Die Feststellung, daß die 80er Jahre für Lateinamerika ein „verlorenes Jahrzehnt“ waren, gehört inzwischen zu den Gemeinplätzen aller ökonomischen und politischen Analysen zu diesem Subkontinent. Weitaus interessanter ist deshalb die Frage, ob sich seit dem Ende dieser Krisendekade eine grundlegende Trendwende ausmachen läßt. Die Antwort ist bisher sehr unterschiedlich ausgefallen und hängt in starkem Maße davon ab, welcher Entwicklungsbegriff der jeweiligen Betrachtung zugrunde liegt. Eine „ökonomistische“ Reduktion von Entwicklung auf die Optimierung einiger makroökonomischer Kennziffern und die Steigerung des Wirtschaftswachstums führt natürlich zu einer anderen Bewertung der Situation, als wenn von einer auf den Menschen zentrierten Entwicklung ausgegangen wird, bei der wirtschaftliche Leistungskraft und Effizienz, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, Demokratie und die Respektierung von Menschenrechten organisch miteinander verbunden sind und sich wechselseitig bedingen. Nur die letztgenannte Auffassung von Entwicklung führt dazu, die soziale Dimension dieses Prozesses nicht als ein der Wirtschaft bei -oder nachgeordnetes Element oder schlicht als soziale Kosten zu sehen, sondern den systemischen Zusammenhang beider zu begreifen. Mit anderen Worten: Entwicklung, die diese Bezeichnung verdient, ist nicht denkbar, wenn es der Wirtschaft gut und den Menschen schlecht geht.
Legt man diese Auffassung der Analyse der Situation in Lateinamerika seit Ende der 80er Jahre zugrunde, kann von einer Trendwende nicht die Rede sein. Im Gegenteil, Lateinamerika ist ein markantes Beispiel dafür, daß sich wirtschaftliches Wachstum, Erhöhung der Exportkapazitäten und verstärkter Zufluß ausländischen Kapitals nicht automatisch per „Durchsickereffekt“ in eine Verbesserung der Lebensqualität umsetzen, wenn nicht strukturelle Defizite beseitigt und entsprechende politische und soziale Rahmenbedingungen geschaffen werden. Das „Abarbeiten“ der von IWF und Weltbank inspirierten Strukturanpassungsprogramme und eine konsequent neoliberale Wirtschaftspolitik mit den Eckpunkten Zurücknahme des Staates, Liberalisierung, Privatisierung und Exportwachstum hat zwar den lateinamerikanischen Eliten von bestimmter Seite Beifall eingebracht und vielerorts zu einer größeren Investitionsneigung ausländischer Kapitalgeber sowie zu einer Verbesserung zahlreicher makroökonomischer Parameter geführt, nicht aber Entwicklung im oben dargestellten Sinne freigesetzt.
Die neoliberale Wirtschaftspolitik, die auf Modernisierung der kapitalistischen Strukturen der Länder Lateinamerikas abzielt, bewirkte unter den gegebenen ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen auf nationaler und internationaler Ebene eine starke Zunahme sozialer Probleme, die sich vor allem in Arbeitslosigkeit, beständig hohen oder wachsenden Armutsraten, zunehmender Einkommensungleichheit und der deutlichen Erosion sozialer Leistungen im weitesten Sinne manifestieren. Diese Phänomene sind nicht schlechthin soziale Kosten oder der soziale Preis des eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Pfades, sondern Ausdruck einer verstärkten Inkompatibilität zwischen ökonomischer und sozialer Sphäre der Gesellschaft, die letztendlich auch den ökonomischen Gesundungsprozeß und die politische Stabilität gefährdet.
