das Umfeld, zu beachten, in dem sich der Wandel in El Salvador vollzieht. Worin bestand unser internationaler Kontext?
Das waren die liberaleren Strömungen in der Demokratischen Partei der USA, Europa und da vor allem die sozialdemokratischen Parteien, die demokratischen Parteien Lateinamerikas, unter denen die sozialdemokratischen ein besonderes Gewicht besitzen (und natürlich der mexikanische PRI), sowie die nikaraguanische Revolution und Kuba. Ließe man dies unbeachtet, könnte man nicht erklären, woher unsere materielle, darunter finanzielle, Basis kam, die es uns ermöglichte, Krieg zu führen, und es bliebe unverständlich, welche die politischen Rahmenbedingungen für die Friedensverhandlungen gewesen sind. Dies alles kam nicht aus Osteuropa.
Betrachtet man, in welchen geistigen Kontext wir eingebunden sind, so kann man vor allem eine Schlußfolgerung ziehen: wie wichtig es ist, keine „Waise“ auf dieser Welt zu sein. Unsere Beziehung zur Sozialistischen Internationale ist somit nicht grundsätzlich ideologischer, sondern eher pragmatischer Natur und zwar im Sinne einer Kooperation lateinamerikanischer Linksparteien mit den linken Parteien der Ersten Welt.
(Das Interview führten Heidrun Zinecker und Peter Gärtner am 14. September 1993 in San Salvador)