Eines der gravierendsten sozialen Probleme der lateinamerikanischen Region ist nach wie vor die Massenarmut, die sich in den 80er Jahren rasch verstärkt hat und auch gegenwärtig keine abnehmende Tendenz zeigt. Die in den einschlägigen statistischen Übersichten (CEPAL [1], UNDP [2], Weltbank etc.) enthaltenen Daten zur Armut geben zwar unterschiedliche Größenordnungen an, verdeutlichen aber alle, daß die Zahl der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Menschen zwischen 200 und 270 Mio. liegt. Das entspricht etwa einem Anteil von 46 bis 62 Prozent der Gesamtbevölkerung. Im Gegensatz zu den 60er und 70er Jahren ist Armut heute vor allem ein städtisches Problem. In den ausgedehnten Elendsvierteln der urbanen Zentren ist die dort siedelnde Bevölkerung kaum oder gar nicht in der Lage, Nahrungsmittel, Gebrauchsgegenstände und die mit der städtischen Lebenswelt notwendigerweise verbundenen Dienstleistungen selbst zu produzieren bzw. zu erbringen. Diese treten den dort lebenden Menschen in Warenform entgegen, sind also in der Regel nur über Geld zu erhalten. Gerade hier liegt das Problem in Gesellschaften, die in zunehmendem Maße nicht in der Lage sind, vorhandene Arbeitskräftepotentiale in Erwerbsarbeit zu integrieren und die gleichzeitig immer mehr Menschen durch technologische und betriebswirtschaftliche Innovationen aus dem modernen Bereich der Wirtschaft ausgliedern. Die nicht vorhandene Möglichkeit, die eigene soziale Wohlfahrt und Sicherheit über angemessen bezahlte Erwerbsarbeit zu erlangen, die auch in nur sehr geringem Maße oder gar nicht durch soziale Unterstützungsmaßnahmen seitens des Staates oder der Unternehmen kompensiert wird, ist die Grundlage für diese Verarmungsprozesse.
Etwas anders zeigt sich die Situation in den ländlichen Gebieten Lateinamerikas. Obwohl auch hier sehr viele Menschen die äußeren Attribute von Armut aufweisen, materiell sehr dürftig ausgestattet sind und in der Regel über ein geringeres monetäres Einkommen verfugen als Angehörige der städtischen Unterschichten, können im ländlichen Raum rückläufige oder ausfallende Geldeinkünfte in begrenztem Umfang noch eher kompensiert werden. Die Beibehaltung oder Reaktivierung von Tierhaltung und Nahrungsmittelanbau für den Eigenbedarf, der in der Regel leichtere Zugang zu Brennmaterial und Wasser, die Tradierung von Kenntnissen der Volksmedizin, die Nichtinanspruchnahme teurer, in der Stadt aber unvermeidlicher Dienstleistungen und nicht zuletzt verwandtschaftlich untermauerte soziale Beziehungen mit Hilfs- und Unterstützungsfunktionen gestatten die Befriedigung einiger menschlicher Grundbedürfnisse in den ländlichen Regionen eher als in den urbanen Zentren.
Frauen sind in Lateinamerika von der Armut weitaus stärker betroffen als Männer. Einmal haben sie keine eigenen oder geringere monetäre Einkünfte, da sie nicht bzw. nur marginal in den Arbeitsmarkt integriert sind, und zum anderen erhalten sie für gleiche Tätigkeiten weitaus weniger Bezüge als Männer. Das bedeutet, daß ein sehr großer Teil der Frauen vor allem im sogenannten informellen Sektor [3] tätig ist, speziell in jenen Segmenten, die durch die geringste Produktivität sowie die niedrigsten Qualifikationsanforderungen und Einkünfte gekennzeichnet sind. Auch dort, wo Frauen stärker in den formellen Sektor [4] integriert sind, wie zum Beispiel in der exportorientierten Landwirtschaft, haben sie zum größten Teil Arbeitsplätze mit den geringsten Qualifikationsanforderungen und Löhnen inne.
Die Unterschiede in den Einkünften zwischen Männern und Frauen mit vergleichbaren Tätigkeiten und Qualifikationen sind immer noch beträchtlich und weitaus größer als in den Industrieländern des Nordens. So ergab eine neue Untersuchung im urbanen Bereich von 13 lateinamerikanischen Ländern, daß die Durchschnittslöhne der Frauen lediglich 44 bis 77 Prozent der Durchschnittslöhne der Männer betragen.
Die besondere Betroffenheit von Frauen ergibt sich auch noch aus der Tatsache, daß die Zahl der Haushalte, denen Frauen vorstehen, außerordentlich stark zugenommen hat. Während in den 70er Jahren in Lateinamerika noch 15 Prozent aller Haushaltsvorstände weiblich waren, geht man gegenwärtig davon aus, daß eine solche Konstellation auf etwa 25 bis 30 Prozent aller Haushalte zutrifft. Überrepräsentiert sind solche von alleinerziehenden Frauen geführte unvollständige Familien vor allem in den städtischen Unterschichten. Da entsprechende spezielle Unterstützungsleistungen für solche Familien unzureichend sind oder gänzlich fehlen, sind sie besonders verwundbar und man kann von einer zunehmenden „Feminisierung“ der Armut sprechen.
Diese Armut hat für die Frauen der städtischen und ländlichen Unterschichten noch eine weitere Konsequenz. Die zum Teil beträchtlichen Kaufkraftverluste sowie Kürzungen und Streichungen bei zahlreichen Sozialleistungen mußten vor allem durch noch mehr unbezahlte Reproduktionsarbeit von Frauen im familiären Haushalt kompensiert werden, wodurch deren physische und psychische Belastung sich weiter erhöhte.
Die Massenarmut in Lateinamerika, gekoppelt mit Perspektivlosigkeit und Identitätsverlust, ist eine der wesentlichen Grundlagen für soziale Desintegration, Kriminalität und Gewalt im Alltagsleben, die in den letzten Jahren spürbar zugenommen haben.
Diese Pauperisierungsprozesse [5] sind aber nicht das einzige Ergebnis der neoliberalen Wirtschaftspolitik der letzten Jahre. Im formellen Sektor der Wirtschaft kam es nicht nur zu zum Teil beträchtlichen Reallohneinbußen, sondern vor allem zu einer stärkeren Differenzierung der Löhne und Gehälter. Auf der anderen Seite erfolgte bei Teilen der wirtschaftlichen und politischen Eliten, die vom eingeschlagenen ökonomischen Kurs besonders profitierten, eine außerordentliche Akkumulation von Vermögen. Diese Prozesse führten in ihrer Gesamtheit dazu, daß die Gesellschaften eine immer stärkere soziale Fragmentierung aufweisen und Lateinamerika gegenwärtig die Region in der Welt mit der ungerechtesten Einkommensverteilung ist.
Eine besonders enge Wechselwirkung besteht zwischen der Massenpauperisierung großer Bevölkerungsgruppen und den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. Obwohl bereits im Zeitraum von 1950 bis 1980 eine relativ hohe Sockelarbeitslosigkeit in vielen Ländern Lateinamerikas existierte, nahm bis in die 70er Jahre die Kapazität von Industrie und Landwirtschaft zur Ab-sorbtion von Arbeitskräften eindeutig zu. Erst die 80er Jahre brachten einen entscheidenden Einschnitt. Wirtschaftskrise, Überschuldung, Strukturanpassungsprogramme und neoliberale Wirtschaftspolitik führten in ihrer Gesamtheit zu Deindustrialisierungsprozessen, Rationalisierung und einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst. Auch im modernen Bereich der Landwirtschaft, in der Exportkulturen und Viehzucht stark an Bedeutung gewannen, erfolgten Rationalisierungsschübe (Technik, Dünger, Pestizide, Transport etc.), die Arbeitsplatzabbau oder Unterauslastung vorhandener Arbeitskräftepotentiale mit sich brachten. Hinzu kommt, daß gerade in jener Zeit besonders viele Menschen in das erwerbsfähige Alter eintraten, da in den meisten Ländern Lateinamerika die Geburtenraten in den 60er Jahren einen Kulminationspunkt aufwiesen.
Offizielle Angaben zur Arbeitslosigkeit in Lateinamerika sind mit großer Vorsicht zu genießen und zeigen in der Regel nur die „Spitze des Eisberges“. Das hängt damit zusammen, daß viele der von Arbeitslosigkeit Betroffenen sich gar nicht bei den einschlägigen Behörden melden, in nicht registrierten Beschäftigungen des informellen Sektors „abtauchen“ oder sich als Land- und Wanderarbeiter ohnehin jeder Erfassung entziehen. Zweifelsohne gibt es im Hinblick auf Arbeitslosigkeit beträchtliche Unterschiede von Land zu Land und auch zeitliche Schwankungen. Insgesamt ist aber eine Tendenz zur Zunahme von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung zu verzeichnen und eine immer stärkere Abkopplung dieser Tendenz vom Wirtschaftswachstum bzw. den jeweiligen Konjunktur- und Rezessionsphasen. Vor allem in den modernen Unternehmen der Industrie hat es im Gefolge von wirtschaftlicher Liberalisierung, Privatisierung, erhöhtem Konkurrenzdruck und technologischen Innovationen beträchtliche Arbeitsplatzverluste gegeben. So sank zum Beispiel im Brasilien die Zahl der Industriearbeiter zwischen 1988 und 1993 von 6,5 auf 4,3 Mio. Dieser Verlust von Arbeitsplätzen, der keineswegs nur für die modernen Bereiche der Industrie zu konstatieren ist, sondern auch für die Exportlandwirtschaft zutrifft, ist auch in Lateinamerika in zunehmendem Maße Ausdruck einer weltweiten Tendenz, die mit der Bezeichnung „jobless growth“ (Wachstum ohne Arbeitskräfte) treffend charakterisiert wird.
Ohne Zweifel ist die wachsende Arbeitslosigkeit – vor allem auch die Zunahme von Dauerarbeitslosigkeit – eine der wesentlichen Grundlagen für Armut. Daneben spielt aber – oftmals in ihrer Bedeutung unterschätzt – hauptsächlich die Unterbeschäftigung eine große Rolle, die ebenfalls seit den 80er Jahren eine steigende Tendenz aufweist. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie hauptsächlich ein Phänomen der ländlichen Gebiete Lateinamerikas. 1950 waren noch 70 Prozent aller unterbeschäftigten Arbeitskräfte der Landwirtschaft zuzuordnen. Durch die Intensivierung der Land-Stadt-Migration seit den 60er Jahren und die immer stärkere Entwicklung des informellen Sektors in den urbanen Zentren wurde sie aber mehr und mehr zu einer städtischen Erscheinung. Obwohl am Ende der 80er Jahre nur noch 49 Prozent der Unterbeschäftigten mit der Landwirtschaft verbunden waren, zeigt sie sich hier nach wie vor am deutlichsten in Gestalt des Land- und Wanderarbeiters, der lediglich während der Arbeitsspitzen in der Land- und Viehwirtschaft (Aussaat, Ernte, Viehtrieb, Schafschur etc.) die Möglichkeit zu entlohnter Erwerbsarbeit hat.
Die hier skizzierten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, die dazu führten, daß immer mehr Menschen nicht in den formellen Wirtschaftssektor integriert werden können, gleichzeitig aber ein breiter Prozeß der Ausgliederung von Arbeitskräften erfolgt, sind die Grundlage für ein starkes Anwachsen des sogenannten informellen Sektors. In diesem werden am Ende unseres Jahrhunderts in Lateinamerika etwa 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter beschäftigt sein, wenn es nicht gelingt, ausreichend Arbeitsplätze im formellen Sektor zu schaffen. Dieser informelle Sektor -von bestimmter Seite oftmals als Keimzelle und Katalysator marktwirtschaftlicher Strukturen hochstilisiert – hat im Grunde die gleiche sozialökonomische Funktion wie der ländliche Kleinbesitz in Gestalt des Minifundiums. Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und sinkende Reallöhne im formellen Sektor und reduzierte Sozialleistungen des Staates werden durch Tätigkeiten und Einkünfte in diesem Sektor zumindest teilweise kompensiert. So ist der informelle Sektor gewissermaßen die ökonomische Grundlage für die alltäglichen Überlebensstrategien von Millionen Menschen geworden. Diese kompensatorische Funktion kann der informelle Sektor aber gegenwärtig und künftig immer weniger erfüllen, da die Konkurrenz um die mit ihm verbundenen Beschäftigungsmöglichkeiten, Ressourcen und Märkte enorm angewachsen ist. Der in vielen urbanen Zentren bereits erreichte Sättigungsgrad dieses Sektors läßt die dort erziehlten Einkünfte schrumpfen und bewirkt seinerseits eine Verstärkung der Pauperisierungsprozesse.
Hinsichtlich der Positionen auf dem Arbeitsmarkt gibt es nach wie vor beträchtliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die nicht nur in den bereits erwähnten Lohn- und Gehaltsdifferenzierungen bei vergleichbarer Tätigkeit und Qualifikation deutlich werden. Generell läßt sich feststellen, daß Frauen weniger am formellen Arbeitsmarkt partizipieren als Männer. Sie sind im informellen Sektor besonders stark vertreten, vor allem in den Bereichen persönliche Dienstleistungen, Kleinhandel und Kleingewerbe. Ungeachtet dessen hat sich gerade in den letzten Jahren eine verstärkte Integration von Frauen in Beschäftigungsverhältnisse des formellen Sektors vollzogen. Während 1950 lediglich 10 Mio. Frauen Lateinamerikas in bezahlte Lohnarbeit dieses Sektors einbezogen waren, werden es, Schätzungen zufolge, im Jahre 2000 etwa 65 Mio. sein. Man rechnet damit, daß die jährlich Zuwachsrate der Einbeziehung von Frauen in den formellen Arbeitsmarkt gegenwärtig und künftig bei 3,2 Prozent liegt, während sie bei den Männern lediglich 2,2 Prozent beträgt. Die Gründe für eine verstärkte Berufstätigkeit von Frauen sind sehr vielgestaltig und weisen außerdem schichtenspezifische Unterschiede auf. Dazu zählen ein vergleichsweise hohes schulisches Qualifikationsniveau von Mädchen und Frauen in vielen Ländern Lateinamerikas, eine zunehmende Überwindung immer noch vorhandener kultureller Barrieren im Hinblick auf die soziale „Bestimmung“ der Frau in den jüngeren Generationen, armutsbedingte Notwendigkeit des Gelderwerbs oder Zuverdienstes sowie seitens der Unternehmen die geringere Bezahlung weiblicher Arbeitskraft, die ihre zunehmende Nutzung ökonomisch attraktiv macht.
Dennoch wird dieser Trend zu verstärkter Berufstätigkeit die Disproportionen hinsichtlich der Partizipation von Männern und Frauen am formellen Arbeitsmarkt auch künftig prinzipiell nicht überwinden helfen. Das gilt in erster Linie für weibliche Arbeitskräftepotentiale aus den Unterschichten. Diese sind vor allem deshalb im informellen Sektor überrepräsentiert, weil die dort zu ihrer Domäne gehörenden Tätigkeiten sich am besten mit der Reproduktionsarbeit im familiären Bereich vereinen lassen, die fast ausschließlich durch Frauen getragen wird und sich angesichts der erwähnten Einkommensreduzierungen und Streichungen von Sozialleistungen eher erweitert als verringert hat. Eine der größten Hindernisse der Einbeziehung von Frauen – vor allem aus den Unterschichten – in Erwerbsarbeit ist der außerordentliche Mangel an Vorschuleinrichtungen, die sie während der Arbeitszeit der Sorge um die Kinderbetreuung entheben. Obwohl von zahlreichen lateinamerikanischen Ländern Anstrengungen zur Verbesserung der Situation unternommen wurden, ist es eine Tatsache, daß 1989 lediglich 14 Prozent aller Kinder im Alter bis zu 5 Jahren die Möglichkeit hatten, eine Vorschuleinrichtung zu besuchen. Wenn man davon ausgeht, daß diese Quote 1980 erst 7,8 Prozent betrug, ist zwar ein geringer Aufwärtstrend zu konstatieren, nicht aber ein Ergebnis, das die Einbeziehung von Frauen in Erwerbsarbeit prinzipiell auf eine neue Grundlage stellt. Hinzu kommt noch, daß bei den Bemühungen um die Schaffung solcher Einrichtungen nicht der Staat, sondern der private Sektor die größte Rolle gespielt hat. Das hat zur Folge, daß die in den Vorschuleinrichtungen entstandenen Plätze in erster Linie von städtischen Schichten genutzt werden, die diese Dienstleistungen auch bezahlen können.
Ein weiteres Merkmal der sozialen Krise Lateinamerikas, auf das im Rahmen dieses Beitrags noch eingegangen werden soll und das direkt und indirekt mit den bisher dargestellten Momenten verbunden ist, stellt die Situation im Bildungswesen, speziell in der schulischen Bildung dar. Die deutlichen Verbesserungen, die in diesem Bereich während der 60er und 70er Jahre zu verzeichnen waren, sind in erster Linie das Ergebnis verstärkter staatlicher Anstrengungen und Aufwendungen. Sie zeigten sich vor allem in einer signifikanten Reduzierung des absoluten Analphabetismus. Im Jahre 1950 lag die Analphabetenrate bei der Bevölkerung im Alter von über 15 Jahren in Lateinamerika noch bei durchschnittlich 30 Prozent. Darunter lagen lediglich Argentinien, Chile, Costa Rica, Kuba und Uruguay. In Brasilien wurden dagegen über 50 Prozent und in Ländern wie Haiti, Bolivien, Guatemala und Honduras noch höhere Raten registriert. Durch den staatlich forcierten Ausbau des Primarschulsystems konnte die Analphabetenrate bereits bis Anfang der 70er Jahre auf 20,7 Prozent (Kinder im Alter von über 10 Jahren) im lateinamerikanischen Durchschnitt gesenkt werden. Obwohl sich dieser Trend in den 80er Jahren fortsetzte, blieb die absolute Zahl der Analphabeten in der zurückliegenden Dekade fast konstant. 1980 gehörten 44,3 Mio. Menschen zur Kategorie der absoluten Analphabeten und 1990 waren es 42,5 Mio. Nicht überwunden werden konnten die zum Teil noch beträchtlichen Disparitäten zwischen den Ländern des Subkontinents (1,4 bis 52 Prozent Analphabeten) sowie die unterschiedlichen Alphabetisierungsraten zwischen städtischen und ländlichen Gebieten, vor allem, wenn letztere mehrheitlich von indigenen Bevölkerungsgruppen besiedelt sind.
Das eigentliche Problem im Hinblick auf die Krisenmomente in der Schulbildung Lateinamerikas stellt aber nicht der absolute Analphabetismus dar. Als weitaus gravierender erweist sich der sogenannte funktionale Analphabetismus, der seit den 80er Jahren eine zunehmende Ausbreitung erfuhr. Er manifestiert sich in einer äußerst rudimentären Schreib-, Lese- und Rechenfähigkeit der betroffenen Menschen, die einer Einbeziehung in Arbeitsprozesse des formellen Sektors sowie einer angemessenen sozialen und politischen Partizipation erhebliche Barrieren setzt. Dieses funktionale Analphabetentum ist nach wie vor eines der größten sozialen Probleme in Lateinamerika mit einem sehr komplexen Ursachengeflecht. Dazu gehört ohne Zweifel die Tatsache, daß das System der Schulbildung im allgemeinen und die einzelnen Lehrpläne im besonderen in vielen Ländern Lateinamerikas schlecht auf die diversen Lebensverhältnisse der Bevölkerung abgestimmt sind. Diese manifestieren sich nicht nur in äußerst krassen sozialen Unterschieden, sondern in vielen Staaten und Regionen des Subkontinents auch in ethnisch-kulturellen Disparitäten, denen die Lehrpläne in vielen Fällen nur unzureichend oder gar nicht Rechnung tragen. Ein weiterer Grund besteht in der erwähnten Massenarmut. Obwohl der Besuch einer Primarschule in allen Ländern Lateinamerikas kostenlos ist, ergeben sich für die Familien, die ihren Kindern den Schulbesuch ermöglichen, eine Reihe von indirekten finanziellen Belastungen für Schulkleidung und deren Reinigung, Schulmaterial und häufig auch für den Transport zu einer entfernt gelegenen Schule. Außerdem muß in Rechnung gestellt werden, daß Kinder, die die Schule besuchen, lernen und Hausaufgaben erledigen, weitgehend für die häusliche Reproduktionsarbeit oder für kleine Erwerbstätigkeiten ausfallen, auf die die Familie oder auch alleinerziehenden Frauen unter Umständen angewiesen sind. Ebenfalls von großer Bedeutung ist der Umstand, daß sich im Gefolge reduzierter Sozialausgaben in vielen Ländern Lateinamerikas die Qualität des Unterrichtes in den letzten Jahren deutlich verschlechtert hat. Das resultiert in erster Linie aus einer zurückgehenden materiellen Ausstattung der Schulen, aus einer Erhöhung der Klassenstärke durch verschlechterte Schüler/Lehrer-Relation und die mangelhafte Qualifikation zahlreicher Lehrer. Alle diese Faktoren zusammen bewirkten geringe Motivation vieler Schüler, Überanstrengung, Fehlzeiten, häufiges Wiederholen von Klassenstufen und vor allem eine steigende Schuldesertion. Diese zeigt sich darin, daß Kinder den Schulbesuch vorzeitig abbrechen und so vielfach nicht einmal die zweite oder dritte Klasse der Primarschule absolvieren. Schuldesertion – verursacht durch eine Reihe von ökonomischen, sozialen und soziokulturellen Faktoren – ist die häufigste Ursache für den funktionalen Analphabetismus.
Hierin zeigt sich deutlich, daß die in Lateinamerika zweifelsohne hohen Einschulungsraten für sich genommen noch keine Einschätzung der Qualität des Schulbildungssystems gestatten, sondern immer in Beziehung gesetzt werden müssen zur Anzahl der tatsächlich absolvierten Schuljahre. Der durchschnittliche Schulbesuch der Bevölkerung Lateinamerikas lag 1992 mit 5,2 Jahren zwar deutlich über dem Durchschnittsniveau der Entwicklungsländer generell, aber dennoch weit unter den absolvierten Schuljahren der Bevölkerung in den Industrieländern und auch solcher Staaten wie Südkorea, Hongkong und Taiwan. Gerade hierin zeigt sich besonders deutlich die zunehmende Inkompatibilität zwischen einer auf ökonomische Maßnahmen reduzierten „Modernisierung“ und der sozialen Sphäre der Gesellschaft, innerhalb derer nicht nur soziale Wohlfahrt und Sicherheit einen großen Stellenwert besitzen, sondern auch die organische Entwicklung des sogenannten Humankapitals.
Im Hinblick auf die Bildungssituation gibt es zwar noch Unterschiede zwischen Frauen und Mädchen auf der einen und Männern und Jungen auf der anderen Seite, doch sind sie in den zurückliegenden Jahrzehnten geringer geworden und keineswegs so gravierend, wie wir sie aus einigen afrikanischen und asiatischen Entwicklungsländern kennen.
Alle einschlägigen Untersuchungen bestätigen, daß Frauen – vor allem in den Unterschichten der städtischen Elendsviertel und der ländlichen Regionen – stärker von absolutem und funktionalem Analphabetismus betroffen sind als Männer. Das resultiert zweifelsohne aus der Überbeanspruchung von Frauen und Mädchen in häuslicher Reproduktionsarbeit und dem traditionellen Verständnis der weiblichen Rolle, bei der Bildung vermeintlich weniger wichtig ist als beim männlichen Geschlecht. Insgesamt hat aber die Partizipation von Mädchen und Frauen nicht nur an der Primarschulausbildung, sondern auch an der Sekundarstufe und der universitären Ausbildung in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen. Dieser insgesamt gewachsene Bildungsstand der Frauen und die daraus resultierenden Erwartungen bilden aber nach wie vor noch einen starken Kontrast zur tatsächlichen sozialen Stellung der Frauen, der sich nicht nur im familiären und politischen Bereich zeigt, sondern auch und vor allem im Arbeitsleben, wo sie – ungeachtet aller Schulabschlüsse oder sogar akademischer Graduierungen – in Berufen mit hohen Qualifikationsanforderungen absolut unterrepräsentiert sind.
Diese kleine Auswahl von Problemen, in denen die soziale Krise auf dem lateinamerikanischen Subkontinent besonders deutlich wird, zeigt, daß die soziale und soziokulturelle Dimension für den Gesamtprozeß von Entwicklung eine erhebliche Bedeutung hat. Die ökonomische und soziale Ausgrenzung und Degradierung von Menschen sowie die Vergeudung menschlicher Ressourcen können nicht durch ökonomische Maßnahmen kompensiert oder gar beseitigt werden. Daß sich diese Erkenntnis allmählich immer mehr durchsetzt, davon zeugen nicht zuletzt die Dokumente und Verlautbarungen zur Vorbereitung des Weltsozialgipfels, der in diesem Jahr in Kopenhagen stattfinden wird. Bleibt zu hoffen, daß diese Veranstaltung nicht nur die Symptome der sozialen Krise, die keineswegs auf Lateinamerika und die Entwicklungsländer beschränkt ist, benennt, sondern vor allem die „soziale Frage“ im Hinblick auf menschliche Entwicklung und ihre Richtung neu diskutiert.
Literaturhinweise:
1. CEPAL: Women in Latin America and the Caribbean in the 1990s. Notas sobre la economia y el desarrollo, Santiago de Chile, Nr. 562/563/1994
2. Tema Central: Pobreza y políticas sociales, in: Nueva Sociedad, Caracas, Nr. 131/1994, S. 48-156
3. Wahl, D. (Hrg.): Sozialreport Lateinamerika, Rostock 1994
________________________________________
[1] UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Comision Económica para America Latina), gegründet im Februar 1948, ursprünglich für Lateinamerika, seit Mitte der 80er Jahre auch für den karibischen Raum. Sitz in Santiago de Chile.
[2] (UN-Development Program) Entwicklungsprogramm der UNO. Gegründet 1965. Sonderorgan der UN, u.a. unter politischen Kontrolle der Vollversammlung. Durch Reform des UN-Entwicklungssystems seit 1990 Mittelpunkt und Koordinationsstelle aller UN-Organisationen, die der Entwicklungshilfe dienen.
[3] Äußerst verschwommener Begriff, der im allgemeinen den Bereich der Wirtschaft kennzeichnet, der nicht staatlichen Reglementierungen unterworfen ist. Die Art und Weise der wirtschaftlichen Aktivitäten sind sehr heterogen. Von vielen Autoren und Wissenschaftler wird dieser Begriff aber zunehmend im Sinne einer Überlebenswirtschaft der Ärmsten in Entwicklungsländern gebraucht.
[4] Der formelle Sektor umfaßt quasi das Gegenteil des informellen Sektors, d.h. staatliche und private wirtschaftliche Aktivitäten, die der offiziellen Gesetzgebung unterliegen.
[5] Prozeß der Verarmung großer Teile der Bevölkerung.